Ein Monat nach den baden-württembergischen Landtagswahlen stecken wir mitten in der Verhandlungen mit der CDU über eine zweite grün-schwarze Koalition; diesmal nicht als Komplementärkoalition, sondern als Aufbruch für Baden-Württemberg angelegt, in dem sich die deutlich verschobenen Kräfteverhältnisse widerspiegeln. 32,6 Prozent als bestes Landtagswahlergebnis Grüner überhaupt (58 der 70 Direktmandate im Land!), und 24,1 Prozent für die CDU. Das hat nicht nur dazu geführt, dass die CDU-Spitzenkandidatin ihren Abschied von der Politik erklärt hat, sondern auch klare grüne Erfolge bereits in den Sondierungsgesprächen ermöglicht.
Blick in die Glaskugel: Landtagswahl Baden-Württemberg 2021
Auch wenn vermutlich bereits mehr als die Hälfte der letztlichen Wähler:innen bereits ihre Stimme abgegeben haben – die Briefwahlquote wird coronabedingt sehr hoch sein – kennen wir das Ergebnis der Landtagswahl erst morgen Abend. Ich vermute, dass so gegen 21 Uhr halbwegs klar sein sollte, wie die Wahl ausgegangen ist.
Die bisherigen Umfragen klingen aus grüner Sicht erfreulich – Grüne je nach Institut zwischen 32 und 35 Prozent, die CDU zwischen 23 und 25 Prozent, SPD, FDP und leider auch die AfD jeweils um die 10 Prozent. Die LINKE bleibt nach den Umfragen unter 5 Prozent, und auch die Klimaliste, Volt und diverse andere Kleinparteien schaffen den Einzug in den Landtag nicht.
Unter der Annahme, dass sich das morgen in etwa so bestätigt, lassen sich schon einige Aussagen über den Wahlausgang treffen:
- Der Landtag wird vermutlich so groß werden wie nie zu vor, wenn sich das grüne Ergebnis in einer entsprechend großen Zahl an Direktmandaten niederschlagen sollte. Die Sollgröße sind 120 Abgeordnete (70 direkt, 50 in der Zweitauszählung). 1996 erreicht der Landtag die Größe von 155 Sitzen, zum einen aufgrund der REPs, die damals im Landtag vertreten waren, zum anderen aufgrund von Ausgleichsmandaten für den Direktmandatüberhang. Es ist gut möglich, dass diese Größe morgen gerissen wird und wir über einen Landtag mit 160 Sitzen oder mehr sprechen, verursacht durch den Ausgleich der grünen Direktmandate bei einem relativen Anteil von nur etwa einem Drittel der Stimmen.
- Klarer Wahlsieger sind nach den Umfragen Bündnis 90/Die Grünen und Ministerpräsident Kretschmann. SPD und CDU werden mit hoher Wahrscheinlichkeit ihr schlechtestes jemals in Baden-Württemberg erreichtes Landtagswahlergebnis erhalten; die FDP wird wahrscheinlich zweistellig (zuletzt 2006). Da dürften auch unzufriedene CDU-Wähler*innen dabei sein, die die FDP, die in Baden-Württemberg eher marktradikal und ansonsten konservativ ist, als CDU light wahrnehmen. Dass die AfD trotz einer miserablen Performance, Spaltung der Fraktion und diversen Skandalen nach den Umfragen deutlich über 10 Prozent erhalten wird, ist dagegen schwerer nachvollziehen. Ich befürchte, dass hier auch Corona-Leugner:innen mit dabei sein werden (mit „Basis“ und „Wir2020“ treten auch zwei Corona-Leugner:innen-Parteien an).
- Bisher kenne ich keine Umfrage, die ein Ergebnis der Klimaliste auch annähernd an der Fünf-Prozent-Hürde sieht. Ihr Antreten hat wohl dem Klimathema nochmal einen Schub gegeben – Stimmen für die Klimaliste verhindern aber möglicherweise die progressivste der realistischen Koalitionsoptionen.
- Mehrheiten wird es sicherlich für Grün-Schwarz, für eine grün-geführte Ampel und wohl auch für die „Deutschland“-Koalition geben. Dabei ist zu beachten, dass es nicht um 50 Prozent der Stimmen geht, sondern um eine Mehrheit der Sitze. Berücksichtigt werden nur die in den Landtag einziehenden Parteien, und die eine oder andere Verzerrung durch die doppelte Verteilung (Land und Regierungsbezirke) im Wahlsystem mag auch noch etwas zu Sitzmehrheiten beitragen. Es reichen also möglicherweise schon 44 bis 45 Prozent, wenn der Anteil für „Sonstige“ entsprechend groß ist. Die SPD hat eine klare Präferenz für eine grün-geführte Regierung geäußert. Und mit der AfD wird niemand eine Koalition eingehen.
- Weniger wahrscheinlich, aber möglich, sind zwei weitere Koalitionsoptionen, die derzeit am Rand der Umfragen auftauchen: möglicherweise haben Grün-Rot oder sogar Grün-Gelb eine eigene Mehrheit. Aktuell fehlen dazu noch ein paar Prozentpunkte. Grün-Rot wäre die Fortsetzung der Koalition, die 2011 Baden-Württemberg erneuert hat, allerdings dann wohl nicht mehr mit zwei gleichstarken Partnern. Grün-Gelb wäre ein Experiment – die erste Koalition jenseits der beiden großen Parteien, die seit der Gründung der Bundesrepublik die Geschicke bestimmt haben.
Soweit das, was heute schon in der Glaskugel zu sehen ist. Spannend wird es dann morgen in dreierlei Hinsicht: Stimmen die Umfragen, oder wirkt sich beispielsweise die Korruptionsaffäre rund um Masken doch noch gegen die CDU aus, obwohl viele ihre Stimme schon vorher abgegeben haben? Reicht es für eine der kleineren Koalitionen? Und, und das wird wahlrechtsbedingt endgültig wohl erst in der Nacht feststehen: wer schafft alles des Einzug, insbesondere in der Zweitauszählung?
Zu Thüringen
Wie geht es nach dem gestrigen Dammbruch in Thüringen jetzt – jenseits der notwendigen und richtigen Empörung – weiter?
Herr Kemmerich ist formal als Ministerpräsident gewählt.
Wenn ich die Thüringer Landesverfassung richtig lese, heißt das „technisch“, dass er jetzt nach Belieben Minister*innen ernennen kann. Eine Bestätigung durch den Landtag ist nicht notwendig. Zudem kann er regieren – im Rahmen des bereits beschlossenen Doppelhaushalts, und nur, insofern keine Gesetze geändert werden; es sei denn, auch dafür findet sich eine AfD-CDU-FDP-Mehrheit. Das klingt nach wenig Spielräumen; faktisch passiert der Löwenanteil der Regierungsarbeit unterhalb der Gesetzgebung. Das reicht von Verordnungen über den Schulunterricht bis zu Bundesratsinitiativen.
Der Landtag hat zwei Hebel in der Hand. Er kann ein konstruktives Misstrauensvotum durchführen (d.h., jemand anderes tritt gegen den amtierenden MP an, das Quorum für die Wahl ist hier „mit der Mehrheit seiner Mitglieder“). Er kann auch vorgezogene Neuwahlen beschließen. Dafür ist eine Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Landtags notwendig. Im Erfolgsfall bliebe Kemmerich bis zur Wahl eines neuen MPs nach neuen Landtagswahlen im Amt.
Zudem kann auf Antrag eines Viertels der Mitglieder ein Untersuchungsausschuss eingesetzt werden.
Im Thüringer Landtag haben FDP und Grüne je fünf Mandate, die SPD acht, die CDU 21, die AfD 22 und die Linke 29. Die „Mehrheit der Mitglieder“ liegt damit bei 46 Mandaten, die Zweidrittelmehrheit bei 60 Mandaten.
Grüne, SPD, CDU und Linke hätten gemeinsam die Zweidrittelmehrheit, um vorgezogene Neuwahlen zu beschließen. (Theoretisch hätte eine gemeinsame Kandidatin von CDU und Linke die notwendige Mehrheit, um in einem konstruktiven Misstrauensvotum zur Ministerpräsidentin gewählt zu werden – praktisch sehe ich derzeit nicht, dass dieser Weg beschritten werden könnte …).
Herr Kemmerich hat angekündigt, nicht mit der AfD zusammenzuarbeiten. Das wirkt nach seiner Wahl heuchlerisch, aber nehmen wir an, es bleibt dabei, dass die AfD keine Minister*innen stellt, und dass es kein mit der AfD angesprochenes Regierungsprogramm geben wird.
Mit der Linken will Herr Kemmerich nicht zusammenarbeiten.
SPD und Grüne haben bereits klar festgelegt, dass es keine Zusammenarbeit in Form von Ministerposten o.ä. geben wird.
Bleibt die CDU. Hier klingt die Thüringer CDU anders als die im Bund. Es wäre also denkbar, dass diese Minister*innen in einer Regierung Kemmerich stellt. Die hätte damit zwar immer noch keine parl. Mehrheit, wäre aber kurzfristig handlungsfähig.
Alternativ wäre eine Regierung rein aus FDP-Mitgliedern und parteilosen Wagemutigen denkbar.
Damit ergeben sich folgende Szenarien, wie es in Thüringen weitergehen kann:
- Variante 1: der bundesweite Druck auf FDP und CDU wird so stark, dass Herr Kemmerich sich zum Rücktritt genötigt sieht. Danach kommt es vermutlich zu Neuwahlen, ganz eventuell zur Wahl einer Caretaker-Regierung nach österreichischem Vorbild bis zu Neuwahlen. Der Wahlausgang ist unvorhersehbar, möglicherweise sieht es danach nicht besser aus als heute (z.B. könnten AfD, CDU und Linke jeweils gleich stark werden, die SPD knapp reinkommen und Grüne und FDP rausfliegen – dann gäbe es weiterhin keine stabile Mehrheit).
- Variante 2a: Herr Kemmerich tritt nicht zurück. Er bildet eine Regierung mit der CDU Thüringen. Es gibt keine parlamentarische Mehrheit für Neuwahlen. In Einzelfällen stützt sich diese Regierung auf die AfD. Besonders stabil ist das Konstrukt nicht – besser schlecht regieren als gar nicht. Die bundespolitischen Auswirkungen sind immens, ggf. kommt es zu Spaltungen in der CDU, Austritten der letzten Liberalen aus der FDP und Verwerfungen in der Groko. Nach einiger Zeit und dem einen oder anderen „Erfolg“ normalisiert sich dieses Modell, andere Länder im Osten (insb. Sachsen-Anhalt, Wahl 2021) kommen zu ähnlichen Regierungen unter Duldung der frohlockenden AfD. Die nach rechts gerückte FDP sieht sich im Aufwind.
- Variante 2b: Herr Kemmerich tritt nicht zurück. Auf Druck der Bundes-CDU beteiligt sich die CDU Thüringen nicht an der Regierung. Die Regierung aus FDP und Parteilosen gerät im Landtag unter Druck. Nach einigen Wochen oder Monaten kommt es zum Neuwahlantrag im Landtag, der eine Mehrheit findet, möglicherweise auch von der AfD unterstützt wird. Bis zur Wahl eines neuen Landtags und einer neuen Regierung bleibt das Kabinett Kemmerich geschäftsführend im Amt – chaotische Verhältnisse über Monate. Auch nach der Neuwahl bleibt die Situation schwierig.
Keines dieser Szenarien ist erfreulich – kurzfristig nicht, in der mittelfristigen Perspektive erst recht nicht, solange es bei Neuwahlen keine klare Mehrheit gibt. Am schlimmsten erscheint mir die Variante 2a – dann würde der 5.2.2020 tatsächlich als Beginn eines Zeitenbruchs in die Geschichtsbücher eingehen.
Nachtrag (16:15 Uhr) – 180°-Wende der FDP, bundesweit einheitliche Sprachregelung, plötzlich war’s ein Fehler. Herr Kemmerich kündigt an, dass er deswegen jetzt die Auflösung des Landtags und Neuwahlen anstrebt. Unklar, ob dss ein Rücktritt ist oder nicht.
Und aus dem „vermutlich“ in Variante 1 bezogen auf Neuwahlen wird eine neue Situation – ich sehe bisher jedenfalls nicht, wo die Zweidrittelmehrheit für eine Neuwahl herkommen soll. Die FDP alleine reicht nicht, Linke und auch Grüne klingen so, als sollte es einen Rücktritt und dann einen zweiten Versuch geben, Herrn Ramelow zu wählen, die AfD würde „eher nicht“ zustimmen, und die CDU ist unklar (Bund: Neuwahlen, bis auf Einzelstimmen wie Kristina Schröder, im Land: trotziges Festhalten) – mein Eindruck ist, dass es da immer noch den Plan gibt, einen CDU-Kandidaten wählen zu lassen. Klare Verhältnisse sehen anders aus.
Nachtrag (7.2.2020, 9:55 Uhr) – inzwischen hat die Thüringer CDU auch von AKK grünes Licht bekommen, sich gegen Neuwahlen auszusprechen. Samt bundespolitischem Kollateralschaden. Linke, SPD und Grüne haben gemeinsam Herrn Kemmerich aufgefordert, bis Sonntag tatsächlich zurückzutreten bzw. die Vertrauensfrage zu stellen und so den Raum zu eröffnen für eine neue MP-Wahl, in der dann Ramelow gewählt werden könnte.
Nachtrag (11:30 Uhr) – Wenn ich das richtig zusammenfasse, wäre der strategisch beste Schritt für die CDU (!) in Thüringen jetzt, Bodo Ramelow in einem konstruktiven Misstrauensvotum mitzuwählen. Interessant, wo die sich hinmanövriert haben. (Jens Spahn empfiehlt dagegen weiter eine „Regierung der Mitte“ unter einem/einer parteilosen MP).
Oh, wie schön war Jamaika
Ich war dann doch vernünftig genug, gestern Abend vor Mitternacht ins Bett zu gehen. Da sah es noch so aus, als würde es eine Einigung in den Jamaika-Sondierungsverhandlungen geben können. Irritierende Tweets von Nicola Beer, dass wieder alles offen sei, mal beiseite. Jedenfalls wurde klar, wo die grünen Schmerzgrenzen liegen. Ein CSU-Hinterbänkler verkündete Einigungen bei sicheren Herkunftsländern, in meiner Timeline folgte fast schon ritualisierte Empörung, bis dessen 15 Minuten vorbei waren, und das Ganze sich als Gerücht entpuppte.
Dass die Verhandlungen sich so lange hinzogen, hätte irritieren können. Am frühen Abend lag für mein Gefühl, was ich so las und wahrnahm, der Abbruch schon in der Luft. Ich schrieb, dass hier ein Paar verhandelt, dessen Beziehung gescheitert ist, dass sich das Ende aber nicht eingestehen möchte. Als sich die Gespräche dann doch weiter in den Abend hinzogen, war meine Interpretation ein „jetzt haben sie’s“, der Punkt des Scheiterns schien überwunden, der letzte Kompromiss gefunden, der Knoten durchgehauen.
Wie weit unser grünes Sondierungsteam dabei tatsächlich gegangen ist, und wie weit die Partei dem gefolgt wäre, werden wir nun allerdings nicht erfahren. Denn zur Abstimmung über die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen wird es nicht kommen.
Kurz: Klimaschutzkoalition
Ironie der Geschichte: parallel zu den Jamaika-Koalitionsverhandlungen, äh, Sondierungen findet in Bonn der Klimagipfel statt und macht drei Dinge überdeutlich:
1. Das Zeitfenster, politisch zu handeln und noch etwas dagegen zu unternehmen, dass der Klimawandel katastrophale Folgen zeitigt, ist jetzt – und es schließt sich zunehmend. Auch wie gehandelt werden müsste, ist doch recht klar.
2. Es gibt eine große Koalition der Willigen – Staaten und Staatenbündnisse, Kommunen und Regionen, Wirtschaftsakteure, die viel beschworene Zivilgesellschaft, aber auch z.B. die Mehrheit der Bürger*innen in Deutschland.
3. Die abgewählte Regierung mit Kohleminister Gabriel hat nur wenig bis nichts erreicht – und es sieht nicht so aus, als ob die Bundeskanzlerin hier vorangehen möchte.
Für mich unterstreicht das, dass es eine ordentliche Klimapolitik auf Bundesebene – mit entsprechender internationaler Strahlkraft – nur mit starken Grünen an entscheidenden Stellen geben kann. Leider sieht es bisher nicht danach aus, als ob Jamaika eine Koalition der innovativen Klimaschutz-Maßnahmen werden würde. Wenn das so bleibt, sehe ich wenig Sinn darin, dieses lagerübergreifende Bündnis zu formen.
Morgen Nacht soll das Sondierungsergebnis vorliegen, am 25. November entscheidet die grüne BDK, ob Koalitionsverhandlungen aufgenommen werden sollen. Nach derzeitigem Stand fände ich das schwierig – und würde mich als Ersatzdelegierter auch entsprechend einbringen. Für unsere Zukunft auf diesem Planeten wäre es zu hoffen, dass es bis dahin noch überraschend Bewegung in Sachen Jamaika als Klimaschutzbündnis gibt.