Jamaika im Saarland – jenseits der Erregung

I. Plötzliche Erregung

Ich bin ein klein wenig erstaunt über die hef­ti­gen Debat­ten, die jetzt im grü­nen Feld sozia­ler Netz­wer­ke über die Ent­schei­dung der Saar­grü­nen dafür toben, Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen mit CDU und FDP auf­zu­neh­men. Viel davon läuft auf Twit­ter und Face­book, es gibt aber auch schon ers­te Blog­ein­trä­ge – Julia See­li­ger will das Saar­land ver­kau­fen, Jörg Rupp ver­schlägt es den Appetit. 

Erstaunt bin ich über die hef­ti­gen Debat­ten – und die har­te Kri­tik an der Ent­schei­dung von 78 % der saar­län­di­schen Dele­gier­ten – des­we­gen, weil sich in den letz­ten Wochen ja abge­zeich­net hat, dass rot-rot-grün und Jamai­ka im Saar­land min­des­tens gleich wahr­schein­lich sind. Inso­fern fin­de ich die Ent­schei­dung zwar falsch, ihre Deut­lich­keit hat mich auch über­rascht – fas­sungs­los bin ich dar­über aber nicht.

Bei der Bewer­tung die­ses zwei­ten Expe­ri­ments (nach Ham­burg) sind, mei­ne ich, min­des­tens zwei Ebe­nen zu unter­schei­den. Das eine ist der genaue Blick auf die loka­len Beweg­grün­de und Umstän­de, die Jamai­ka im „etwas grö­ße­ren Kreis­ver­band an der fran­zö­si­schen Gren­ze“ (Vol­ker Beck) mög­lich machen. Das ande­re ist die Ein­ord­nung die­ser Ent­schei­dung in einen grö­ße­ren Kon­text. Denn auch wenn Cem und Clau­dia die bun­des­po­li­ti­sche Rele­vanz der Ent­schei­dung ver­nei­nen, ist – auch abge­se­hen von kla­ren Kon­se­quen­ten etwa bezüg­lich der Bun­des­rats­mehr­hei­ten – doch davon aus­zu­ge­hen, dass Jamai­ka im Saar­land bun­des­weit nicht fol­gen­los bleibt.

II. Saarland

Zur ers­ten Ebe­ne gehö­ren per­sön­li­che Ani­mo­si­tä­ten zwi­schen Grü­nen und LINKE im Saar­land, dazu gehört das Ver­hal­ten von Oskar Lafon­taine, dazu gehö­ren auch die unsou­ve­rä­nen Reak­tio­nen von SPD und Links­par­tei. Dazu gehört der Koh­le­berg­bau und ein „eher“ mode­ra­ter CDU-Minis­ter­prä­si­dent, und dazu gehö­ren – so ist es jeden­falls zu hören – rela­tiv weit­rei­chen­de Zuge­ständ­nis­se in der Umwelt- und Bil­dungs­po­li­tik. Um zu erklä­ren, wie es im Saar­land zu Jamai­ka, zur grü­nen Ent­schei­dung für eine Koali­ti­on mit CDU und FDP, kom­men konn­te, ist es aber wohl auch nötig, auf die rela­tiv auto­kra­ti­sche Auf­stel­lung unse­res saar­län­di­schen Lan­des­ver­bands zu schauen. 

Für das Saar­land kann eine Jamai­ka-Koali­ti­on zwei­er­lei bedeu­ten. Ent­we­der sie wird erfolg­reich, trägt auch in der poli­ti­schen prak­ti­schen Tat eine grü­ne Hand­schrift – dazu muss der Schwanz hier mit dem Hund wackeln, aber viel­leicht gelingt das ja – und sie führt die saar­län­di­schen Grü­nen aus dem zit­tern­den Leben an der 5‑Pro­zent-Hür­de ins Feld der eta­blier­ten Par­tei­en. Es besteht jeden­falls eine gehö­ri­ge Bring­schuld der neu­en Frak­ti­on und der poten­zi­el­len Regie­rungs­be­tei­lig­ten gegen­über den grü­nen Wäh­le­rIn­nen. Ein wich­ti­ger Aspekt sind hier die Per­so­nal­fra­gen, vor allem die Beset­zung der – dem Hören­sa­gen nach – zwei Minis­te­ri­en, die den Grü­nen wohl zuge­stan­den wer­den. Wenn da fähi­ge Leu­te außer­halb des saar­län­di­schen Fil­zes ran­kom­men, kann sich wirk­lich was bewe­gen. Ob es dazu kommt – da bin ich mit Blick auf die kom­mu­nal­po­li­ti­schen Vor­bil­der einer der­ar­ti­gen Koali­ti­on – zwie­ge­spal­ten. Ich glau­be aber, dass den saar­län­di­schen Grü­nen zumin­dest die Chan­ce ein­ge­räumt wer­den muss, auf tat­säch­li­che poli­ti­sche Erfol­ge hin­zu­ar­bei­ten. Mit dem Droh­po­ten­zi­al, immer auch zu Rot-rot-grün schwen­ken zu kön­nen, haben sie zumin­dest eini­ges in der Hand.

Die zwei­te Vari­an­te wäre das inhalt­li­che Schei­tern, eine Regie­rungs­be­tei­li­gung, die blass bleibt, das Feh­len grü­ner Akzen­te im schwarz-gel­ben Strom, oder, schlim­mer noch, das Schlu­cken unver­zeih­ba­rer Krö­ten in Kern­be­rei­chen der grü­nen Pro­gram­ma­tik. Bei der nächs­ten Land­tags­wahl wür­de eine der­ar­ti­ge Per­for­manz – begin­nend mit dem Koali­ti­ons­ver­trag als ers­tem Nadel­öhr – mit ziem­li­cher Sicher­heit die Grü­nen an der Saar unter fünf Pro­zent drü­cken und viel­leicht den Weg für eine rot-rote Koali­ti­on frei machen. Das hal­te ich nicht für wün­schens­wert, aber lei­der auch nicht für unmög­lich. Ich hof­fe, dass den saar­län­di­schen Grü­nen die­ser Erfolgs­druck bewusst ist. 

Ein Neben­ef­fekt eines der­ar­ti­gen Schei­terns könn­te sein, dass es zu grö­ße­ren per­so­nel­len und inhalt­li­chen Ver­än­de­run­gen im saar­län­di­schen Lan­des­ver­band kom­men könn­te. Das wäre, nach allem, was dar­über zu hören ist, nicht unbe­dingt nega­tiv – aber wür­de mit einem hohen Preis bezahlt.

III. Größerer Kontext

Eine eini­ger­ma­ßen sta­bi­le Jamai­ka-Koali­ti­on im Saar­land ist defi­ni­tiv ein Signal dafür, dass wir Grü­nen es ernst mei­nen damit, nicht auf immer und ewig Teil eines lin­ken Drei­er­la­gers sein zu wol­len, son­dern uns als eigen­stän­di­ge – lin­ke – Kraft ver­ste­hen, die, wenn inhalt­li­che Erfol­ge erzielt wer­den kön­nen, auch ein­mal mit der CDU oder der FDP Koali­tio­nen ein­ge­hen kann. Dass ist des­we­gen gar nicht so schlecht, weil die SPD uns lei­der immer noch nicht ernst nimmt. Die Son­die­rungs­ge­sprä­che in Thü­rin­gen und das unrühm­li­che Ver­hal­ten der dor­ti­gen SPD sind das bes­te Bei­spiel dafür. 

Ham­burg konn­te von der SPD noch als „Unfall“ abge­tan wer­den. Wenn es eine zwei­te grün-„bürgerliche“ Koali­ti­on auf Lan­des­ebe­ne gibt, ist zumin­dest das klar: mit der Eigen­stän­dig­keit mei­nen wir es schon ernst – wir sind nicht der gebo­re­ne Juni­or­part­ner der Sozi­al­de­mo­kra­tie. Ent­spre­chend muss mit Grü­nen auf Augen­hö­he ver­han­delt wer­den, wenn es um Regie­rungs­be­tei­li­gun­gen geht. Eben­so kann nicht auto­ma­tisch erwar­tet wer­den, dass Grü­ne ohne Rezi­pro­zi­tät z.B. Erst­stim­men­kam­pa­gnen für die SPD fahren.

Inso­fern ist Jamai­ka – trotz der oben erwähn­ten beson­de­ren loka­len Umstän­de – eben auch für die Grü­nen ins­ge­samt eine Weg­mar­ke (die von der grü­nen Anhän­ger­schaft durch­aus nicht nur nega­tiv auf­ge­nom­men wird).

Rich­tig ist aller­dings auch, dass die Ent­schei­dung im Saar­land – anders als eini­ge in der SPD das ger­ne sehen – eben kei­ne Vor­ent­schei­dung über wei­te­re Koali­tio­nen ist. Es geht nicht um ein neu­es bür­ger­li­ches Lager oder ähn­li­chen Quatsch, son­dern dar­um, in den Län­dern und auf Bun­des­ebe­ne von Fall zu Fall neu zu ent­schei­den – und vor der Wahl trans­pa­rent zu machen, wel­che Optio­nen mög­lich sind. Gera­de die ein­gangs erwähn­ten hef­ti­gen inner­par­tei­li­chen Debat­ten zei­gen, dass die star­ke Zustim­mung der saar­län­di­schen Grü­nen nicht auf die Par­tei ins­ge­samt ver­all­ge­mei­nert wer­den kann. 

Span­nend in die­ser Hin­sicht wird Nord­rhein-West­fa­len. Hier regiert schwarz-gelb mit einer defi­ni­tiv schlech­ten Per­for­manz, Minis­ter­prä­si­dent Rütt­gers fällt mit aus­län­der­feind­li­chen Sprü­chen auf. Wie die Grü­nen hier in den Land­tags­wahl­kampf gehen wer­den (gewählt wird nächs­tes Jahr, die Vor­be­rei­tun­gen der Lis­ten­auf­stel­lun­gen lau­fen der­zeit), ist um eini­ges rele­van­ter als Jamai­ka an der Saar. 

Aber auch in Baden-Würt­tem­berg (Wahl 2011) mit einer der­zeit unter­halb der 20%-Marke lau­fen­den SPD ist die­se Debat­te – und der genaue Blick dar­auf, was in Ham­burg und im Saar­land jen­seits schön­fär­be­ri­scher Spins tat­säch­lich mög­lich ist – sehr wich­tig. Gera­de, weil eini­ge der wich­tigs­ten Pro­pa­gan­dis­ten für Schwarz-grün aus Baden-Würt­tem­berg kom­men, müs­sen hier die inhalt­li­chen Hür­den für eine ent­spre­chen­de Koali­ti­on mei­ner Mei­nung nach beson­ders hoch sein, und muss beson­ders ernst­haft über­legt wer­den, wel­che ande­ren – mög­li­cher­wei­se auch unkon­ven­tio­nel­len – Gestal­tungs­per­spek­ti­ven vor­han­den sind. Das ist ein Gebot poli­ti­scher Glaubwürdigkeit.

War­um blog­ge ich das? Ist ja doch nicht ganz unwich­tig – gera­de, weil die ers­te Reak­ti­on vie­ler undif­fe­ren­zier­te Kri­tik war.

Kontrovers: Auf dem Weg zur Volkspartei der vorderen Mitte? (Update)

Nicht nur die SPD, nein, auch wir Grü­ne dis­ku­tie­ren über unse­ren zukünf­ti­gen Kurs (vgl. u.a. SpOn). Ich habe dazu vor unge­fähr einer Stun­de mal einen klei­nen Twt­Poll gestar­tet: „Wohin soll’s mit den Grü­nen gehen?“. Der stößt auf eini­ge Reso­nanz. Unter den Ant­wort­vor­ga­ben am belieb­tes­ten ist bis dato (N=61) die „Volks­par­tei der vor­de­ren Mit­te“ (34% Zustim­mung, wie es sich für eine Volks­par­tei gehört). Nach links wol­len 23%, so blei­ben, wie sie sind eben­falls 23%, und 18% wol­len mehr oder weni­ger stär­ker ins bür­ger­li­che Lager.

Mehr­fach ange­merkt wur­de dabei die Unklar­heit dar­über, was eine Volks­par­tei der vor­de­ren Mit­te eigent­lich aus­zeich­net. Und wo die vor­de­re Mit­te über­haupt liegt. Die­se Fra­gen kann ich auch nicht beant­wor­ten, son­dern will sie lie­ber hier stel­len: was ver­steht ihr unter der so anzie­hen­den Volks­par­tei der vor­de­ren Mit­te? Wodurch zeich­net sie sich aus?

Update: Na, so rich­tig dis­ku­tie­ren will das hier wohl keineR? 

Wohin soll's mit den Grünen gehen? (N=97)

Span­nend fin­de ich, dass auch bei N=97 wei­ter­hin ein gutes Drit­tel die „Volks­par­tei der vor­de­ren Mit­te“ will (Abb.). Weil’s gut klingt, weil was sinn­vol­les dahin­ter ver­mu­tet wird – oder als Notlösung?

Nach der Wahl

Green is colourful

Die Umfra­gen in den Tagen vor­her hat­ten es schon ange­deu­tet; auch der ernst­haf­te Aus­schluss einer Ampel durch die FDP – der die­ser sicher noch eine gan­ze Rei­he zusätz­li­che Stim­me ein­brach­te – senk­te die Erwar­tun­gen. Die gro­ße Fra­ge am Wahl­abend war die nach dem Juni­or­part­ner der Mer­kel-CDU. Eben­so war schon seit eini­gen Tagen klar, dass die som­mer­lich eupho­ri­schen 13 bis 14 Pro­zent, die uns Grü­nen auch schon mal vor­her­ge­sagt wor­den waren, nicht erreicht wer­den würden. 

Trotz der der­mas­sen redu­zier­ten Erwar­tun­gen war das Wahl­er­geb­nis ins­ge­samt ent­täu­schend: Eine kla­re Mehr­heit für Schwarz-gelb, auch ohne Über­hang­man­da­te. Eine am Boden zer­stör­te SPD. Kei­ne grü­nen Direkt­man­da­te jen­seits von Kreuz­berg. Grü­ne nur auf Platz 5, erst im Ver­gleich zu den vor­he­ri­gen Wah­len wird bewusst, dass 10,7 Pro­zent Zweit­stim­men für die Grü­nen eine Grö­ße sind, die vor weni­gen Mona­ten für eine Bun­des­tags­wahl noch als kaum vor­stell­bar galt. Inso­fern stimmt der Spruch auf gruene.de, dass es sich hier um ein his­to­ri­sches Ergeb­nis han­delt. In den Geschichts­bü­chern wird aber wohl doch eher die struk­tu­rel­len Ver­schie­bun­gen im Par­tei­en­sys­tem lan­den als das bis dato bes­te Ergeb­nis der kleins­ten Oppositionspartei.

68 Grü­ne sit­zen in der neu­en Frak­ti­on. Erst spät am Wahl­abend, gegen 3.30 Uhr, war klar, wie sich die­se 68 Man­da­te zwi­schen den Län­dern ver­tei­len wer­den. Ins­ge­samt wird die Frak­ti­on ein Stück bun­ter, lin­ker, jün­ger wer­den – zum Bei­spiel mit Sven-Chris­ti­an Kind­ler, mit Agnieszka Mal­c­zak (was mich ganz beson­ders freut), oder auch mit Bea­te Mül­ler-Gem­me­cke, die in Baden-Würt­tem­berg die Grund­ein­kom­mens­de­bat­te mass­geb­lich beein­flusst hat­te. Ich glau­be, dass es eine gute grü­ne Frak­ti­on wer­den wird und bin schon gespannt, wie sich hier The­men und Zustän­dig­kei­ten ver­tei­len werden.

Letzt­lich ist das aber eine Moment­auf­nah­me. Jetzt steht die Fra­ge an, ob die Kon­stel­la­ti­on Schwarz-gelb vs. Rot-rot-grün eine neue Lager­bil­dung auto­ma­tisch nach sich zieht – oder ob wir die­se unbe­dingt ver­mei­den soll­ten. Die Koali­ti­ons­bil­dun­gen im Saar­land und in Thü­rin­gen wer­den ers­te hand­fes­te Ant­wor­ten auf die­se Fra­ge dar­stel­len. Die Grü­nen in Schles­wig-Hol­stein sind ohne Koali­ti­ons­aus­sa­ge in den Wahl­kampf gezo­gen, und haben – hier lässt sich das wirk­lich sagen – ein his­to­risch gutes Ergeb­nis erreicht. Lag’s dar­an, oder doch nur an der Schlamm­schlacht der Großen?

Wie weit kann grü­ne Eigen­stän­dig­keit gehen? Wann muss die Oppo­si­ti­on zusam­men­ste­hen, um Druck auf die Raub­kat­zen-Regie­rung aus­zu­üben, wann geht’s drum, vom letz­ten Platz aus laut­stark Gehör zu fin­den? Ich rech­ne damit, dass stär­ker als in den letz­ten vier Jah­ren – und auch da gab es die­se Ent­wick­lung ja schon – eine Hin­wen­dung zurück zu den alten und neu­en sozia­len Bewe­gun­gen fest­zu­stel­len sein wird. So ruft Cam­pact aktu­ell dazu auf, einen offe­nen Brief an die neue Regie­rung zu unter­zeich­nen, den Atom­aus­stieg bei­zu­be­hal­ten – schon knapp 20.000 Men­schen haben die­se Bit­te unter­schrie­ben. Die Anti-Atom-Mobi­li­sie­rung kurz vor der Wahl war ein wei­te­rer Hin­weis dar­auf, dass hier – nicht im Sin­ne eines woll­so­cki­gen Zurück-zur-Basis-Gefühls, son­dern als wohl­über­leg­tes gesell­schaft­li­ches Bünd­nis – der Schul­ter­schluss zwi­schen Partei(en) und Bewe­gung wie­der enger gewor­den ist. 

(Neben­bei: eine For­de­rung der Gesell­schaft an die FDP müss­te jetzt eigent­lich sein, das Innen­mi­nis­te­ri­um für sich zu rekla­mie­ren und es mit einem oder einer Bür­ger­rechts­li­be­ra­len zu beset­zen. Glau­be nicht, dass die das machen – wäre aber ein Signal.)

Span­nend wird es, wenn die neue Netz­be­we­gung dabei in den Blick gerät. Zwei Pro­zent für die Pira­ten (zwei Pro­zent, die anders­wo gefehlt haben), deut­lich höhe­re Wer­te in eini­gen Uni­städ­ten und unter männ­li­chen! Erst­wäh­lern (bis zu 13 Pro­zent in der jüngs­ten Alters­grup­pe!) sind defi­ni­tiv ein Signal, dass Bür­ger­rech­te im Netz mobi­li­sie­ren kön­nen. Hin­sicht­lich der wei­te­ren Par­tei­kar­rie­re die­ser sozia­len For­ma­ti­on blei­be ich skep­tisch. Die­se For­de­run­gen auf­zu­neh­men, sie inner­par­tei­lich ernst­haft zu dis­ku­tier­ten, und auch per­so­nell – über die übli­chen Ver­däch­ti­gen hin­aus – hier bünd­nis­fä­hig zu wer­den, erscheint mir wich­tig für jede Oppo­si­ti­ons­par­tei. Wir soll­ten hier die ers­ten sein, die sich aus dem Fens­ter leh­nen. War­um bei­spiels­wei­se nicht die For­de­rung nach einem „netz­po­li­ti­schen Spre­cher“ (oder einer „netz­po­li­ti­schen Spre­che­rin“) in der neu­en grü­nen Frak­ti­on umsetzen?

Span­nend wird es aber auch, wenn neue grü­ne Eigen­stän­dig­keit bedeu­tet, – mög­li­cher­wei­se ein­fach aus rech­ne­ri­schen Grün­den bedeu­ten muss – neue Koali­ti­ons­op­tio­nen ernst­haft in Erwä­gung zu zie­hen, ernst­haf­te the­ma­ti­sche Pro­jek­te mit den „Bür­ger­li­chen“ zu beden­ken. Wie könn­te bei­spiels­wei­se, um im Hypo­the­ti­schen zu blei­ben, ein baden-würt­tem­ber­gi­scher Land­tags­wahl­kampf 2011 aus­se­hen, wo je nach Gegend die Grö­ßen­un­ter­schie­de zwi­schen SPD, FDP und uns Grü­nen mar­gi­na­li­siert sind, und wo Mehr­hei­ten ohne ent­we­der die CDU oder die FDP der­zeit undenk­bar erschei­nen? Las­sen sich grü­ne Inhal­te und rea­li­sier­ba­re Gestal­tungs­op­tio­nen in so einem Wahl­kampf zusam­men­brin­gen, ohne auf ein „lin­kes Lager“ fest­ge­legt zu sein? Was sind die Pro­jek­te und Hür­den, die mit den rech­ten Par­tei­en CDU und FDP auf Lan­des­ebe­ne umsetz­bar wären, ohne dass wir uns ver­bie­gen? Und was bedeu­tet das alles für die Wahl 2013?

Viel­leicht muss die SPD hier noch ein­mal als abschre­cken­des Bei­spiel die­nen: sie hat den Bogen über­spannt, ihre Stamm­wäh­ler­schaft ver­lo­ren, es nicht hin­ge­kriegt, sich aus der Umklam­me­rung der gro­ßen Koali­ti­on inhalt­lich und per­so­nell zu lösen, son­dern ist in die­sem Bun­des­tags­wahl­kampf als Staats­par­tei auf­ge­tre­ten. Die Quit­tung ist deut­lich (und ob dar­aus ein inhalt­li­cher und per­so­nel­ler Neu­an­fang erwächst, bleibt nicht nur frag­lich, son­der vor allem auch vorraus­set­zungs­reich). Klar ist jeden­falls: mit einer auf künst­li­che Geschlos­sen­heit bedach­ten, jede Regung im Keim ersti­cken­den Par­tei­füh­rung, die den Kon­takt zur Par­tei­ba­sis und zur Wäh­ler­schaft und den dort vor­han­de­nen Prä­fe­ren­zen ver­lo­ren hat, wäre es ver­mut­lich selbst mit einer cha­ris­ma­ti­sche­ren Per­sön­lich­keit kaum gelun­gen, ein deut­lich bes­se­res SPD-Ergeb­nis einzufahren. 

Screenshot "Atlas zur Bundestagswahl 2009"
Auf dem Weg zur Volks­par­tei? Grü­nes Zweit­stim­men­er­geb­nis im Visu­el­len Atlas

Im Umkehr­schluss bedeu­tet das: gera­de jetzt, wo wir Grü­ne von den Wahl­er­geb­nis­sen und der inter­nen Band­brei­te an Posi­tio­nen da und dort in die Nähe einer Volks­par­tei gera­ten, ist es extrem wich­tig, einen Modus der inner­par­tei­li­chen Orga­ni­sa­ti­on zu fin­den, der Geschlos­sen­heit nicht durch Ersti­ckungs­tod simu­liert (so inter­pre­tie­re ich das „Volks­par­tei-Vor­bild“ SPD), son­dern trag­fä­hi­ge For­men der inter­nen Aus­ein­an­der­set­zung, Dis­kus­si­on und Mei­nungs­bil­dung ermöglicht. 

Die Anla­gen dafür haben wir – wie weit sie umge­setzt wer­den, und dann auch noch dazu füh­ren, dass Mit­glie­der moti­viert statt frus­tiert wer­den, hängt nicht zuletzt am Füh­rungs­per­so­nal in der Par­tei, in der Frak­ti­on und in den Lan­des­ver­bän­den. Das muss die unter­schied­li­chen Rich­tun­gen in der Par­tei inte­grie­ren kön­nen, es muss nach außen für die Par­tei (und nicht für Par­ti­ku­la­ri­tä­ten) ste­hen, und es muss mit­tel­fris­tig auch den Gene­ra­tio­nen­um­bruch widerspiegeln. 

Zum Schluss noch ein­mal zurück vom Grü­nen zum All­ge­mei­nen: was die­se Bun­des­tags­wahl auch deut­lich gemacht hat, und was mehr noch die Land­tags­wahl in Schles­wig-Hol­stein deut­lich gemacht hat, sind die Wech­sel­wir­kun­gen zwi­schen Wahl­sys­tem und Wahl­ver­hal­ten. Stim­men­split­ting und tak­ti­sches Wäh­len gehö­ren eben­so dazu wie die unzäh­li­gen – im Bund über­haupt nicht aus­ge­gli­che­nen – Über­hang­man­da­te, die aus einer Zeit her­rüh­ren, in der zwei 40%-Parteien mit­ein­an­der kon­kur­riert haben. Hier sind Refor­men und intel­li­gen­te­re Wahl­sys­te­me überfällig. 

Wenn die­se nicht oder nur in Mini­mal­form kom­men, dann wird es 2013 wich­tig sein – und viel­leicht wird die SPD dann auch bereit dazu sein – hier bin­den­den Abspra­chen zu tref­fen. Min­des­tens drei der zehn baden-würt­tem­ber­gi­schen Über­hang­man­da­te hät­ten ver­mie­den wer­den kön­nen, wenn es im Länd­le zu vor­he­ri­gen Abspra­chen zwi­schen SPD und Grü­nen gekom­men wäre. Bis­her hat­te die SPD den grü­nen Ver­zicht auf Erst­stim­men­wahl­kampf als natur­ge­ge­ben hin­ge­nom­men. Auf die Idee, dafür eine Gegen­leis­tung zu erbrin­gen, woll­te sie sich bis heu­te nicht ein­las­sen. Die­se Arro­ganz einer sich selbst über­schät­zen­den Tra­di­ti­ons­par­tei gehört hof­fent­lich 2013 zum Abfall­hau­fen der Geschichte.

War­um blog­ge ich das? Um mal einen Teil der unsor­tier­ten Gedan­ken los­zu­wer­den, die mir seit ges­tern 18:00 Uhr so gekom­men sind.

Kurz: Wahlkampf 2.0 der Parteien

Wie der Wahl­kampf 2.0 der Par­tei­en wirk­lich aussieht:

CDU/CSU: Hmm, kei­ne Ahnung. Machen Wahl­kampf wie immer und wün­schen sich die „hei­le“ Welt mit der „hei­len“ Fami­lie zurück. Ist eh nicht die Ziel­grup­pe. Oder so. (Na gut: unbe­zahl­te Prak­ti­kan­tIn­nen pfle­gen die Pro­fi­le).

SPD: Fällt dadurch auf, dass die Behör­den­bü­ro­kra­tie im Wil­ly-Brandt-Haus mit allen inno­va­ti­ven Ansät­zen kol­li­diert.

FDP: Ver­steht dar­un­ter drei Mil­lio­nen SPAM-Emails (wirk­lich wahr!).

LINKE: Sie­he CDU/CSU.

PIRATEN: Spie­len Wahl­kampf als Aug­men­ted Rea­li­ty Game.

GRÜNE: Kom­mu­ni­zie­ren drei Tage lan­ge im Wahl­kampf­end­spurt, was das Zeug hält.

Wahlempfehlung

Die Finan­cial Times Deutsch­land hat die bri­ti­sche Tra­di­ti­on in Deutsch­land ein­ge­führt. Gro­ße Medi­en­häu­ser geben eine begrün­de­te Wahl­emp­feh­lung ab. Die der FTD fiel bei der Euro­pa­wahl – zum Erstau­nen eini­ger – grün aus. Für die Bun­des­tags­wahl hät­ten sie ger­ne „schwarz-grün“, emp­feh­len aber letzt­lich die CDU. Und begrün­den dies mir ihrer Angst vor „rot-rot-grün“. Die aktu­el­le Emp­feh­lung fin­de ich nicht so pri­ckelnd, wohl aber den Prozess:

Vor­an­ge­gan­gen ist die­ser Emp­feh­lung ein wochen­lan­ger Pro­zess mit zahl­rei­chen Dis­kus­si­ons­run­den zu den Par­tei­pro­gram­men und ein­zel­nen Poli­tik­fel­dern. Spit­zen­po­li­ti­ker der im Bun­des­tag ver­tre­te­nen Par­tei­en stan­den der Redak­ti­on in aus­führ­li­chen Gesprächs­run­den Rede und Ant­wort. Einer ent­spre­chen­den Ein­la­dung folg­ten die Gene­ral­se­kre­tä­re der CDU, SPD und FDP, Ronald Pofalla, Huber­tus Heil und Dirk Nie­bel, Bun­des­ge­schäfts­füh­re­rin Stef­fi Lem­ke für die Grü­nen sowie Frak­ti­ons­chef Gre­gor Gysi für die Links­par­tei. Schließ­lich dis­ku­tier­te die Redak­ti­on in einer drei­stün­di­gen Schluss­run­de dar­über, wel­che Emp­feh­lung sie dies­mal abge­ben soll. 

Die WELT will auch eine Wahl­emp­feh­lung abge­ben. Dum­mer­wei­se ist ihr der Name der Wunsch­par­tei entfallen.

Die taz schreibt zwar flei­ßig pro „schwarz-grün“ und neue Bür­ger­lich­keit, allen vor­an der Redak­teur für beson­de­re Auf­ga­ben, Jan Fed­de­re­sen. Heu­te prä­sen­tie­ren sie­ben taz-Redak­teu­rIn­nen ihre Wahl­ent­schei­dung – und über­ra­schen: Grü­ne wer­den durch die Bank weg nicht gewählt (jeden­falls nicht mit der Zweit­stim­me, Strö­be­le schon), ziem­lich vie­le outen sich als Wäh­le­rIn­nen der LINKEN – und der besag­te Herr Fed­der­sen pro­ji­ziert sei­ne eige­ne Bes­ser­wis­se­rei auf uns Grü­ne – und will statt­des­sen SPD wäh­len – aus Mit­leid. Poli­ti­sche Kom­pe­tenz sieht anders aus. Span­nend hät­te ich es gefun­den, wenn die taz sich in einem ähn­li­chen Pro­zess wie die FTD zu einer ein­heit­li­chen Wahl­emp­feh­lung durch­rin­gen hät­te kön­nen. Selbst wenn dann der gro­ße Anzei­gen­jun­ge LINKE bei raus­ge­kom­men wäre.

Die jungle world dage­gen emp­fiehlt „Geht wäh­len“ und meint damit „lus­ti­ge Split­ter­par­tei­en“ von Vio­let­ten bis zur DKP (wenn ich’s rich­tig sehe, nicht online). Immer­hin grei­fen sie die Debat­te um die Wähl­bar­keit der Pira­ten über­aus ernst­haft auf (na gut, hier).

netzpolitik.org sagt – schon zur Euro­pa­wahl, aber wohl auch zur Bun­des­tags­wahl noch gül­tig – wählt nicht CDU/CSU. Und unter­füt­tert das auch noch ein­mal durch einen Ver­gleich der netz­po­li­ti­schen Posi­tio­nen der Par­tei­en.

Und dann gibt es noch Par­tei­mit­glie­der (und ande­re Men­schen), die aus ganz unter­schied­li­chen Grün­den für die Wahl ihrer Par­tei auf­ru­fen – oder auch nicht.

Damit kom­me ich zur Wahl­emp­feh­lung von till we *) – Blog seit 2002: Wir, also, ich, emp­feh­len natür­lich die Grü­nen. Logisch. Und im Detail ein biß­chen dif­fi­zi­ler. Zweit­stim­me grün ist in der gan­zen Repu­blik sinn­voll und wärms­tens zu emp­feh­len. Selbst wenn es nicht für eine wie auch immer gear­te­te Koali­ti­on unter grü­ner Betei­li­gung rei­chen soll­te: nur mit star­ken Grü­nen sitzt eine Kraft im Par­la­ment, die bei den mir wich­tigs­ten The­men authen­tisch prä­sent ist. Damit mei­ne ich nicht nur die Kli­ma- und Umwelt­po­li­tik, son­dern vor allem auch den Ein­satz für Bür­ger­rech­te – der, auch dank der Pira­ten, mehr denn je zum grü­nen The­ma gewor­den ist. Und zwar off­line und online. Damit mei­ne ich aber auch die Geschlech­ter­po­li­tik, die von Grü­nen gelebt wird. Und über­haupt: nur Bünd­nis 90/Die Grü­nen sind eine Par­tei, die – in Poli­tik und Lebens­ge­fühl – wirk­lich in der post­for­dis­ti­schen Moder­ne ange­kom­men ist. Für man­che (sie­he Fed­der­sen, oben) mag das wie Über­heb­lich­keit aus­se­hen. Ist es aber nicht – son­dern pure Not­wen­dig­keit, um die Gesell­schaft zu ver­än­dern. Soweit das in Par­la­men­ten mög­lich ist.

Dif­fi­zi­el­ler wird es in mei­ner Wahl­emp­feh­lung vor allem bei der Erst­stim­me. Und zwar auf­grund der Über­hang­man­dats­pro­ble­ma­tik (eine Par­tei, die in einem Bun­des­land mehr Direkt­man­da­te erhält, als ihr laut Zweit­stim­me pro­zen­tu­al zuste­hen, behält die­se; für ande­re Par­tei­en gibt es aber kei­nen Aus­gleich). Des­we­gen gibt es Wahl­krei­se, in denen es sinn­voll sein kann, in den bit­te­ren stra­te­gi­schen Apfel zu bei­ßen und der SPD die Erst­stim­me zu geben. Faust­re­gel: wenn Grü­ne kei­ne Cha­ne auf das Direkt­man­dat haben, und SPD und CDU nah bei­ein­an­der lie­gen, kann „rot-grü­nes“ Wäh­len sinn­voll sein, um Über­hang­man­da­te zu ver­hin­dern, die sonst „schwaz-gelb“ wahr­schein­li­cher machen. Bit­ter ist die­ser Apfel, weil damit fak­tisch für die gro­ße Koali­ti­on gestimmt wird. Wenn nicht doch alles ganz anders kommt.

Trotz­dem gibt es eine gan­ze Rei­he Wahl­krei­se, in denen es sinn­voll ist, auch mit der Erst­stim­me grün zu wäh­len. Das sind die, wo „eh“ klar ist, wer den Wahl­kreis gewinnt, und grü­ne Stim­men sym­bo­li­schen Wert haben. Und es sind die Wahl­krei­se, in denen Grü­ne eine reel­le Chan­ce haben: neben Fried­richs­hain-Kreuz­berg (Chris­ti­an Strö­be­le) sehe ich hier Frei­burg (Kers­tin And­reae), Stuttgart‑I (Cem Özd­emir) und Ham­burg-Eims­büt­tel (Kris­ta Sager vor dem Hin­ter­grund inter­ner SPD-Zer­würf­nis­se) als die Wahl­krei­se an, in denen eine grü­ne Erst­stim­me rich­tig was bewe­gen kann.

Am Sonn­tag also: Zweit­stim­me grün, Erst­stim­me viel­leicht auch. In Frei­burg sowie­so. Und wer bis dahin noch fra­gen hat, ist bei 3 Tage wach gut aufgehoben.

War­um blog­ge ich das? Wahl­emp­feh­lung muss sein, klar!