Adieu, Wildnis vor der Haustür

Zwi­schen unse­rem Haus (also dem Haus, das mei­ne Eltern 1990 gekauft haben, und in dem wir jetzt wie­der woh­nen, und das in einer Stich­stra­ßen neben vie­len iden­ti­schen Rei­hen­häu­sern liegt) und dem Gun­del­fin­ger Schul­zen­trum liegt ein Pri­vat­grund­stück, das nicht bebaut ist.

Wiese 1990 - Gundelfingen

Auf Fotos aus den 1990er Jah­ren ist das Grund­stück eine Wie­se, auf der ein paar Bäu­me ste­hen. Da sah das unge­fähr so aus.

Das war, wie gesagt, 1990 – also jetzt etwa ein Drit­tel­jahr­hun­dert her. Wobei es das Wort Drit­tel­jahr­hun­dert viel­leicht gar nicht gibt, passt hier aber gut. Eine Gene­ra­ti­on. Jeden­falls: beim Ein­zug lag eine Wie­se vor dem Haus, ein paar weni­ge Bäu­me, das damals noch etwas klei­ne­re Schul­zen­trum war zu sehen, und eben­so die Bahnlinie.

Im Lauf der Zeit sind aus den dama­li­gen klei­nen Bäu­men gro­ße Bäu­me gewor­den. Wei­te­re sind dazu gekom­men. Und: Gestrüpp, Brom­beer­he­cken, Schilf (war­um auch immer), all sowas. Das Grund­stück ist nach und nach zugewuchert.

Lei­der fin­de ich jetzt kein Foto, das die­sen Zustand der Wild­nis zeigt, fast schon ein klei­ner Wald. Das liegt dar­an, dass auf allen Fotos spie­len­de Kin­der zu sehen sind. Denn ein klei­ner Wald vor der Haus­tür eig­net sich natür­lich her­vor­ra­gend, um sich zu ver­ste­cken – das fan­den immer wie­der auch Teen­ager von den Schu­len gegen­über -, um Pira­ten­schif­fe und Baum­häu­ser zu ima­gi­nie­ren und so weiter.

Und neben Kin­dern und Kat­zen waren da beim Blick aus dem Küchen­fens­ter auch Eich­hörn­chen und Els­tern zu sehen. Einen Igel habe ich da schon getrof­fen, und natür­lich die übli­chen Stadt­vö­gel – Mei­sen, Amseln, Krähen.

Das Grund­stück blieb ein Pri­vat­grund­stück, das irgend­wem gehör­te. War­um es nicht bebaut wur­de, weiß ich nicht. So lag es über Jahr­zehn­te brach. Ab und zu wur­de der Rand­strei­fen von der Gemein­de gemäht. Vor ein paar Jah­ren gab es eine Bau­stel­le, ein Teil des Grund­stücks wur­de genutzt, um Bau­ma­te­ri­al zu lagern. Im Gro­ßen und Gan­zen blieb aber alles so, und wucher­te weiter.

Ein klei­ner Tram­pel­pfad führ­te durch das Wäld­chen. Wild aus­ge­sät hat­ten sich nicht nur Hasel­nüs­se, son­dern auch Mira­bel­len, Pflau­men, Bir­nen, und – ich sag­te es schon – Brom­bee­ren. Alles gut gedüngt durch Grün­schnitt der Anwohner*innen. Aus einem aus­ge­setz­ten Weih­nachts­baum (nicht von uns) wur­de eine statt­li­che Tan­ne. Und Sicht- und Lärm­schutz zur Schu­le, zur Bahn­li­nie, zur Stra­ße bot die­ses Grund­stück auch.

Letz­te Woche dann eine klei­ne Notiz in den Gun­del­fin­ger Nach­rich­ten – das Land­rats­amt wird Bäu­me fäl­len, um Con­tai­ner für die Schul­sa­nie­rung aufzustellen.

Rodung, Gundelfingen

Ich hat­te damit gerech­net, dass das ähn­lich sein wird wie vor ein paar Jah­ren, beim Baum eines der vie­len Anbau­ten für das Schul­zen­trum. Damals – auf dem Goog­le-Satel­li­ten­fo­to gut zu sehen – wur­de etwa ein Drit­tel dafür genutzt. Aber nein: erst wur­de gemäht, dann fuhr ein Robo­ter­schaf durchs Unter­holz, und ges­tern früh Motor­sä­gen­ge­räu­sche. In nicht mal einem Tag wur­den unzäh­li­ge Bäu­me gefällt, man­che davon mit 30, 40 oder mehr cm Durch­mes­ser. Ein Trak­tor mit Greif­arm, ein Mann mit Ket­ten­sä­ge – und aus dem wil­den Grund­stück wur­de ein lee­re Flä­che, am Rand ein rie­si­ger Hau­fen Stäm­me und Äste. Ein ein­zi­ger Nuss­baum ganz in der Ecke des Grund­stücks durf­te stehenbleiben.

Ich ver­ste­he, dass eine Sanie­rung Platz für Con­tai­ner braucht, und abs­trakt betrach­tet eig­net sich die Flä­che dafür sicher­lich. Trotz­dem bin ich trau­rig dar­über, dass die­ser über Jahr­zehn­te gewach­se­ne klei­ne Wald jetzt Geschich­te ist. Gun­del­fin­gen hat lei­der kei­ne Baum­schutz­sat­zung. Ob die in dem Fall etwas gehol­fen hät­te, weiß ich nicht. Viel­leicht wäre es bei einer ande­ren Pla­nung mög­lich gewe­sen, ein­zel­ne Bäu­me zu erhal­ten. Con­tai­ner­klas­sen zwi­schen Bäu­men statt Schach­tel­sta­pel. Aber: zu spät.

Die Schu­le ist ein Kreis­gym­na­si­um, inso­fern war das Land­rats­amt und nicht die Gemein­de zustän­dig. For­mal haben wir mit dem Grund­stück direkt vor unse­rer Haus­tür nichts zu tun. Trotz­dem hät­te ich mich gefreut, wenn wir Anwohner*innen vor­ab infor­miert wor­den wären, was da pas­siert, statt macht­los mit anzu­se­hen, wie nach und nach Baum um Baum und Hecke um Hecke abge­holzt werden.

Ereignis statt Struktur

Demo gegen rechts - 03.02.2024 - Freiburg

Schon wie­der ein Demo­tag, in Frei­burg bis zu 40.000 Men­schen auf der Stra­ße, ein Bünd­nis von 400 Orga­ni­sa­tio­nen. Und das ist nur Frei­burg. Großartig! 

Trotz­dem bei der Demo – die orga-mäßig, wenn ich das rich­tig sehe, mas­siv auf die Infra­struk­tur vor Fri­days for Future zurück­griff, in ande­ren Orten Par­tei­en oder Gewerk­schaf­ten – das Gefühl, dass es ein Risi­ko gibt, dass die­ses Bünd­nis, das jetzt ein Zei­chen gegen die AfD, gegen Ras­sis­mus, gegen Aus­gren­zung, für Viel­falt und Demo­kra­tie setzt, fra­gil ist. Und dass es kei­ne gute Idee wäre, jetzt mas­siv Ener­gie dafür ein­zu­set­zen, aus dem Ereig­nis der mög­li­cher­wei­sen größ­ten Demons­tra­tio­nen der deut­schen Geschich­te eine Struk­tur zu machen. 

Wir – die wache Zivil­ge­sell­schaft – haben gezeigt, dass wir im Zwei­fel da sind. Wir sind in der Lage, in kür­zes­ter Zeit mit vie­len, vie­len Men­schen auf die Stra­ße zu gehen und damit Poli­tik und öffent­li­che Mei­nung zu beein­flus­sen. Das ist extrem wich­tig – und das wird gese­hen, so jeden­falls mei­ne Innen­per­spek­ti­ve aus grü­ner Par­tei und Fraktion.

Wich­ti­ger als die nächs­te Demo, bei der dann sofort die Fra­ge gestellt wird, ob’s dies­mal noch mehr Men­schen waren, oder ob die „Bewe­gung“ schon wie­der ein­schläft, ist es, die­se Ener­gie jetzt in die exis­tie­ren­den Struk­tu­ren zu gießen.

Das sind Par­tei­en und Gewerk­schaf­ten, Initia­ti­ven und Ver­bän­de. All die gibt es. All die ste­hen für Demo­kra­tie – in den müh­sa­men Ebe­nen des All­tags. Und all die­se Ein­rich­tun­gen brau­chen Men­schen, die mit­ma­chen, die sich ein­brin­gen, die dabei sind. Und die die­se Hal­tung auch in ihr per­sön­li­ches Umfeld tra­gen. Die wider­spre­chen und ihre Mei­nung sagen.

Ereig­nis und Struk­tur ist eine der Grund­un­ter­schei­dun­gen der Sozio­lo­gie. Etwas, das regel­mä­ßig pas­siert, das dann sei­ne eige­nen Regeln aus­bil­det, Erwar­tun­gen bün­delt und Prak­ti­ken begrün­det, das ist eine Struk­tur. Und ohne Struk­tu­ren wür­de nichts funk­tio­nie­ren. Aus einem Ereig­nis, einem ein­ma­li­gen und neu­en Ding, eine Struk­tur zu machen, kos­tet Kraft. Was als Bünd­nis für den Moment funk­tio­niert, zeigt bei jeder Struk­tur­bil­dung sofort Flieh­kräf­te, führt zu Aus­ein­an­der­set­zun­gen über den rich­ti­gen Weg, über das „das machen wir so“. Und Auf­merk­sam­keit gibt es für das Ereig­nis, nicht für die dau­er­haf­te Anstrengung.

Das Signal ist da und so stark, wie es nur sein kann. Ich hof­fe, es ist ange­kom­men und hilft, die gesell­schaft­li­che Mit­te nach links zu ver­schie­ben. Im Wech­sel­spiel aus Ereig­nis und Struk­tur bewegt sich etwas. Das ein­ma­li­ge Ereig­nis mit den Groß­de­mos die­ser Tage – und die müh­sa­me All­tags­ar­beit in Par­tei­en, Initia­ti­ven, Ver­bän­den. Zusam­men bringt das was, zusam­men ver­än­dert das was. Des­we­gen: groß­ar­tig, dass es die­se Demos gab – aber lasst uns jetzt den Modus wechseln. 

Eine Million Menschen gegen Rechts – eine Million Menschen für Demokratie und Rechte

Es ist gar nicht so ein­fach, den Über­blick zu behal­ten bei den vie­len Demos an die­sem Wochen­en­de – mit Rekord­zah­len in Mün­chen, Ham­burg und Ber­lin, Aktio­nen in ganz vie­len Städ­ten und her­vor­ra­gen­der Betei­li­gung auch in Ost­deutsch­land. Heu­te in Frei­burg (bei der drit­ten Demo in Fol­ge) waren es wohl 25.000 bis 30.000 – aus der Men­ge her­aus ein­fach vie­le. Ein paar weni­ge Par­tei­fah­nen, vor allem aber eine Viel­zahl krea­ti­ver Plakate. 

Eine genaue Zahl ken­ne ich nicht, es ist aber nicht über­trie­ben, fest­zu­hal­ten, dass in die­sen Tagen deutsch­land­weit mehr als eine Mil­li­on Men­schen auf die Stra­ßen und Plät­ze gegan­gen sind. Und die Bot­schaft ist über­all die­sel­be: wir ver­tei­di­gen unse­re Demo­kra­tie. Die AfD spricht nicht für die Mehr­heit. Deutsch­land ist bunt, viel­fäl­tig und weltoffen.

Ich hof­fe, dass die­ses Signal ankommt. In der Bun­des­re­gie­rung, in den Län­dern, in den Medi­en. Der Pro­test gegen Rechts ist laut. Er wird von „ganz nor­ma­len Men­schen“ getra­gen. Und er rich­tet sich gegen die AfD – aber auch gegen die­je­ni­gen, die glau­ben, es wür­de gegen die Bedro­hung von rechts hel­fen, nach rechts zu rut­schen. Das ist das Signal die­ser Tage. Und es wird mit der Erwar­tung ver­bun­den, dass „die Poli­tik“ dar­auf reagiert.

Erz­kon­ser­va­ti­ve froh­lock­ten in den letz­ten Wochen und Mona­ten, dass die „kul­tu­rel­le Hege­mo­nie“ für grü­ne Ideen gebro­chen sei, dass es eine Chan­ce gibt, end­lich Kohls geis­tig-mora­li­sche Wen­de umzu­set­zen. Wenn in CDU-Pro­gram­men von Leit­kul­tur und einer Abschaf­fung des Asyl­rechts die Rede ist, dann setzt das in vor­aus­ei­len­dem Gehor­sam die­sen pro­pa­gier­ten Hege­mo­nie-Wech­sel um.

Mal abge­se­hen davon, dass ein pro­gres­si­ver, an Kli­ma­schutz, Respekt und Mensch­lich­keit ori­en­tier­ter Zeit­geist nie par­tei­po­li­tisch grün war, sind die­se Demos für mich auch ein Zei­chen dafür, dass sehr vie­le Men­schen mit einem Rechts­ruck nicht ein­ver­stan­den sind. Die rech­te Sei­te des poli­ti­schen Spek­trums freut sich mög­li­cher­wei­se zu früh.

Zei­gen wer­den das letzt­end­lich erst die Wah­len im Juni und in der zwei­ten Hälf­te des Jah­res. Wenn wir Glück haben, erle­ben wir gera­de einen Kipp­punkt, ein deut­li­ches „bis hier­her und nicht weiter“.

Viel­leicht bin ich zu opti­mis­tisch. Doch mehr als eine Mil­li­on Men­schen auf der Stra­ße: das macht Mut und lässt sich nicht ein­fach ignorieren.

Zeit, die Demokratie zu verteidigen

Manch­mal ist es ein Kie­sel­stein, der etwas ins Rol­len bringt. Die Recher­che von Cor­rec­tiv ist – und das ist jetzt nicht abwer­tend gemeint – genau so ein Kie­sel­stein. Dass die AfD sich in den letz­ten Jah­ren stark radi­ka­li­siert hat, dass sie Depor­ta­tio­nen plant und allen Rech­te ent­zie­hen will, die nicht in ihr Welt­bild pas­sen, ist nicht neu. Aber jetzt ist es bekannt. Jetzt ist es in der Welt. 

Die­ser Kie­sel­stein hat etwas in Bewe­gung gesetzt. Zwar gibt es – rechts der Mit­te – Ver­su­che, in das Mus­ter von „wir stel­len die AfD, indem wie sie kopie­ren“ zu ver­fal­len. Ganz über­wie­gend aber: erschre­cken, ein Ernst­neh­men der Bedro­hung, die die­se Par­tei für unse­re Demo­kra­tie, unse­re Wer­te, unse­re Frei­heit und unse­ren Wohl­stand dar­stellt. Das ist eine abs­trak­te Bedro­hung, aber es ist auch eine ganz kon­kre­te Gefahr – für alle, die nicht ins Bild der AfD pas­sen, auf­grund von Her­kunft, Haupt­far­be oder „fal­schem“ Gedankengut. 

In die­sem Moment des Schre­ckens, des Rea­li­sie­rens, dass es denen wirk­lich ernst ist, und dass Umfra­ge­wer­te von 20 bis 30 Pro­zent viel­leicht die letz­te Gele­gen­heit bie­ten, dem Rechts­ruck etwas ent­ge­gen­zu­set­zen, liegt auch etwas Posi­ti­ves. Ich bin sicher nicht der ein­zi­ge, der auf einen, nun ja, „Auf­stand der Anstän­di­gen“ gewar­tet hat. Der fin­det jetzt statt. Bun­des­weit gibt es Demons­tra­tio­nen und fin­den sich Bünd­nis­se für die Ver­tei­di­gung der Demo­kra­tie. In kur­zer Zeit sind sehr vie­le Men­schen auf die Stra­ße gegan­gen, 10.000 in Pots­dam, 25.000 in Ber­lin, 30.000 in Köln. Das sind viel mehr als bei den Trak­to­ren­pro­tes­ten der Landwirt*innen. Und die Lis­te der Demos für das nächs­te Wochen­en­de ist lang (ich wer­de am Sonn­tag bei der Demo in Frei­burg dabei sein, 15 Uhr, Platz der Alten Synagoge). 

Und auch die Medi­en haben end­lich gemerkt, dass das kein Spiel ist. Hof­fe ich jedenfalls. 

Die­ser Moment ist auch der rich­ti­ge, um zu schau­en, wie wehr­haft unse­re Demo­kra­tie ist. Damit mei­ne ich nicht nur die Debat­ten um ein Par­tei­ver­bots­ver­fah­ren und ähn­li­che recht­li­che Instru­men­te, son­dern vor allem das Hin­se­hen, ob die Regeln, die wir uns selbst in Ver­fas­sun­gen, Geset­zen und Geschäfts­ord­nung gege­ben haben, geeig­net sind, um Rechts­extre­me außen vor zu halt und die­sen kei­nen Hebel zu geben, unser Land zu zerstören. 

Zu die­sen Fra­gen, wie wet­ter­fest unse­rer Demo­kra­tie ist, gehört auch das The­ma Social Media. Der Digi­tal Ser­vices Act der EU und die in der Fol­ge erlas­se­nen natio­na­len Gesetz­ge­bun­gen haben auch die Auf­ga­be, „Sorg­falts­pflich­ten für Anbie­ter von Ver­mitt­lungs­diens­ten im Hin­blick auf die Art und Wei­se, wie jene gegen rechts­wid­ri­ge Inhal­te, Online-Des­in­for­ma­ti­on oder ande­re gesell­schaft­li­che Risi­ken [vor­ge­hen]“, zu schaf­fen. Das passt m.E. nicht zu Algo­rith­men bei You­tube und Tik­tok, die hau­fen­wei­se AfD-Pro­pa­gan­da hoch­spie­len. Wie scharf oder stumpf die­ses Schwert ist, bleibt abzu­war­ten – jeden­falls gibt es hier Handlungsbedarf.

Es ist jetzt an uns allen, die­ses Momen­tum auf­recht zu erhal­ten. Die inter­na­tio­na­le Lage ist düs­ter. Die Ver­tei­di­gung der Demo­kra­tie ist kein Selbst­läu­fer. Sie braucht uns. Aber genau­so gilt, jetzt nicht in Fata­lis­mus zu ver­fal­len. Noch kann etwas gegen die Macht­er­grei­fung getan wer­den, von der die AfD träumt. Tun wir es! 

Mehr so meh

Freiburg before Christmas

Im Rück­blick ist 2023 defi­ni­tiv kein beson­ders gelun­ge­nes Jahr, „meh“ trifft es ganz gut. 

Also, pri­vat war soweit alles ok, ich habe mich nach mehr als einem Jahr­zehnt Arbeit in der Frak­ti­on end­lich mal drum geküm­mert, eine Woh­nung in der Nähe von Stutt­gart – in Ess­lin­gen – zu fin­den (und bin jetzt auch mit dem gan­zen Umzie­hen, Ent­rüm­peln, Strei­chen, Woh­nungs­über­ge­ben fer­tig). Gleich­zei­tig brin­ge ich mich inten­si­ver in die Orts­po­li­tik hier in Gun­del­fin­gen ein. Die Kin­der gedei­hen und wer­den groß, den Kat­zen geht’s gut. Das Sci­ence-Fic­tion-Jahr war inter­es­sant und unter­halt­sam. Coro­na (nach drei Jah­ren ohne) hät­te mich jetzt nicht erwi­schen müssen. 

Je wei­ter raus­ge­zoomt wird, des­to ner­vi­ger erscheint mir 2023. Bür­ger­ent­scheid zur Stra­ßen­bahn ver­lo­ren. Mei­ne Par­tei wird im Land und Bund von allen Sei­ten ange­fein­det. Die Ampel-Regie­rung schlit­tert mehr so dahin, über­zeugt jeden­falls nicht. Die AfD glaubt, sie sei die Wie­der­ge­burt einer natio­na­len Volks­par­tei, die Bau­ern und Bäue­rin­nen grei­fen zu Pro­test­for­men aus den 1920er Jah­ren (und ima­gi­nie­ren sich in den Bau­ern­krieg zurück). Die Bun­des-CDU zer­schmet­tert mal eben die Grund­la­ge für Inves­ti­tio­nen und will von einer Reform der Schul­den­brem­se nichts wis­sen. Und die Lan­des-CDU wäre eigent­lich lie­ber kraft­vol­le Oppo­si­ti­on statt Regie­rungs­part­ner (naja, noch lie­ber wür­de sie den Minis­ter­prä­si­den­ten stel­len …). Alles eher Gegen­wind, alles nichts, was Freu­de berei­tet. Und von der Ukrai­ne oder Isra­el, von der Dik­ta­tur in Russ­land oder der gefähr­de­ten Demo­kra­tie in den USA oder von den dies­jäh­ri­gen Kli­ma­ex­tre­men rede ich erst gar nicht.

Über die­se all­ge­mein schwie­ri­ge Lage las­sen sich dann leicht die Pflan­zen der Hoff­nung über­se­hen, die kräf­tig wach­sen. Der Atom­aus­stieg hat nicht zum Koh­le­re­vi­val geführt, son­dern den Weg für Wind­strom frei­ge­macht. Die Aus­bau­zie­le bei Pho­to­vol­ta­ik wer­den 2023 über­erfüllt. Da bewegt sich viel, im Moment wirkt es jeden­falls so, als wäre allein auf­grund der Wirt­schaft­lich­keit die Wei­che gestellt für eine rapi­de grü­ner wer­den­de Ener­gie aus erneu­er­ba­ren Quel­len und mit Bat­te­rie­spei­chern. Und auch das Deutsch­land­ti­cket ist ein rich­tig gro­ßer Reform­schritt (über die Bahn und deren Infra­struk­tur reden wir jetzt lie­ber nicht). Oder, inter­na­tio­nal betrach­tet: der Sieg der demo­kra­ti­schen Kräf­te in Polen – auch das gibt Hoffnung. 

Wir haben 2023 gelernt, dass Musk ein fie­ser Typ ist, dass die Hal­tung zu Isra­el und Paläs­ti­na zwi­schen der inter­na­tio­na­len und der deut­schen Lin­ken (inkl. Kli­ma­be­we­gung) sehr unter­schied­lich ist, dass Merz zurück in die 1990er, 1980er oder 1950er möch­te und dass linea­res Fern­se­hen weit­ge­hend tot ist. Cory Doc­to­row hat den Begriff „ens­hi­ti­fi­ca­ti­on“ geprägt, um zu erklä­ren, war­um Inter­net­platt­for­men dazu nei­gen, nach eini­ger Zeit unbe­nutz­bar zu wer­den. Wie wir mit sozia­len Medi­en umge­hen wol­len, wis­sen wir auch 2023 noch nicht wirk­lich. Mast­o­don hat sich als net­te, ruhi­ge Ecke und tech­ni­sche Grund­la­gen­in­fra­struk­tur ent­puppt, die aber genau des­we­gen nicht hype-taug­lich ist. Ach ja: und 2023 war das Jahr, in der die dis­kur­si­ve Leit­tech­no­lo­gie „KI“ hieß. Einer­seits, weil ChatGPT & Co. tat­säch­lich ein­drucks­voll gezeigt haben, dass sie plau­si­bel wir­ken­de Tex­te und Bil­der gene­rie­ren kön­nen (als ob …), ande­rer­seits, weil über­all, wo letz­tes Jahr „Block­chain“ dran­ge­schrie­ben wur­de, jetzt „KI“ dran­steht. Und damit ist dann nicht immer ein LLM oder ähn­li­ches gemeint, son­dern manch­mal ein ganz schlich­ter Algorithmus. 

Pro­gno­se für 2024: der KI-Hype wird abflau­en, weil das mit dem Geld­ver­die­nen nicht so rich­tig klappt. Vor­her aber wird er wei­ter dazu bei­tra­gen, Such­ergeb­nis­se unbrauch­bar zu machen und die Welt mit den typi­schen super­po­si­ti­ven Fünf­satz­ab­sät­zen zu über­flu­ten. Auch 2024 wird nicht das Jahr, in dem Vir­tu­el­le Rea­li­tät oder auto­nom fah­ren­de Autos ihren Durch­bruch fei­ern wer­den (sie­he auch: Musk als fie­ser Typ, sie­he auch: schum­meln). Die Kom­mu­nal- und Euro­pa­wahl im Juni 2024 wird nicht groß­ar­tig, aber ok. Die Ampel wird trotz FDP-Mit­glie­der­be­fra­gung wei­ter­ma­chen. Die Land­tags­wah­len im Osten wer­den kata­stro­phal aus­ge­hen, wenn nicht vor­her noch was pas­siert. Eine Pro­gno­se dazu, wie es in den USA wei­ter­geht, wage ich nicht. Und Viren, der Kli­ma­wan­del und ähn­li­che Din­ge machen das, was sie auch in den letz­ten Jah­ren getan haben: sie fol­gen Natur­ge­set­zen und nicht dis­kur­si­ven Hochs und Tiefs. Was lei­der kei­ne gute Nach­richt ist. 

Sina Trink­wal­der spricht von den Geburts­we­hen eines neu­en Zeit­al­ters. Hof­fen wir, dass das eine zutref­fen­de Beschrei­bung unse­rer Zeit ist.