Um die Zukunft und die Vergangenheit – so weit sie als Science Fiction bzw. als Fantasy imaginiert werden – findet derzeit, von der größeren Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, ein Kulturkampf statt. Unbemerkt, aber nicht unwichtig, denn wo anders als in diesem Genre entsteht das kollektive Imaginäre? Ein heiß diskutiertes Symptom für diesen Kulturkampf sind die vor wenigen Tagen bekanntgegebenen Hugo-Nominierungen. Um das zu verstehen, ist allerdings etwas Hintergrund notwendig.
Lesezeichen: „Among Others“ und anderes
In den letzten Wochen habe ich ziemlich viel gelesen; auch die Weihnachtszeit etc. haben das ihre dazu beigetragen, dass ich Zeit dazu gefunden habe. Dazu gehörten unter anderem William Gibsons neuer Roman The Peripheral (teilweise recht spannend, aber irgendwie nicht ganz so großartig, wie ich das erwartet hätte), Ken MacLeods Descent (Ufos ins Schottland, oder vielleicht auch nicht), Ben Aaronvitchs Foxglove Summer (mit englischen Elfen und Einhörnern) und Ursula K. Le Guins über ihr ganzes Werk zurückschauende Kurzgeschichtensammlung The Unreal & The Real (die mir noch einmal sehr deutlich gemacht hat, warum ich LeGuin für eine herausragende Schriftstellerin halte, und ihren Stil sehr mag). Außerdem kamen mehrere tausend Seiten Peter F. Hamilton dazu, den ich bisher verpasst hatte. Andy Weirs The Martian – klassische harte Science Fiction mit einem Schuss MacGyver – musste ich an einem Stück lesen.
Der eigentliche Anlass für diesen Blogeintrag ist aber Jo Waltons Among Others, das Ende der 1970er Jahre in Wales und Südengland spielende geheime Tagebuch eines Teenagers, das bereits Anfang 2011 erschienen ist.
Morween, nach einem Unfall verkrüppelt, wird auf ein Internat geschickt. Sie ist klug und beobachtet sich selbst und ihre Umwelt ziemlich genau. Die klassische Außenseitergeschichte. Walton verwebt geschickt zwei Erzählstränge ineinander. Die Coming-of-Age-Geschichte eines Mädchens aus unübersichtlichen Familienverhältnissen, die vor ihrer Mutter weggelaufen ist, und Halt und Freundschaft findet im Science-Fiction- und Fantasy-Kanon der 1970er Jahre, und eine Geschichte über Magie, Feen und die Mutter als böse gewordende Hexe.
Kurz: Willkommen im Jahr des Hoverboards
Vermutlich wird uns das Thema in ein paar Tagen völlig zum Hals raushängen, aber natürlich ist es eine nette Sache, wenn ein halbwegs populärer Film aus der Kindheit dieser Generation im Jahr 2015 spielt. Und das eben jetzt ist. Die Rede ist selbstverständlich von Back to the future II aus dem Jahr 1989. Da liegen Vergleiche mit der heutigen Gegenwart nahe. Auch wenn die Vorstellung, dass die Hauptaufgabe von Science Fiction darin liegen könnte, Erfindungen vorherzusagen eher ein Fehlschluss ist. Klar versucht Science Fiction, eine halbwegs realistische Zukunft darzustellen – aber eben meist doch als Hintergrund, vor und mit dem Dinge passieren, und nicht als raison d’etre des Genres. Für popkulturelle Varianten von Science Fiction gilt dies erst recht.
Trotzdem halte ich es nicht für unwahrscheinlich, dass in den nächsten zwölf Monaten irgendjemand funktionsfähige Hoverboards entwickeln wird. Oder zumindest sowas ähnliches. Nicht nur, weil es einen entsprechenden Crowdfunding-Aufruf gab, sondern auch deswegen, weil es ein nice-to-have-Gimmick aus einem Film ist, der einer jetzt in die Midlife Crisis kommenden Generation gut bekannt ist. Das Konzept ist da und anschlußfähig im Diskurs verankert, es fehlt nur das reale Produkt. 2015 könnte also – fast schon als selbsterfüllende Prophezeiung – zum Jahr des Hoverboards werden. (Und anders als bei z.B. fliegenden Autos wäre es eine Erfindung mittleren Maßes, die ohne großartige neue Infrastrukturen etc. auskommt …)
Die Frage, wie Science Fiction und tatsächliche Inventions-/Innovationspraktiken zusammenwirken, und ob es mehr als ein popkulturelles Hintergrundrauschen ist, das beide Welten verbindet, finde ich ganz unabhängig davon, ob die Hoverboard-Prophezeiung nun erfüllt wird oder nicht, nach wie vor interessant. Oder, augenzwinkernd umgedreht: Wer im Jahr 2042 gerne 3D-Flug-Fußball als Trendsportart etablieren möchte, sollte jetzt einen erfolgreichen SF-Film in die Kinos bringen.
P.S.: Der Guardian hat deutlich umfangreicheres A‑Z der Vergleiche zwischen 2015a und 2015b.
P.P.S.: Und das.
Weltentraum
Zur Zeit stoße ich ständig auf den wunderschönen kleinen Film von Erik Wernquist, Wanderers.
Wanderers – a short film by Erik Wernquist from Erik Wernquist on Vimeo.
Die Planeten sind wortwörtlich die Wanderer, aber in diesem Film sind es auch wir Menschen, die zwergenklein vor den sieben Wundern des Sonnensystems stehen, die hier computertechnisch und dennoch originalgetreu nachgebildet wurden.
Lesezeichen
Mal sehen, was ich in den letzten Tagen so gelesen habe – wenn ich’s richtig sehe, fast nur post-apokalyptische Science Fiction. Ich fange mal mit den Klassikern an.
Kurt Vonneguts The Sirens of Titan (1959) hat, oberflächlich betrachtet, einiges mit Douglas Adams’ Hitchhikers Guide gemeinsam. Eine teilweise zu surrealem Humor greifende Geschichte, in unwahrscheinliche Ereignisse auf drei Planeten und einem Mond nur Teil eines größeren Plans, ja, eines Plans von gigantischem Ausmass zu sein scheinen. Und auch bei näherer Hinsicht gibt es Gemeinsamkeiten: hinter der absurden Fassade stecken Überlegungen zum Sinn des Lebens. Ab und zu ist dem Buch sein Alter anzumerken, aber darauf kommt es bei diesem Klassiker nicht an.
Gelesen – auch wenn es streckenweise mühsan war – habe ich auch Dhalgren von Samuel R. Delany (1974). Schwierig – diesem Buch ist sein Alterungsprozess doch deutlich anzumerken. Und einige Besonderheiten – etwa der zirkuläre Aufbau – werden erst beim Blick in die Wikipedia deutlich und verständlich. Vor der Kulisse einer von einer unnatürlichen Katastrophe befallenen Stadt changiert Dhalgren zwischen Psychotrip und jugendlicher Gegenkultur, Essay über das Schreiben und Gewaltverherrlichung, freier, alle damaligen Konventionen missachtender Liebe und sexuellem Missbrauch. Der Erzähler hat Gedächtnislücken, der Zeitverlauf macht Sprünge (oder ist es nur das willkürlich gewählte Datum der Zeitung, die im Buch eine Rolle spielt). Interessant zu beobachten, aber manchmal doch mehr Zeitdokument als Roman.
Kommen wir zu etwas ganz anderem – wobei auch hier die Kulisse ein postapokalyptisches Amerika ist, genauer gesagt eine nach der Klimakatastrophe unseres „Accelerated Ages“ auf den Status eines von Warlords zerrissenen Drittweltlandes gefallene USA. Paolo Bacigalupi hat mit Shipbreaker (2010) und The Drowned Cities (2012) zwei lose zusammenhängende Young-Adult-Bücher geschrieben, in denen nach Peak Oil und Klimawandel die heutigen globalen Verhältnisse auf den Kopf gestellt sind. Indiens Konzerne und Chinas Friedenstruppen sind mächtig, den Menschen, die versuchen, in den Slums und Urwäldern von Tag zu Tag ihr Auskommen zu finden, bleibt nur die ohnmächtige Flucht in neue Religionen und dreckige Tagelöhnerarbeit. Anders gesagt: Im Zerrspiegel der Science Fiction packt Bacigalupi das globale Elend der Gegenwart in einen futuristischen Kontext. Die beiden Romane bleiben dabei spannend genug, ihre jeweiligen ProtagonistInnen lebensnah genug, dass dabei gar keine Zeit für Moralpredigten bleibt.
Auch das letzte Buch, Alastair Reynolds On the Steel Breeze (2013) stellt die heutigen Verhältnisse auf den Kopf. Im 22. Jahrhundert ist es die afrikanische Unternehmerfamilie Akinya, die den Antrieb erfindet, der interplanetare Raumfahrt möglich macht – zwischen Kunst und Genmanipulation, AI, Elefanten, Verfolgungsjagden und allgegenwärtiger Überwachung ist das die Geschichte des Vorgängerbandes Blue Remembered Earth, der sehr zu empfehlen ist. Steel Breeze setzt diese Geschichte fort. Chiku Akinya ist eine Nachkommin der Unternehmensfamilie. Sie lässt sich zweimal Klonen; das Buch verfolgt die nach und nach zusammenwachsenden Abenteuer dieser drei Akinyas, die sie in Meerestiefen und zu interstellaren Generationenraumschiffen bringen. Reynolds bleibt dabei realistisch, was etwa das Raumfahrtdesign angeht (der Physiker ist ihm hier anzumerken); aber auch der Alltag – sei es im Lissabon des 23. Jahrhunderts, sei es die sich auseinanderentwickelnde Politik der Raumschiffflotte – bleibt glaubhaft und bunt. Wie schon in seinen in fernere Zukunft spielenden früheren Space Operas, die er hier gegenwartsnäher werden lässt, sind weibliche Hauptfiguren, gleichgeschlechtliche Partnerschaften und neue Geschlechtsidentitäten in Reynolds Büchern Selbstverständlichkeiten. Aber nicht nur deswegen sind diese beiden Bände sehr empfehlenswert.
Warum blogge ich das? Weil gerade die neueren Bücher vielleicht auch andere interessieren könnten.