Vorurteile zählen beim Schulübergang stärker als Noten (Update)
Ich habe einige Dienste des „idw“ abonniert, einem wissenschaftlichen Presseverteiler. Manchmal erreichen dann auch Pressemitteilungen meine Inbox, die gar nicht direkt in die von mir angegebenen Schwerpunktthemen fallen, aber trotzdem ziemlich spannend sind.
So hat eine Studie des Mainzer Soziologen Stefan Hradil empirisch unterfüttert, dass insbesondere der soziale Hintergrund bei der Erstellung von Schulübergangsempfehlungen zählt.
Was heißt das im Klartext? Das hier:
Kommt ein Kind aus einer niedrigen sozialen Schicht, wird es nicht die gleich hohe Bildungsempfehlung für die weiterführende Schule erhalten wie ein Kind aus einer hohen Sozialschicht, selbst wenn die beiden Kinder in der Grundschule die gleichen Noten erreichen. „Lehrerinnen und Lehrer an Grundschulen entscheiden offenbar nicht nur aufgrund von Schulleistungen über die Empfehlung, die sie für die weiterführende Schule nach der vierten Klasse abgeben, sondern auch aufgrund der sozialen Herkunft der Kinder“, teilt Univ.-Prof. Dr. Dr. Stefan Hradil vom Institut für Soziologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit. Dass dabei Kinder mit Migrationshintergrund häufig eine ungünstigere Bildungsempfehlung erhalten, ist nicht auf ihre fremdländische Herkunftsfamilie zurückzuführen, sondern auf den durchschnittlich niedrigeren Sozialstatus von Migranten.
Oder noch deutlicher:
Die Bildungsempfehlungen fallen dementsprechend aus. Kinder aus der Oberschicht erhalten zu 81 Prozent eine Gymnasialempfehlung, gegenüber nur 14 Prozent der Kinder aus Unterschichthaushalten.
Und:
Die Bildungsempfehlungen sind selbst dann eine Frage der sozialen Herkunft, wenn die Schüler und Schülerinnen die gleichen Leistungen bringen. Zwar sind die Noten selbst immer noch der wichtigste Einflussfaktor dafür, ob die Empfehlung für ein Gymnasium erteilt wird oder nicht. Betrachtet man aber nur Kinder beispielsweise mit der Durchschnittsnote 2,0, dann bekommen Kinder aus der niedrigsten Bildungs- und Einkommensgruppe nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 76 Prozent eine Gymnasialempfehlung, während in der höchsten Bildungs- und Einkommensgruppe nahezu alle Kinder, nämlich 97 Prozent, eine Empfehlung für das Gymnasium erhalten.
Die Ergebnisse beziehen sich nur auf Schulkinder aus Wiesbaden (alle, die 2007 in der vierten Klasse waren); aber ich stimme Hradil zu, dass eine Übertragbarkeit dieser Ergebnisse sehr wahrscheinlich ist – ähnliches zur Abhängigkeit von Bildungskarrieren und sozialem Hintergrund haben ja auch schon andere Studien gezeigt. Das heißt aber umgekehrt, nämlich hochschulpolitisch betrachtet, auch: einer der ersten und stärksten Filter für die Frage, ob jemand nachher zu den relativ wenigen Studierenden aus nicht-akademischen Herkunftsfamilien gehört, setzt genau hier ein: beim Übergang von der Grundschule auf die weiterführende Schule.
Warum blogge ich das? Weil ich die Ergebnisse politisch wichtig finde – und als Beispiel dafür, dass auch ernsthaft betriebene Wissenschaft (da bin ich mir bei Hradil sicher!) große politische Effekte haben kann. Ich bin jedenfalls recht überzeugt davon, dass diese Ergebnisse schnell massenmedial aufgegriffen werden.
Update: (12.9.2008) Auch hier nochmal der Hinweis, dass der Titel ein bißchen provokativ gedacht ist und nicht ganz der Statistik der Studie entspricht. Die massenmediale Resonanz ist inzwischen eingetreten – SpOn berichtet sehr ausführlich, die taz interviewt einen an der Studie beteiligten Wissenschaftler, und auch bei ZEIT ONLINE ist was zu finden.
Kurz: SPD, Blogs und die mediale Aufmerksamkeitslogik
Wieder zurück vom geheimnisvollen Camp Netzbegrünung in Berlin. Mitten in unsere Workshop-Berichte platzte die Nachricht vom SPD-Intrigenstadel. Mein erster Gedanke: da müsste ich was zu bloggen. Blödsinn. Wenn mein Blog ein klassisches Massenmedium wäre, wäre das so. Oder wenn ich Öffentlichkeitsarbeit machen würde. Aber nur, weil ein Thema politisch heiß ist, sich drauf zu stürzen? Es gibt keinen Zwang dazu, auf der vordersten Welle der Aufmerksamkeit zu surfen. Also: nichts zur SPD, zu Müntefering, Beck und Steinmeier, und erst recht keine Spekulationen darüber, ob das jetzt der Linken, der SPD, den Grünen, der FDP oder doch vor allem der Kanzlerin nützt.
Photo of the week: Flight of the seagull I
Zum Überlebensminimum-Unsinn (Update 2: Hartz-IV soziologisch betrachtet)
Zwei Chemnitzer Ökonomen (Prof. Dr. Friedrich Thießen und ein Dipl.-Kfm. Christian Fischer) haben eine Studie veröffentlicht (scheinbar tatsächlich in der Zeitschrift für Wirtschaftspolitik erschienen, wenn dem Dokument zu trauen ist), auf die u.a. taz und Spiegel Online aufgesprungen sind, und die als betriebswirtschaftliche Legitimation einer maximalen Reduzierung der Hartz-IV-Sätze verstanden werden kann. Zur Erinnerung: der Regelsatz (ohne Wohngeld) liegt (zum Zeitpunkt der Studienverfassung) bei 345 Euro, der Minimalfall der Studie kommt auf 132 Euro (ohne Heizung, Strom und Miete).
Inzwischen fühlen die Autoren sich genötigt, die Studie mit einem rechtfertigenden Vorblatt zu versehen. Trotzdem müsste „Studie“ eigentlich in Anführungszeichen gesetzt werden.
Umso interessanter ist es, sich anzuschauen, wie die Vorannahmen aussehen, die zu solch unsinnigen Ergebnissen führen.
1. Ausgangspunkt ist ökonomen-typisch ein rational handelnder Mensch, darunter wird hier nicht nur verstanden, dass in jedem Fall das billigste Produkt genommen wird, sondern auch, dass mit Geld vernünftig umgegangen wird, keine Lebensmittel weggeworfen werden usw. Darauf (und nicht auf dem tatsächlichen Verhalten von Menschen) zur Verfügung zu stellende Geldmittel aufzubauen, ist zynisch.
2. Ausgangspunkt ist zweitens die Preislage der billigsten Anbieter (gerne auch kostenloser Second-Hand-Produkte) in Chemnitz. Auch wenn in der Studie behauptet wird, dass das keine Rolle spielt, kann ich mir z.B. kaum vorstellen, dass das ÖPNV-Ticket (Jahresnetzkarte) in Hamburg, Berlin, Chemnitz, Köln und Freiburg preislich ähnlich liegt.
3. Drittens – und hier geht es ans Eingemachte – wird versucht, von einem mehr oder weniger selbst definierten Zielset (verwiesen wird dazu auf ein unveröffentlichtes Manuskript des Ko-Autors Fischer) aus einen monatlichen Warenkorb zu definieren. Dabei wird ziemlich komplett ignoriert, dass Hartz IV mehr sein soll als eine Überlebenssicherung, sondern als Minimalfall wird tatsächlich rein das physische Überleben herangezogen. Selbst die relativ schlichte, von Ökonomen gerne herangezogene Maslowsche Bedürfnispyramide macht deutlich, dass zwischen dem physischen Existenzminimum und menschlichem Überleben Welten liegen.
4. Das Fallbeispiel wird anhand eines gesunden deutschen Mannes ohne Behinderung und sonstige Einschränkung, aber dafür mit deutschen Verbrauchsgewohnheiten berechnet. Über jedes Einzelne dieser Attribute ließe sich diskutieren. Kinder samt deren Extrakosten kommen nicht vor, ebensowenig dürfen rationale Almosenempfänger (m) irgendwelche Hobbies, Interessen, sozialen Kontakte oder Ernährungsvorlieben haben.
5. Externe Kosten (z.B. die Gesundheitsfolgen einer auf den billigsten Discounterprodukten basierenden Ernährung) kommen absolut nicht vor. Gesundheitskosten kommen überhaupt nicht vor, der deutsche Mann ist ja auch gesund.
6. Der Fallbeispielmann verzichtet auf Alkohol und Tabak (ist irrational), ist dafür jedoch relativ viel Wurst und Fleisch (scheint rational zu sein). Gespart wird überhaupt insbesondere am Essen – im Monat reichen 9 kg Brot, 9 kg Kartoffeln, 10 kg Obst, 10 kg Gemüse, 7,5 l Milch, 1,8 kg Käse, 1,6 kg Fleisch, 1,8 kg Wurst, 1,3 kg Fisch und 1,2 kg Fett. Gewürze sind allerdings ebensowenig vorgesehen wie z.B. Süßigkeiten. Oder Kaffee. Kaffee! Genuß gibt’s nicht. Beim Discounter kostet dieser Warenkorb (der angeblich einem WHO-Standard entsprechen soll) laut Studie 68 Euro. Pi mal Daumen komme ich mit den üblichen Supermarktpreisen auf mindestens das Doppelte (auch die realen Ernährungsausgaben im unteren Quintil abzgl. Sozialhilfeempfänger liegen dieser Studie zu Folge mit 138 Euro in dieser Größenordnung). Eine rationale – also vernünftige, gesunde, und ökologische – Ernährung wird vermutlich nochmal etwas teurer. Aber die scheint eben nicht vorgesehen zu sein.
7. Ähnlich schräg ist es bei Alltagsgegenständen und Kleidung (sollen gebraucht bzw. umsonst irgendwo erworben werden). Gebraucht wird auch gar nicht viel. Aha.
8. Für „Kommunikation, Unterhaltung, Verkehr“ sind im Minimalfall vorgesehen: ein billiger Fernseher, die Mitgliedschaft in der Stadtbibliothek und 2,38 Euro für Briefmarken (reicht das für die notwendigen Bewerbungen?). Und ein ÖPNV-Ticket für 23 Euro pro Monat, auf der Seite der Chemnitzer Verkehrs-AG habe ich allerdings nichts auch nur annähernd in dieser Preisklasse gefunden. Die Stadtbibliothek darf dann auch gleich das kostenfreie Internet mitliefern, Telefon ist nicht notwendig. Kosten insgesamt: 26,78 Euro pro Monat. Über die Effekte einer derartigen Freizeitzuweisung haben die Autoren allerdings nicht nachgedacht, jedenfalls machen sie keine Ausführungen dazu. Fahrrad, Kino, Fußball, Urlaub (noch nicht mal das Wochenendticket der DB AG), Telefon, Kneipenkonsum: sind alle nicht vorgesehen. Kurz: eingesperrt in den eigenen vier Wänden, in der Zeit, die zwischen Arbeitsamt, Discounter-Preissuche und Stadtbibliothek mit ÖPNV noch bleibt. Privatsphäre in der Kommunikation gibt es hier auch nicht.
9. Abschließend wird dann noch argumentiert, dass auch Menschen, die mehr Geld haben, unzufrieden sind, und dass es deswegen nicht weiter schlimm wäre, wenn minimalausgestattete Personen glauben, Mängel zu leiden.
Zusammengefasst: relativ asketisch lebende gesunde alleinstehende Männer mit deutschen Verzehrgewohnheiten ohne soziale Kontakte, ohne Kinder und ohne Hobbies kommen mit 132 Euro im Monat aus. Normale Menschen mit normalen Praktiken nicht, Menschen mit Problemen nicht, und Familien erst recht nicht. Es wundert mich nur, dass nicht als Berechnungsgrundlage auch das „Containern“ und die Nutzung öffentlicher Infrastruktur zur Befriedigung von Wohnbedürfnissen herangezogen wurden.
Die Ergebnisse bestätigen also letztlich vor allem eins – meine Vorurteile über ÖkonomInnen.
Warum blogge ich das? Im Rahmen der Grundeinkommensdebatte ging es auch darum, wie viel Menschen zum einigermaßen guten und entwicklungsförderlichen („Hilfe zur Selbsthilfe“, anyone?) Leben brauchen, und ob die relativ niedrigen, finanzierbaren Grundeinkommensbeiträge, die wir vorgeschlagen haben, dazu ausreichen würden. Wir reden hier über 420 Euro ohne Wohnkosten. Dafür gab’s heftig Schelte, dass die Hartz-IV-Sätze bei einigermaßen „normalen“ Alltagspraktiken kaum ausreichen, ist allgemein bekannt – und dann scheinbar ökonomisch begründet mal den Idealtypus des edlen und sparsamen Armen als Regelfall zu setzen, was die Studie implizit macht, kann einfach nicht gut gehen. Oder heißt: Wer arm ist, muss leiden. Und verdient die mediale Polemik, der ich mich hiermit anschließe.
Update: (5.9.2008) Soeben haben sich die Grünen im Bundestag mit einer Pressemitteilung zu dieser Studie zu Wort gemeldet. Und Markus Kurth macht das richtig gut.
PRESSEMITTEILUNG der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen
NR. 0931 – Datum: 8. September 2008
Existenzminimums-Studie: Wirtschafts-Professor aus Chemnitz sei Selbsterfahrung auf Hartz IV-Niveau empfohlen
Anlässlich der Studie der TU Chemnitz zur Höhe der sozialen Mindestsicherung erklärt Markus Kurth, sozialpolitischer Sprecher:
Die Studie zweier Wirtschaftswissenschaftler der Technischen Universität Chemnitz, unter Leitung von Professor Friedrich Thießen, zur Höhe der sozialen Mindestsicherung ist unseriös und realitätsfremd. Die erhobenen Angaben zu den Verbrauchskosten, die angeblich den Lebensunterhalt sichern sollen, sind völlig frei erfunden und entbehren jedweder wissenschaftlichen Grundlage. Stichprobenartige, eher zufällig aufgespürte Schnäppchen in Chemnitz haben mit einer seriösen, für bundesweite Maßstäbe tauglichen Bedarfserhebung nichts zu tun. Jeder überprüfbare Beleg fehlt. Die staatlich besoldeten Wissenserfinder sollten einmal versuchen, einen Monat von Hartz IV zu leben. Das würde reichen, um derartige Behauptungen zum Lebensnotwendigen zu widerlegen.
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die Integration am Arbeitsmarkt haben für den professoralen Schnäppchenjäger Thießen offenbar keine Bedeutung. So ist es völlig weltfremd, zu glauben, man könne ohne Telefon am kommunikativen Leben teilnehmen und sich in einer 12-Euro-Hose auf ein Vorstellungsgespräch zu begeben.
Update 2: Parallel zur Debatte um die Chemnitz-Studie gibt es bei Tina Günther eine ausführliche Auseinandersetzung mit Medienhetze und Hartz-IV-Wirklichkeit, wie immer im sozlog soziologisch unterfüttert. Lesenswerte Ergänzung.