Der grüne Kreisverband Freiburg hat sein Mitgliedermagazin Grün in Freiburg von Print auf online umgestellt und mich gebeten, für die zukünftig regelmäßig geplante Rubrik „Sag’s den Grünen“ den Auftakt zu machen. Geschrieben habe ich – noch im August, vor der Aufregung um eine unhygienische Großdemo in Berlin – etwas dazu, wie wir Grüne uns verhalten hätten, wenn die Corona-Pandemie vor 30 Jahren stattgefunden hätte? (Ja, es geht um die Frage der Orientierung an Wissenschaftlichkeit und Fakten …). Aber auch jenseits davon ist die erste Online-Ausgabe von Grün in Freiburg recht interessant geworden.
… sich zu radikalisieren
Anlässe, sich zu radikalisieren, gäbe es einige.
Die Klimakrise ist eine existenzielle Bedrohung. Ganz ähnlich sieht es mit dem Artensterben aus. Hier weitreichende Forderungen zu erheben und wenig Spielraum für Kompromisse zu sehen – so würde ich eine radikale politische Haltung im Sinne Habecks „radikal und realistisch“ beschreiben – erscheint mir sehr nachvollziehbar. (Und natürlich lässt sich das herunterbrechen auf lokale Anlässe, Wälder, die abgeholzt werden sollen und dergleichen mehr.)
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Kurz: Nudgende Apps
Es fing vor eineinhalb Jahren damit an, dass unsere Diensthandys auf Geräte von Apple umgestellt wurden, Sicherheitsgründe. Serienmäßig läuft auf Apple-Handys „Health“ – und diese App zählt unentwegt Schritte, Höhenunterschiede, usw. – solange das Handy dabei ist – und kann auch alle möglichen anderen Daten anzeigen. Eigentlich sollte das keinen großen Unterschied machen, aber zu wissen, dass da eine App mitzählt, und die Möglichkeit zu haben, jederzeit nachzuschauen, wie viele Schritte es waren; das macht tatsächlich etwas mit einem. Mit mir jedenfalls. Beispielsweise hatte ich durch den Weg zum Bahnhof und vom Bahnhof zum Büro in den regulären Arbeitswochen einige Tage mit vielen Schritten, und an den Homeoffice-Tagen nur etwa halb so viele Schritte. Mit Beginn der Corona-Maßnahmen sank meine durchschnittliche monatliche Schrittzahl damit deutlich, was dazu führte, dass ich mir sagte, dass ich doch durch Spaziergänge etc. zumindest den wegfallenden Arbeitsweg ersetzen sollte. Und jetzt spielt das Handy schlechtes Gewissen, weil die Zahl für diese Woche eben doch noch nicht ganz erreicht ist.
Aber „Health“ kann nicht nur Schritte zählen. In Verbindung mit anderen Apps zählt „Health“ auch, wie viele Kilometer Rad ich gefahren bin, wie viel Wasser ich getrunken habe und wie viele Kalorien ich zu mir genommen habe – letzteres seit etwa eineinhalb Monaten und dem Vorsatz, mal etwas mehr auf mein Gewicht zu achten. Und da ist es die bloße Tatsache, dass ich jedes Nahrungsmittel in der App nachschlagen und eingeben muss (mit teils recht groben Mengenschätzungen – ist ein Pfirsich wirklich 125 g schwer – mehr – weniger?), die mein Verhalten beeinflusst. Essen wird dadurch komplizierter. Mal eben nebenbei eine halbe Tafel Schokolade essen oder die Reste der Sahnesoße auch noch – das würde ja bedeuten, die App (nochmal) aufrufen und das eingeben zu müssen. Insofern esse ich kontrollierter. Ob das im Endeffekt was hilft, bleibt abzuwarten.
Spannend finde ich es allemal, dass ein Smartphone (bzw. eine App) tatsächlich auf diese Art und Weise eine gezielte Wirkung auf mein Verhalten haben kann. Letztlich scheint es sich mir um eine Umsetzung von „Nudging“ zu handeln – also der Versuch, durch Hinweise und kleine Schubser Verhalten (zum Besseren) zu verändern. Streiten ließe sich allerdings darüber, wer hier der Anschubser ist – Apple, weil „Health“ so wunderbar mitzählt und einfach von Anfang an läuft, wenn ein iPhone verwendet wird, oder ich selbst, weil ich diese Apps nutze und mich davon beeinflussen lasse(n will). Ach ja – und die „Corona Warn App“? Die gehört auch dazu, glaube ich. Da ist es allerdings nicht Apple, sondern der Staat, der schubst.
Warum es sich lohnen könnte, dafür zu kämpfen, Politik an wissenschaftlichen Fakten auszurichten
Die Stärke der neuen Klimabewegung kann aus zwei Ursachen abgeleitet werden. Das eine ist sicherlich die zunehmende Sichtbarkeit und damit Dringlichkeit des Klimawandels. Das andere ist, dass wir es hier mit wohl mit der ersten Bewegung zu tun haben, die Handlungsbedarf schlicht aus Physik ableitet. Es sind keine theoretischen Überlegungen, kein revolutionärer Überbau, es ist schlicht die gut erforschte Wirkung der Treibhausgase in der Atmosphäre mit allen Konsequenzen für das Klimasystem, die hier zum politischen Impuls verdichtet worden sind.
(Natur-)wissenschaftliche Wahrheit als Grundlage einer politischen Bewegung – das ist neu. Übrigens auch im Vergleich zu der bloß behaupteten Wissenschaftlichkeit des Marxismus-Leninismus, bei dem im Kern der Argumentation eben nicht beweisbare und dem wissenschaftlichen Prozess offene Fakten lagen, sondern ein auf Sand errichtetes Gedankengebäude.
Mit Fakten lässt sich nicht diskutieren. Darin liegt die Stärke, darin liegt aber auch eine große Schwäche der Klimabewegung. Denn die bloße Feststellung, dass zur Begrenzung der Erderwärmung ein maximales CO2-Budget für die Menschheit verbraucht werden darf, ist aber noch keine politische Handlungsanweisung. Zudem entzieht sich die naturwissenschaftliche Wahrheit auch insofern dem Politischen, als damit eine Reduzierung auf Null oder Eins nahe liegt. Das erleichtert radikale Forderungen. Entweder schafft die Menschheit – bisher kein handelnder Akteur – es, das CO2-Budget einzuhalten, oder sie schafft es nicht, und löst damit mit hoher Wahrscheinlichkeit Kipppunkte aus. Das liegt quer zum Modus des Kompromisses. Ein Treffen in der Mitte gibt es nicht, wenn 2,2 Grad Erderhitzung in ihren Konsequenzen genauso dramatisch sind wie ein Plus von drei oder vier Grad.
Der Anspruch, den die Klimabewegung an die Politik stellt, muss also zwangsläufig ein radikaler sein. Entsprechend hoch ist die Fallhöhe.
Das ist der eine Teil der Herausforderung. Der andere besteht darin, die heute notwendigen Maßnahmen, um dieses Ziel zu erreichen, zu finden und zu verhandeln, demokratische Mehrheiten dafür zu suchen und in kurzer Zeit einen Weg zu finden, das internationale Abkommen von Paris insbesondere in den zehn oder zwanzig Staaten mit den größten Treibhausgasemissionen umzusetzen.
Das historische Fenster hierfür – eine hohe Akzeptanz für Klimaschutzmaßnahmen in der Bevölkerung, Druck von der Straße, breite Mehrheiten im Parlament – hat die Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD nicht genutzt.
Entsprechend hoch ist der Druck auf die Partei, die sich schon immer durch hohe Kompetenzzuschreibungen in ökologischen Fragen auszeichnet, also auf Bündnis 90/Die Grünen: zwischen Physik und Politik zu vermitteln, und dabei weder die Demokratie noch das Weltklima vor die Hunde gehen zu lassen – das scheint die Aufgabe zu sein, die jetzt der kleinsten Bundestagsfraktion zuwächst.
(Und ja, es gibt Länderregierungen mit grüner Beteiligung, und ja, es gibt die grün-geführte Regierung in Baden-Württemberg – aber zu den Regeln des Politischen gehört eben auch, dass ein großer Teil der für das Pariser Klimaziel notwendigen Maßnahmen in Bundeskompetenz liegen würden, und das der Bundesrat ein Gremium ist, das Gesetze verzögern oder aufhalten kann, aber kaum selbst gestalterisch tätig werden kann.)
In dieser Situation bricht nun eine innergrüne Debatte über evidenzbasierte Politik los. Zur Unzeit?
Nicht ablenken: die Klimakrise kann nur politisch gelöst werden
Oft sind Twitterdebatten furchtbar, aber manchmal sind sie tatsächlich fruchtbar.
Aber ich fange noch mal anders an. Nehmen wir an, ein Land hätte sich vorgenommen, den Mond zu erreichen. Ein milliardenteures Vorhaben. Es muss eine entsprechende Forschungslandschaft und Industrie aufgebaut werden. Astronaut*innen müssen gefunden und trainiert werden. Und so weiter. In diesem Land aber ist das anders. Es gibt eine breite öffentliche Debatte darüber, wie wichtig es sei, den Mond zu erreichen. Und deswegen würden alle Bürger*innen ab sofort dazu aufgerufen, Leitern auf ihren Hausdächern zu befestigen, gerne auch hohe. Jedes bisschen hilft! Wer Astronaut*in werden will, sollte selbstverständlich auf die höchste Leiter auf dem höchsten Haus klettern.
Der Vergleich hinkt. Trotzdem hilft er. In gewisser Weise ist die Lösung der Klimakrise ein Moonshot-Projekt. Alles muss sich darauf ausrichten, Treibhausgasemissionen zu reduzieren und Senken zu schaffen (also zum Beispiel Bäume zu pflanzen). Ein relevanter Teil der öffentlichen Debatte beschäftigt sich damit, was jede und jeder selbst tun kann. Vegetarische Ernährung. Eine autofreie Mobilität. Keine Flüge.
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