Der grüne Kreisverband Freiburg hat sein Mitgliedermagazin Grün in Freiburg von Print auf online umgestellt und mich gebeten, für die zukünftig regelmäßig geplante Rubrik „Sag’s den Grünen“ den Auftakt zu machen. Geschrieben habe ich – noch im August, vor der Aufregung um eine unhygienische Großdemo in Berlin – etwas dazu, wie wir Grüne uns verhalten hätten, wenn die Corona-Pandemie vor 30 Jahren stattgefunden hätte? (Ja, es geht um die Frage der Orientierung an Wissenschaftlichkeit und Fakten …). Aber auch jenseits davon ist die erste Online-Ausgabe von Grün in Freiburg recht interessant geworden.
… sich zu radikalisieren
Anlässe, sich zu radikalisieren, gäbe es einige.
Die Klimakrise ist eine existenzielle Bedrohung. Ganz ähnlich sieht es mit dem Artensterben aus. Hier weitreichende Forderungen zu erheben und wenig Spielraum für Kompromisse zu sehen – so würde ich eine radikale politische Haltung im Sinne Habecks „radikal und realistisch“ beschreiben – erscheint mir sehr nachvollziehbar. (Und natürlich lässt sich das herunterbrechen auf lokale Anlässe, Wälder, die abgeholzt werden sollen und dergleichen mehr.)
„… sich zu radikalisieren“ weiterlesen
Zeit des Virus, Update VI
Im Juni hatte ich ja davon berichtet, eine Ferienwohnung an der Nordsee gebucht zu haben. So ganz wohl war mir nicht dabei, aber letztlich haben wir trotz Corona-Krise Urlaub am Meer gemacht. Konkret waren das lange Bahnfahrten in recht leeren Zügen, teilweise in der ersten Klasse, in der ich sonst nicht fahre, die aber nochmal etwas mehr Abstand und etwas weniger Leute bietet. Erfahrungen mit dem Maskentragen: ja, so eine Maske nervt natürlich, aber sie lässt sich auch für acht Stunden Zugfahrt tragen, und meine sonst gerne mal rebellischen Kinder hatten auch kein Problem damit, sondern fragten höflich, ob es ok sei, die Maske abzusetzen, um etwas zu essen oder zu trinken. Es gab allerdings immer auch – einige wenige – Mitfahrer*innen, die ihre Nase aus der Maske raushängen ließen. In einigen Zügen gab es Durchsagen und auch deutliche direkte Ansprachen des Zugpersonals, in anderen wirkten die Zugbegleiter*innen eher überfordert und erwähnten die Maskenpflicht noch nicht einmal bei den Ansagen.
Wir sind mehrfach von Norddeich nach Norderney mit der Fähre gefahren – bei frischer Luft auf dem Deck, und trotzdem deutlichen Hinweisen am Eingang und per Lautsprecher auf Maskenpflicht und Abstandsgebote. Ebenso schienen mir die Restaurants einen recht routinierten Umgang damit gefunden zu haben – „sie werden platziert“, Desinfektionsmittel, Maskenpflicht in den Gängen und viele Plätze im Freien. In den Souvenierläden etc. war es eher Glückssache, ob die Verkäufer*innen Maske trugen (oder sich durch Plexisglasschilde geschützt fühlten, oder ob es keins von beiden gab), und auch im Waloseum gab es zwar deutliche Hinweise (nur eine Familie pro Raum, Maskenpflicht, …), aber kaum Kontrollen dieser Vorschriften und viele Exponate zum Anfassen. Hm.
Relativ viele Angebote waren geschlossen – beispielsweise der Indoor-Kinderspielplatz, den es in Norddeich eigentlich geben sollte, diverse Leuchttürme etc. oder im Museum das Cafe. Am Strand wurde darum gebeten, Strandkörbe nicht zu verschieben und Abstand zu halten; Masken wurden hier allerdings nur an den Kiosken getragen, eine Aufsicht, Erfassung der Besucher*innen oder Kontrolle der Personenzahl gab es nicht. Allerdings waren die Strände auch nicht überfüllt, so dass hier problemlos Abstand zwischen einzelnen Familien war.
Letztlich waren wir – von einzelnen Zugfahrten, Laden- und Museumsbesuchen abgesehen – fast die ganze Zeit entweder in der Ferienwohnung oder an der frischen Luft. Insofern hoffe ich, dass mein Risikoeindruck mich nicht täuscht und das insgesamt akzeptabel war.
Trotzdem blicke ich mit Sorge auf die inzwischen wieder schnell steigenden Fallzahlen und bin froh, wieder zuhause zu sein. Das Gedächtnis der Menschen scheint kurz zu sein; der Weg hin zu einem effektiven Impfschutz ist noch weit. Bis dahin scheinen mir Masketragen und Abstandhalten sowie der Verzicht auf unnötige Menschenansammlungen weiter sinnvoll zu sein. Auch wenn es ungerecht ist, halte ich in diesem Sinne auch die Tests bei Reiserückkehrer*innen aus Risikogebieten für eine sinnvolle Sache.
In Baden-Württemberg sind noch bis Anfang September Schulferien. Danach kommt der Herbst, und (wie im Juni schon geschrieben) auch die Schule läuft dann wieder an. Laut Kultusministerium soll der Fokus auf dem „Kerncurriculum“ liegen, schulspezifische Ergänzungen oder AGs werden als „kann wegfallen“ betrachtet. Bisher ist dafür ein weitgehend „normaler“ Präsenzbetrieb geplant. Nach jetzigem Stand soll es eine Maskenpflicht nur außerhalb des Unterrichts geben. Ob das so bleibt, bin ich skeptisch – und ich hoffe weiterhin, dass unabhängig von den Weisungen der Kultusministerin alle Schulen sich intensiv auf einen Plan B vorbereiten, bei dem größere Teil des Schulbetriebs im Distanzunterricht stattfinden werden. Selbst wenn wir im September nicht mitten in einer zweiten Welle mit Ausgangsbeschränkungen liegen, wird es einzelne Klassen und Schulen geben, die aufgrund von Coronafällen in Quarantäne gehen müssen, und es wird Kinder geben, die aufgrund von Vorerkrankungen oder aus Sorge der Eltern vom Präsenzunterricht abgemeldet sind. Auch diese müssen erreicht werden. An vielen Schulen hat sich dafür in den letzten Wochen des letzten Schulhalbjahrs eine gute Praxis entwickelt. „Never change a running system“ heißt auch, dann nicht mitten in der Pandemie auf neue Software umzusteigen, wie es Frau Eisenmann wohl plant. Bildungspolitisch wird es jedenfalls zunehmend heiß im Land.
Und etwas weiter in die Zukunft geblickt, stehen dann Landes- und Bundesparteitage an. Aktuell sind solche Veranstaltungen mit Hygienekonzepten und Abstandsgeboten möglich. Ob das im Spätherbst immer noch der Fall sein wird, ist die eine Frage – ob es sinnvoll ist, sich mit ein paar hundert Delegierten in einer Halle zu versammeln, um über Programme und Personen zu befinden, die andere. (Die Aufstellungsversammlungen zur Landtagswahl im Wahlkreis Freiburg liefen mit viel Abstand im Biergarten – das ist aber leider nicht auf einen großen Parteitag im November übertragbar …).
Kurz: „… zu achten und zu schützen …“
Ein bisschen mitgefiebert habe ich dann doch, heute morgen, als in einer Pressekonferenz der Entwurf für das grüne Grundsatzprogramm vorgestellt wurde. Damit erreicht der seit Anfang 2018 laufende Prozess für die Erstellung eines neuen grünen Grundsatzprogramms seinen vorletzten Schritt, mit vielen Konventen, Diskussionsveranstaltungen, einem breiten Beteiligungsprozess im Netz, einem Impulspapier und einem „Zwischenbericht“. – Vorletzter Schritt, weil jetzt – ganz final erst nach einer weiteren Phase der Beteiligung im Netz – klar ist, über was auf dem Bundesparteitag im November diesen Jahres in Karlruhe abgestimmt werden kann. Und mitgefiebert habe ich, weil ich an der Urfassung, dem Zwischenbericht, mitwirken durfte.
Für eine Bewertung des Programms (58 Seiten, 383 nummerierte Absätze) ist es noch zu früh. Was ich nach der Pressekonferenz und dem ersten Durchblättern sagen kann, ist aber sehr positiv. Mit gefällt der Werteteil sehr gut, der aus einer anthropozentrischen Perspektive – der Mensch in seiner Freiheit und Würde – unser ökologisches und emanzipatorisches Programm herleitet. Natur- und Klimaschutz nicht als Selbstzweck, sondern um Freiheiten für alle heute und in Zukunft lebenden Menschen auf diesem Planeten zu erhalten. Das ist der richtige Ansatz. Ebenso wichtig finde ich, dass an der Orientierung an planetaren Grenzen als harten Leitplanken für Politik festgehalten wurde, und dass zentrale Projekte eines grünen Zukunftsentwurfs sich im Programm wiederfinden – etwa die Idee einer Föderalen Republik Europa. Und nicht zuletzt gefällt mir, dass dieses Programm Fortschritt gegenüber offen ist, die Bedeutung von Wissenschaft und Technik würdigt und dabei eine gute Balance aus kritischer Begleitung und Freiheit findet. Neu hinzugekommen ist aufgrund der Corona-Krise ein Fokus auf Resilienz und Krisenfestigkeit; auch das über den Tag hinaus eine gute programmatische Ergänzung.
Das als allererster Blick in diesen frischen und nach vorne weisenden Programmentwurf. Ich bin gespannt auf die weiteren Diskussionen in der Partei – und darauf, wie dieser Entwurf die November-BDK übersteht.
Zeit des Virus, Update V
Was hat sich geändert seit meinem letzten Update Anfang Mai? Einiges ist gleich geblieben – ich arbeite nach wie vor im Home-Office, und die Tage sind trotz allem nach wie vor gut gefüllt. Nach wie vor gilt beim Einkauf und im ÖPNV eine Maskenpflicht, und draußen ein Abstandsgebot, auch wenn sich nicht alle daran halten.
Mehr oder weniger verschwunden sind die Corona-Demos – möglicherweise auch deswegen, weil mit bis vor kurzem schnell sinkenden Infektionszahlen recht große Lockerungsschritte umgesetzt wurden. Es ist wieder möglich, sich mit mehreren Personen zu treffen, Sporteinrichtungen und Schwimmbäder dürfen unter bestimmten Umständen aufmachen, die ersten Theater- und Kinovorführungen mit stark reduzierter Sitzzahl finden statt, und es ist in Aussicht gestellt, dass auch größere Veranstaltungen bald wieder stattfinden können, solange es sich dabei nicht um feucht-fröhliche Volksfeste handelt. Ach ja, und die Schulen – aber dazu gleich.
Insgesamt hat sich die Stimmung verschoben. Das Virus wird längst nicht mehr so ernst genommen. Auch wenn es nicht so gut gelungen ist wie in Neuseeland, so scheint Deutschland doch über den Berg zu sein. Es gibt zwar nach wie vor keinen Impfstoff, aber aktuell – das ist doch fast schon wieder ein Zustand wie vor dem Ausbruch der Pandemie. Das scheint mir jedenfalls die in vielen Köpfen vorherrschende Meinung zu sein. Dass Masken dann nicht mehr so gern getragen werden, dass auf das neu gelernte regelmäßige Händewaschen schnell mal verzichtet wird … das verwundert dann auch nicht. Und selbst diejenigen, die mit einer zweiten Welle rechnen, nehmen die Zeit jetzt als Pause zwischen den Ausbrüchen wahr.
Ein bisschen geht es mir auch so. Wobei vieles ungewiss ist. Ich habe jetzt für den August eine Ferienwohnung an der Nordsee gebucht – mit dem etwas flauen Gefühl, dass es eigentlich völlig unklar ist, ob im August lange Zugfahrten und Urlaube möglich sind, oder eher nicht. Also mit einem schlechten Gefühl. Gleichzeitig war jetzt schon vieles ausgebucht.
Mehr oder weniger durch? Dann kam Tönnies, dann kam Berlin-Neukölln, dann kam Göttingen – jeweils mit mehr oder weniger isolierten Ausbrüchen, die aber doch zeigen, wie schnell die Infektionszahlen wieder hochgehen können. Was mich irritiert: eigentlich müsste zumindest im Fall Tönnies längst die lokale Lockdown-Regelung greifen. Die Ministerpräsidentenkonferenz hatte dazu einen Wert von 50 Infektionen / sieben Tage festgelegt – der ist deutlich überschritten. Und auch wenn das Infektionsgeschehen alle meine Urteile über Schlachthöfe bestätigt, so würde es mich doch extrem wundern, wenn die hunderte infizierten Beschäftigten das Virus in der Schlachtfabrik gelassen hätten und nicht mit nach Hause, in Schulen, Vereine und Gottesdienste mitgenommen und weiter verbreitet hätten. (Ich würde ja fast dazu raten, einfach mal alle Schlachtfabriken für zwei Wochen zu schließen – wohl wissend, dass dahinter agrarindustrielle Wertschöpfungsketten stecken, die bis zur „Tierproduktion“ reichen …)
Deutlich macht das jedenfalls: das Wiederaufflammen des Virus kann schnell gehen. Dann wird sich zeigen, ob die Corona-Warn-App (und die Digitalisierung der Dateneingabe in den Gesundheitsämtern) hilft, Infektionsketten schnell zu identifizieren und einzudämmen. Bisher bleibt die App – über zehn Millionen Mal heruntergeladen – wohl auch aufgrund geringer Fallzahlen grün, aber das muss nicht so bleiben. Apropos: dass diese App Open-Source ist, auf einem datenschutzfreundlichen dezentralen Protokoll aufsetzt, und dass es intensive Möglichkeiten zu Feedback in der Entwicklungen gegeben hat, ist doch ganz beachtlich. Vielleicht ein Vorbild für weitere Softwareprojekte der öffentlichen Hand.
Ach ja, die Schulen. Die bringen mit einer Teilöffnung Bewegung in den Tagesablauf. Die sechs Wochen bis zu den baden-württembergischen Sommerferien finden im rollierenden Präsenzunterricht statt, d.h., um Abstandsregeln einzuhalten, ist jeweils die Hälfte der Kinder eine Woche in der Schule, die andere eine Woche zu Hause; bei den „Präsenzkindern“ gibt es noch dazu Früh- und Spätschichten. Effektiv sind es dann gerade mal vier Unterrichtsstunden pro Tag Anwesenheit in der Schule; der Fokus liegt auf den Hauptfächern. In der Fernunterrichtswoche gibt es dagegen Nebenfachunterricht auf Moodle (was insofern ein bisschen schade ist, als gerade Fächer wie Biologie, Physik und Chemie vom experimentellen Machen leben). Ob dieses Hin und Her zwischen Präsenz und Fernunterricht letztlich mehr bringt als der zunehmend intensiver betreute Distanzunterricht per Moodle, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall führt er dazu, dass wir wieder früher aufstehen müssen – meine Kinder haben den Unterrichtsbeginn um 8.00 Uhr erwischt, mit entsprechendem Vorlauf. Hat jetzt, in diesen langen Sommertagen, auch positive Seiten. Und ob die Tatsache, dass das eine Kind in den A‑Wochen, und das andere in den B‑Wochen in die Schule geht, eher ein Vor- oder ein Nachteil ist, ist mir ebenfalls noch nicht ganz klar. (Nachteil: jede Woche an den Kindertagen früh aufstehen, Vorteil: das jeweils andere Kind hat dann zu Hause während der verkürzten Schulzeit seine Ruhe …).
Nach den Sommerferien soll es dann, heißt es, möglicherweise wieder vollen Präsenzunterricht ohne Abstandsgebote geben. Ich glaube noch nicht ganz daran – und hoffe, dass die Kultusbürokratie und die Schulen die Sommerferien auch dazu nutzen, einen Plan B aufzustellen, der systematisch und pädagogisch sinnvoll 50 bis 100 Prozent Distanzlernen auf eine kluge Grundlage stellt. Ja, auch wenn dann nicht kontrolliert werden kann, ob Schülerin X oder Schüler Y wirklich jede Testaufgabe selbst gemacht hat – das wird ernsthaft als Argument für den Präsenzunterricht angeführt; als ob es bei Schule vor allem darum ginge, Lernstoff zu kontrollieren.
Möglicherweise wird es mit der Präsenz bei Kitas und Grundschulen anders aussehen – das ist jedenfalls eine Deutung der „Kinderstudie“ der baden-württembergischen Universitätskliniken. Die bezieht sich aber – unabhängig von allen aufgrund der Situation nicht anders möglichen Entscheidungen über das Forschungsdesign – nur auf Kinder bis zehn Jahre. Und Israel zeigt, dass eine Öffnung der Schulen durchaus auch Probleme nach sich zieht. Insofern befürchte ich, dass wir im September noch längst nicht wieder beim stinknormalen Präsenzunterricht landen werden – und hoffe gleichzeitig, dass der notgedrungene Digitalisierungsschub auch über „Corona“ hinaus etwas an der Unterrichtsgestaltung ändern wird.