Was ich heute morgen getan habe

T. streck­te sich gäh­nend, als sein Blick auf die matt schim­mern­de Anzei­ge des Weckers fiel. „Ver­dammt, in einer Minu­te geht es los!“ 

Zu faul, um sich ins Wohn­zim­mer zu bege­ben und den Tisch­rech­ner anzu­wer­fen, schnapp­te er sich sei­nen Taschen­kom­mu­ni­ka­tor, ein Wun­der­werk der Tech­nik. Klei­ner als eine Tafel Scho­ko­la­de, aber Bild­te­le­fon, Schnitt­stel­le zu diver­sen glo­ba­len Kom­mu­ni­ka­ti­ons­diens­ten und Spiel­kon­so­le zugleich. T. ent­schied sich, den his­to­ri­schen Augen­blick mit Mil­lio­nen ande­rer zu tei­len. Mit eini­gen ein­ge­üb­ten Fin­ger­be­we­gun­gen schal­te­te er den Taschen­kom­mu­ni­ka­tor auf einen Kanal, auf dem unter ande­rem ein schot­ti­scher Sci­ence-Fic­tion-Schrift­stel­ler, der ame­ri­ka­ni­sche Prä­si­dent sowie diver­se Raum­fahrt­agen­tu­ren über das Ereig­nis berichteten. 

Das graue Dis­play des Funk­we­ckers zeig­te 07:29.

T. war es nicht genug, über das Ereig­nis zu lesen. Lei­der wür­de es kei­ne Live-Bil­der geben, aber zumin­dest den Ton aus dem Steue­rungs­zen­trum der ame­ri­ka­ni­schen Raum­fahrt­agen­tur woll­te er hören. Dazu ergänz­te er die Kanal­wahl auf dem Taschen­kom­mu­ni­ka­tor durch einen Radio­sen­der aus San Fran­cis­co, der den Ton aus dem Steue­rungs­zen­trum mit sphä­ri­schen Tönen unterlegte.

Jubel bran­de­te auf. Das durch die Zeit­ver­zö­ge­rung zum roten Pla­ne­ten beding­te ban­ge War­ten hat­te ein Ende. Das über die Mar­s­or­bi­ter wei­ter­ge­lei­te­tes Funk­si­gnal bestä­tig­te es. Das kom­pli­zier­te Lan­de­ma­nö­ver war erfolg­reich gewesen!

Die Flug­kap­sel hat­te sich erfolg­reich von der Lan­de­ein­heit getrennt. Die­se wur­de durch die Rei­bung der dün­nen Mars-Atmo­sphä­re abge­bremst, bis der größ­te Lan­de­fall­schirm, der jemals ein­ge­setzt wor­den war, aus­ge­fall­tet wer­den konn­te. Der nächs­te Schritt des Manö­vers war der schwie­rigs­te, und er muss­te auto­ma­tisch aus­ge­löst wer­den: Der Fall­schirm wur­de abge­sprengt, die Lan­de­ein­heit schal­te­te auf Rake­ten­an­trieb um und schweb­te nun über dem Gale-Krater. 

Dann wur­de der Him­mels­kran ein­ge­setzt! An drei Kunst­fa­ser­sei­len, wie in der Simu­la­ti­on mil­lio­nen­fach erprobt, wur­de das Erkun­dungs­fahr­zeug – so groß und schwer wie ein klei­nes Auto – lang­sam her­ab­ge­las­sen. Auf sei­nen sechs Alu­mi­ni­um­rä­dern setz­te es federnd auf. „Boden­kon­takt bestätigt!“ 

Im Kurz­nach­rich­ten­dienst über­schlu­gen sich die Bei­falls­be­kun­dun­gen und ers­ten Kom­men­ta­re. Jeder woll­te berich­ten, wo er in die­sem his­to­ri­schen Moment gewe­sen war. Und natür­lich gab es – wie immer – Witz­bol­de, die ihre Scher­ze trie­ben, statt inne­zu­hal­ten und die­se tech­ni­sche Meis­ter­leis­tung – für die die ame­ri­ka­ni­sche Raum­fahrt­agen­tur über einen Zeit­raum von acht Jah­ren das Brut­to­so­zi­al­pro­dukt Gua­ya­nas aus­ge­ge­ben hat­te – ehr­furchts­voll zu bestaunen.

Wenig spä­ter waren dann auch die ers­ten ver­schwom­me­nen Schwarz­weiß­bil­der durch die tief­dunk­le Nacht des Son­nen­sys­tems geschickt wor­den. Auf sei­nem Taschen­kom­mu­ni­ka­tor konn­te T. mit eige­nen Augen sehen, was „Curio­si­ty“, wie der Mars­ro­bo­tor lie­be­voll genannt wur­de, durch sei­ne Sicher­heits­ka­me­ras auf­ge­nom­men hat­te – eini­ge Stei­ne und sei­nen eige­nen Schat­ten. Jetzt wür­de sich der Kame­ra­kopf auf­rich­ten und das Robo­tor­fahr­zeug der NASA sei­nen nukle­ar­be­trie­be­nen Laser­arm aus­fah­ren, um die ein Mars­jahr dau­ern­de pla­ne­ta­re Erkun­dung zu beginnen. 

War­um blog­ge ich das? His­to­ri­sches Ereig­nis und so (auch wenn’s nicht die ers­te Lan­dung eines Erkun­dungs­ro­bo­ters auf einem ande­ren Pla­ne­ten ist).

Der Fluss ohne Form. Eine Kritik der Liquid Culture Declaration

River art I

Jörg Blum­tritt, Bene­dikt Köh­ler und Sab­ria David haben vor eini­gen Wochen eine Erklä­rung abge­ge­ben – die Decla­ra­ti­on of Liquid Cul­tu­re.

Dem Spiel mit dem Adjek­tiv liquid (flüs­sig, auch: liqui­de, zah­lungs­fä­hig; viel­leicht auch sowas wie das neue open) ent­spre­chend neh­men die AutorIn­nen als ihr Leit­mo­tiv das Bild des Flus­ses der Geschich­te, der jetzt – an den Marsch­lan­den der Post­mo­der­ne vor­bei – in die kon­tu­ren­lo­se offe­ne See der Gegen­wart fließt. Ori­en­tie­rung auf die­sem Meer – im Zusam­men­hang mit dem Inter­net kein neu­es Bild (Bickenbach/Maye 1997) – geben nur noch die Sterne.
„Der Fluss ohne Form. Eine Kri­tik der Liquid Cul­tu­re Decla­ra­ti­on“ weiterlesen

Utopie, Realpolitik und lokale Maxima

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Abs­trakt betrach­tet, geht es bei Poli­tik dar­um, einen Zustand x so zu ändern, dass ein erwünsch­ter Zustand x* erreicht wird, um damit ein Pro­blem zu lösen. 

Was erwünscht ist, und was nicht, lässt sich mit dem Bild des „poli­ti­schen Kom­pas­ses“ beschrei­ben. Also ein grund­le­gen­des Wer­te­sys­tem, oder, wenn ich hier schon mathe­ma­ti­sche Meta­phern ver­wen­de, eine Funk­ti­on, die Aus­kunft dar­über gibt, ob x* bes­ser ist als x oder nicht. Oder noch genau­er: eine Funk­ti­on, die Aus­kunft dar­über gibt, wel­cher der Zustän­de x1, … xn als mög­li­che Lösung eines Pro­blems am bes­ten ist.

Kom­pli­ziert wird das durch min­des­tens vier Dinge:

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Kurz: Politische Scheidelinien, 2042

Einer mei­ner SF-Lieb­lings­au­toren, Charles Stross, bloggt ger­ne und aus­führ­lich. Sein neus­ter Blog­bei­trag dient letzt­lich dazu, die Fra­ge zu stel­len, wie sich die poli­ti­schen Gewich­te und Ori­en­tie­run­gen in der nächs­ten Gene­ra­ti­on ver­scho­ben haben wer­den. Was vor hun­dert Jah­ren als rand­stän­di­ge, radi­ka­le Mei­nung galt (z.B. das Frau­en­wahl­recht) ist heu­te Main­stream – und umgekehrt. 

Ich fin­de das durch­aus span­nend, und grei­fe des­we­gen Charles Stross Fra­ge auf: Was wer­den in einer Gene­ra­ti­on, also z.B. im Jahr 2042, die gro­ßen Fra­gen sein, an denen sich die poli­ti­schen Lager schei­den? Das wür­de ich ger­ne mit euch diskutieren.

Um das noch mit ein paar Daten aus­zu­schmü­cken: Ange­la Mer­kel wäre dann 88 Jah­re alt, Josch­ka Fischer 94 und Sig­mar Gabri­el 83. Selbst Cem Özd­emir wäre bereits 77. Die deut­sche Ein­heit ist dann über ein hal­bes Jahr­hun­dert her, der Atom­aus­stieg seit mehr als einer Deka­de Rea­li­tät, und die Ter­ror­an­schlä­ge vom 11. Sep­tem­ber 2011 2001 lie­gen für vie­le der 2042 poli­ti­sche Akti­ven in einer Zeit vor ihrer Geburt. Die Pira­ten­par­tei – wenn es sie dann noch gibt – exis­tiert seit 36 Jahren. 

Wor­an und wor­in also unter­schei­den sich – wenn es die­se Ach­sen 2042 über­haupt noch gibt – dann rechts und links, libe­ral und kon­ser­va­tiv? Wel­che heu­te radi­ka­len Hal­tun­gen (spon­tan fällt mir das Grund­ein­kom­men ein) sind 2042 im Main­stream ange­langt, was von dem, was uns heu­te poli­tisch selbst­ver­ständ­lich erscheint, wird dem „gesun­den Men­schen­ver­stand“ in einer Gene­ra­ti­on ganz komisch erschei­nen? Büh­ne frei!

Mona Lisa überzeichnet

Wenn sie spä­ter danach gefragt wur­de, wie alles ange­fan­gen hat­te, rück­te Rita Klein erst zu fort­ge­schrit­te­ner Stun­de damit her­aus, wenn über­haupt. Es war der Kunst­his­to­ri­ke­rin zuge­ge­be­ner­ma­ßen pein­lich, dass sie damals, zu Anfang des Jah­res 2012, den Beginn der Epi­de­mie fast ver­passt hat­te. Wer sie nach dem drit­ten oder vier­ten Glas Rot­wein danach fragt, konn­te dage­gen erfah­ren, dass es einer der hip­pen jun­gen Insti­tuts­as­sis­ten­ten gewe­sen war, mit stan­des­ge­mä­ßer schwar­zer Horn­bril­le, der ihr den Aus­druck einer Inter­net­sei­te in die Hand gedrückt hatte. 

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