Ein Monat nach den baden-württembergischen Landtagswahlen stecken wir mitten in der Verhandlungen mit der CDU über eine zweite grün-schwarze Koalition; diesmal nicht als Komplementärkoalition, sondern als Aufbruch für Baden-Württemberg angelegt, in dem sich die deutlich verschobenen Kräfteverhältnisse widerspiegeln. 32,6 Prozent als bestes Landtagswahlergebnis Grüner überhaupt (58 der 70 Direktmandate im Land!), und 24,1 Prozent für die CDU. Das hat nicht nur dazu geführt, dass die CDU-Spitzenkandidatin ihren Abschied von der Politik erklärt hat, sondern auch klare grüne Erfolge bereits in den Sondierungsgesprächen ermöglicht.
Kurz: Phantomregierung
Vorneweg: Ich habe mir den Koalitionsvertrag der möglichen IV. Regierung Merkel noch nicht angeschaut, und es mag auch die eine oder andere positive Botschaft auf den 170 Seiten enthalten sein. Trotzdem war es heute nicht zu ignorieren, dass die Verhandlungsgruppen aus CDU, CSU und SPD zu einem Ergebnis gekommen sind. Jetzt steht noch die Hürde SPD-Mitgliederabstimmung im Raum, aber bis Mitte März sollte die auch durch sein – ich tippe auf 55 bis 60 Prozent Zustimmung. Und dann ist, rund ein halbes Jahr nach der Bundestagswahl, eine neue Bundesregierung im Amt, der dann noch gut drei Jahre bleiben, um zu regieren. Bis dahin regieren Phantome.
Was mich etwas gewundert hat, ist das Durchsickern von Informationen. Eine erste Rohfassung des Vertrags mit letzten kritischen Stellen kursierte schon gestern, heute dann der finale Vertragsentwurf samt Liste der Ressorts und ihrer Zuschnitte. Und nach und nach fielen neben einzelnen Projekten und Textausschnitten dann auch Namen. Welche Minister*innen gehen, welche bleiben, wer vermutlich was wird. Aber irgendwie passt das zu der Lustlosigkeit, die dieses ganze Unternehmen ausstrahlt. Die möglicherweise letzte große Koalition ist keine Wunschkoalition.
Merkel bleibt Kanzlerin. Seehofer wird Innen‑, Heimat- und Bauminister, wobei „Heimat“ zwar für den meisten Trubel sorgte, ein CSU-Hardliner für „Innen“ mir aber die größeren Bauchschmerzen bereitet. Die SPD wechselt mal wieder ihren Parteivorsitz aus – Nahles scheint mir da gut für geeignet zu sein, und Schulz als Außenminister – naja. Im Bildungsbereich verdichten sich die Zeichen, dass Gröhe, bisher Gesundheit, jetzt für Bildung, Wissenschaft und Forschung zuständig sein wird. Ob das ohne Fachkompetenz in diesem doch etwas komplizierten Feld, mit divergierenden Länderinteressen und starken institutionellen Playern mit jeweils nochmals eigenen Eigenheiten gut gehen wird, werden wir sehen. Naheliegend ist diese Lösung nicht. Klöckner macht jetzt in Landwirtschaft, Weinbau und Wolfsjagd. Bär wird nicht Digitalministerin, nein, Digitales bleibt verstreut und Annex von Verkehr (also: Geld für Breitband und Straßen vorrangig nach Bayern?), sondern vielleicht für Entwicklungshilfe zuständig. Auch das passen Person und Portfolio nicht so wirklich zusammen. Auf SPD-Seite wenig überraschendes; ein Wechsel von Scholz hatte sich angedeutet, und dass er Finanzen übernehmen könnte, hat eine gewisse Logik. Insgesamt: wenig Charisma, kein Innovationsgeist, oder, etwas böser: auch hier eher eine Regierung von Geistern aus der Vergangenheit. So richtig wichtig erscheint das alles nicht. Phantomregierung, auch hier.
Kurz: Hamburg hat gewählt
Nachdem ich schon 2008 und 2011 etwas zu den Hamburger Wahlergebnissen geschrieben habe, muss ich das dieses Jahr ja eigentlich auch machen. Wobei – so viel gibt’s da nicht zu sagen. Die wahlrechtsbedingte Pause zwischen vorläufiger Auszählung am Wahlabend und vorläufigen Endergebnis am Montagabend führt dazu, dass die eine oder andere Ablenkung von JournalistInnen gerne aufgegriffen wird – anderes gibt es ja nicht zu berichten. Im Ergebnis sieht’s aber weiterhin so aus, dass Olaf Scholz seine absolute SPD-Mehrheit nicht wieder erlangen konnte, sondern mit 45,7 Prozent auf Koalitionspartner angewiesen ist. Die CDU ist auf einem historischen Tiefstand (15,9 %) , wobei die Ole-von-Beust-Phase (2004, 2008) mit einer sehr starken CDU eher eine Anomalie war. Abgesehen davon ist die Hamburger Bürgerschaft bunt: Grüne (12,3 %), Linke (8,5 %), FDP (7,4 %), AfD (6,1 %) – aber selbst das ist nicht ganz so ungewöhnlich, wie es vielleicht scheinen mag. REPs, Schill-Partei und Statt-Partei waren auch schon mal Teil der Hamburger Bürgerschaft. Piraten sind mit 1,5 Prozent endgültig im Niemandsland angekommen; auch die „Neuen Liberalen“ haben es nicht über die 0,5 Prozent hinaus geschafft.
Bei den „Alten Liberalen“ von der FDP scheint sich dagegen der knallig-bunte Relaunch ausgezeichnet zu haben – ich bezweifle, dass deren Politik ähnlich jung und fröhlich frei ausfallen wird. (Und stelle mir den wahrscheinlichen Spitzenkandidaten der FDP für Baden-Württemberg 2016, Rülke, schon mal in zitronengelb, himmelblau und pink vor – dass das so richtig gut passt, sehe ich noch nicht. Anders als in Hamburg, wo Kampagne und Spitzenkandidatin werbetechnisch gut zusammenspielten).
Interessant der Blick auf einzelne Stadtbezirke – bis hin zur sozialistischen Enklave St. Pauli. Grüne Ergebnisse reichen auf dieser Ebene von 25 Prozent in Teilen von Altona und 27 Prozent in der Sternschanze bis zum deutlich einstelligen Bereich (z.B. 4,2 % in Neuland). Auch Großstädte haben ihre ländlichen Räume. Bei der Zusammensetzung der Fraktion hat das Wahlrecht einiges durcheinandergewirbelt. Gespannt bin ich darauf, wie die grüne Fraktion mit Nebahat Güçlü umgehen wird, die aus der Partei ausgeschlossen werden sollte und dann über Personenstimmen („there is no such thing as bad news“) den Einzug in die Bürgerschaft geschafft hat. Aber selbst, wenn es am Schluss nur einer 14-köpfige Fraktion (statt der 15 Sitze, die derzeit ausgezählt sind) wird, und eine Einzelkämpferin, würde das locker für Rot-Grün reichen. Bisher sieht es so aus, als wäre das auch die Wunschkoalition der SPD – auch hier bin ich gespannt, wie die Koalitionsverhandlungen laufen werden. Insgesamt ist’s für die grünen KollegInnen doch ganz gut gelaufen – also herzlichen Glückwunsch und ein gutes Händchen für die nächsten Tage!
P.S.: Umfangreiche Wahlanalyse des Statistischen Amtes und der Konrad-Adenauer-Stiftung.