Etwas bricht auf, oder: das Ende der Ära Merkel

Unexpected rainbow I

Ges­tern hat sich der 20. Deut­sche Bun­des­tag kon­sti­tu­iert, beglei­tet von vie­len Sel­fies und Grup­pen­fo­tos. Und selbst auf die­sen lässt sich erah­nen, dass hier etwas neu­es beginnt. Ins­be­son­de­re ist der Bun­des­tag deut­lich jün­ger und bun­ter gewor­den. Durch die nun grö­ße­ren quo­tier­ten Frak­tio­nen ist er auch etwas weib­li­cher. Es gibt eine Bun­des­tags­prä­si­den­tin, und auch vier der fünf Vizepräsident:innen sind Frauen. 

Noch ist kei­ne neue Regie­rung gewählt; die Regie­rung Mer­kel ist wei­ter geschäfts­füh­rend im Amt. Trotz­dem fühlt sich das jetzt sehr nach Auf­bruch und Neu­be­ginn an. Mit etwas Glück und Ver­hand­lungs­ge­schick kom­men die lau­fen­den Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen zwi­schen den Ampel­frak­tio­nen tat­säch­lich noch vor Weih­nach­ten zu einem erfolg­rei­chen Abschluss. Und dann wür­de nach 16 Jah­ren erst­mals wie­der eine Regie­rung ohne Uni­on das Land len­ken. Auf­ga­ben und Wün­sche gibt es viele. 

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Zeit des Virus, Update XI

View from Zähringen towards Wildtal

Seit Juli ist viel pas­siert. Zwi­schen­drin ver­ges­se ich manch­mal, dass es die Pan­de­mie noch gibt. Ich bin geimpft, eben­so mei­ne Fami­lie, auch die Teen­ager­kin­der. Gab jeweils ein, zwei Tage Neben­wir­kun­gen und Impf­re­ak­tio­nen. Und jetzt das gute Gefühl, zur 2G-Grup­pe zu gehören.

Einer­seits wird es all­mäh­lich wie­der nor­mal, dass es Off­line-Ver­an­stal­tun­gen gibt. Eine Frak­ti­ons­klau­sur mit 100 Men­schen, beglei­tet von Tests und Hygie­ne­kon­zep­ten. Eine Geburts­tags­fei­er. Land­schul­heim der Kin­der. Wahl­kampf­stän­de. Demons­tra­tio­nen. Ich schaue nicht mehr stän­dig auf die Inzi­den­zen. Die Coro­na-Ver­ord­nun­gen wur­den ange­passt, um statt der Inzi­denz auf die Hos­pi­ta­li­sie­rung zu ach­ten – ändert nicht wirk­lich etwas, ver­schiebt die Schwel­len und Grenz­wer­te nach oben. Die Kur­ven sehen nicht viel anders aus als letz­tes Jahr. Warn­ru­fe ver­hal­len. Im Mit­tel­punkt ste­hen die Unge­impf­ten. Es wird um die Fra­ge gestrit­ten, ob die pan­de­mi­sche Lage über­haupt noch gege­ben ist.

Ande­rer­seits: wei­ter Mas­ke tra­gen, beim Ein­kau­fen, vor allem aber in den vol­len Zügen und Stra­ßen­bah­nen. Hier in Frei­burg wird das auch ziem­lich kon­se­quent gemacht. Pan­de­mie der Unge­impf­ten – Erwach­se­ne und Teen­ager, die noch nicht geimpft sind, und nicht aus medi­zi­ni­schen Grün­den nicht impf­bar sind, sind irgend­wie selbst schuld. Es gibt kei­ne Impf­pflicht, und das Nud­ging mit bei­spiels­wei­se den jetzt anfal­len­den Test­kos­ten oder Zutritts­ver­bo­ten für Unge­impf­te wirkt nur bedingt, eben­so wie Impf­ak­tio­nen nur einen Teil errei­chen. Zumin­dest die, bei denen die feh­len­de Imp­fung an Bequem­lich­keit und Orga­ni­sa­ti­ons­fra­gen liegt, nicht an ideo­lo­gi­scher Ver­bohrt­heit. Trotz­dem scheint die Zahl der Geimpf­ten jetzt zu sta­gnie­ren. Sor­gen machen mir die Kin­der unter 12, für die es offi­zi­ell noch kei­ne Imp­fun­gen gibt. Trotz­dem soll auch hier gelo­ckert wer­den, soll etwa die Mas­ken­pflicht in der Schu­le teil­wei­se fal­len. Erleich­te­rung, klar – aber wie vie­le schwe­re Ver­läu­fe neh­men wir in Kauf, wie vie­le heu­te viel­leicht noch gar nicht abseh­ba­ren Lang­zeit­schä­den einer Virus­er­kran­kung, die wohl auch das Gehirn angreift?

Die stärks­te Erin­ne­rung dar­an, dass die Pan­de­mie noch nicht vor­bei ist, war para­do­xer­wei­se der Wahl­kampf­auf­tritt der „die­Ba­sis“ – auch wenn deren Hoff­nung, in den Bun­des­tag ein­zu­zie­hen, klar geschei­tert ist, waren sie hier in der Gegend doch sehr prä­sent. Mit kru­den Theo­rien und halt­lo­sen Vor­wür­fen auf Pla­ka­ten und an Wahl­kampf­stän­den. Zwei bis drei Pro­zent der Leu­te rund um Frei­burg haben die­se Quer­den­ker­par­tei gewählt. Ich befürch­te, dass es da durch­aus Reso­nan­zen bis tief in „grü­ne Milieus“ gege­ben hat, bis in den eige­nen Bekanntenkreis. 

Wech­sel in die glo­ba­le Vogel­per­spek­ti­ve – wir sind pri­vi­le­giert, was die Impf­stoff­ver­füg­bar­keit aus­sieht. In ande­ren Län­dern ist das teil­wei­se ganz anders. Das Coro­na­vi­rus wird auf abseh­ba­re Zeit blei­ben. Die Pan­de­mie auch? Das bleibt abzuwarten.

Abzu­war­ten bleibt auch, ob wir als Gesell­schaft lern­fä­hig sind. Die Coro­na-Kri­se hat eini­ges kata­ly­siert und her­vor­ge­ho­ben, hat Lücken – etwa bei der Digi­ta­li­sie­rung – und Schwä­chen – etwa hin­sicht­lich der Zugäng­lich­keit medi­zi­ni­scher Infor­ma­tio­nen in der Bevöl­ke­rung ‑sicht­bar gemacht. Ich bin mir ziem­lich sicher, dass die tech­no­lo­gi­schen Sprün­ge nicht in Ver­ges­sen­heit gera­ten – Video­kon­fe­ren­zen, oder auch mRNA als Impf­stoff­tech­nik. Wie es mit den stär­ker sozi­al fokus­sier­ten Ver­än­de­run­gen aus­sieht, wer­den wir sehen. Home-Office bei­spiels­wei­se, ein ver­än­der­tes Hygie­never­hal­ten mit Mas­ken in der Viren­sai­son und Hän­de­wa­schen. Hier befürch­te ich, dass die­se Erfah­run­gen schnell wie­der in Ver­ges­sen­heit gera­ten, wenn die Pan­de­mie denn als been­det erklärt wird und aus dem Gedächt­nis verschwindet.

Klimastreik und Klimawahl

#AlleFuersKlima Freiburg 24.09.2021

Dass in Deutsch­land mehr als eine hal­be Mil­li­on Men­schen – vie­le jun­ge Men­schen, aber auch vie­le Älte­re – ges­tern auf die Stra­ße gegan­gen sind, ist ermu­ti­gend. Zugleich macht es noch ein­mal deut­lich, das Timing des Kli­ma­streiks war kein Zufall, dass es bei der Wahl mor­gen um etwas geht. Kli­ma ist kein The­ma wie jedes ande­re, son­dern hat eine exis­ten­zi­el­le Dimen­si­on. Akti­en­kur­se, Arbeits­plät­ze oder auch nur der Park­platz fürs Auto: all das hängt an einer Vor­aus­set­zung, die wir Men­schen durch­aus beein­flus­sen kön­nen. Wer den Kli­ma­wan­del nicht ein­dämmt, wer kei­ne Lösung für die Kli­ma­kri­se angeht, zer­stört zukünf­ti­ge Frei­heit. Und jedes Stark­re­gen­er­eig­nis, jeder tro­cke­ne Som­mer macht deut­lich, dass die­se Zukunft schon hier ist, und dass die Kli­ma­kri­se nicht irgend­wo in der räum­li­chen oder zeit­li­chen Fer­ne ablau­fen wird, son­dern in unse­rem Wohnzimmer.

Das inhalt­li­che Spek­trum der Kli­ma­streiks ist weit gefasst. Zwi­schen „sys­tem chan­ge, not cli­ma­te chan­ge“ und „go vegan“ lie­gen Wel­ten. Gemein­sam ist all denen, die ges­tern auf die Stra­ße gegan­gen sind, dass das Han­deln der Poli­tik nicht als aus­rei­chend ange­se­hen wird.

Am Sonn­tag ist Wahl. Inzwi­schen dringt die umwelt­so­zi­al­wis­sen­schaft­lich alte Erkennt­nis ins Licht der Öffent­lich­keit, dass nach­hal­ti­ge Kon­sum­entschei­dun­gen, gar ein öko­lo­gisch ori­en­tier­ter Lebens­stil zwar indi­vi­du­ell erfreu­en mögen, und mit dem Gefühl ver­bun­den sind, etwas Gutes zu tun, aber dass der eigent­li­che Hebel eben nicht die Konsument*innen sind, son­dern die Infra­struk­tu­ren und Rah­men­be­din­gun­gen, unter denen wir leben, wirt­schaf­ten und arbei­ten. Der grö­ße­re Teil des „indi­vi­du­el­len Fuß­ab­drucks“ hängt davon ab, wie ein Land sei­ne Ver­kehrs- und Ener­gie­po­li­tik gestal­tet, wel­che Art von Wohn­raum ange­bo­ten wird, ob emis­si­ons­freie Mobi­li­tät ange­bo­ten wird und wie genau in der Land­wirt­schaft auf Treib­haus­gas­emis­sio­nen geach­tet wird.

Viel wich­ti­ger, ob der eige­ne Lebens­stil aus Steaks und Las­ten­rä­dern oder aus vege­ta­ri­schen Genüs­sen bei voll aus­ge­stat­te­ter 24/7‑Heimelektronik besteht, ist des­we­gen die Ent­schei­dung, die mor­gen ansteht. Denn wenn die Flos­kel von der Macht der Verbraucher*innen wahr ist, dann am Wahl­tag. Wer im Ange­sichts der exis­ten­zi­el­len Kli­ma­kri­se bes­ser regiert wer­den will, kann dafür mor­gen sei­ne Stim­me abge­ben und damit beein­flus­sen, wie die Infra­struk­tu­ren und poli­ti­schen Rah­men­be­din­gun­gen in Deutsch­land in den ent­schei­den­den nächs­ten Jah­ren aus­se­hen werden. 

Vie­le haben das schon getan. Wer noch unschlüs­sig ist, dem emp­feh­le ich, grün zu wäh­len. Nicht, weil unser Kli­ma­pro­gramm per­fekt ist, son­dern weil es – das jeden­falls das Ergeb­nis einer Stu­die des DIW im Auf­trag der Stif­tung Kli­ma­neu­tra­li­tät – am nächs­ten an das her­an­kommt, was not­wen­dig wäre, um auf den 1,5‑Grad-Pfad zu kom­men. Des­we­gen ist es wich­tig, dass der nächs­ten Bun­des­re­gie­rung star­ke Grü­ne ange­hö­ren. Und des­we­gen ist es wich­tig, kei­ne Kleinst­par­tei zu wäh­len und sich auch nicht auf tak­ti­sche Ver­äs­te­lun­gen ein­zu­las­sen. Wer Kli­ma­schutz, wer star­ke Grü­ne in der Regie­rung haben möch­te, muss grün wählen.

Gleich­zei­tig ist schon jetzt klar, dass das nicht rei­chen wird. Auch wenn das grü­ne Kli­ma­schutz­so­fort­pro­gramm in mög­li­chen Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen zu ein­hun­dert Pro­zent umge­setzt wür­de, reicht das nicht aus. Daher ist es umso wich­ti­ger, dass ges­tern noch ein­mal deut­lich gemacht wur­de, dass die jun­ge Gene­ra­ti­on – vie­le, die noch nicht wahl­be­rech­tigt sind – nicht auf­hö­ren wer­den, ein­zu­for­dern, dass der Kampf gegen die Kli­ma­kri­se höchs­te Prio­ri­tät bekommt. Die­ser Druck wird wei­ter not­wen­dig sein, um Rah­men­be­din­gun­gen zu schaf­fen, in denen ein gutes Leben in Zukunft mög­lich sein wird.

Die letzte Woche

Election 2021Ich fin­de Wah­len wich­tig, und ich ver­fol­ge nicht nur die baden-würt­tem­ber­gi­schen und die bun­des­wei­ten Wah­len, son­dern schaue gespannt auch auf die Wah­len in ande­ren Län­dern. Mal mit­fie­bernd und begeis­tert, mal eher ent­täuscht und ent­geis­tert ob der Ent­schei­dung der Wäh­len­den. Wahl­kampf ist dage­gen eher ein not­wen­di­ges Übel – klar, es ist wich­tig, die unter­schied­li­chen Per­so­nen und Posi­tio­nen bekannt zu machen, einen öffent­li­chen Dis­kurs dar­über zu ent­zün­den, zu mobi­li­sie­ren (oder, in Mer­kels Fall: auch mal zu demo­bi­li­sie­ren). Aber Begeis­te­rung lösen Wahl­kämp­fe bei mir nicht aus. 

Die­ser Wahl­kampf geht jetzt in sei­ne letz­te Woche. Am Sonn­tag hat­ten FDP und GRÜNE noch ein­mal Par­tei­ta­ge. Stär­ker als zu ande­ren Zei­ten sind die­se Par­tei­ta­ge Insze­nie­rung. Hier geht es nicht um inner­par­tei­li­che Mei­nungs­bil­dung und auch nicht um inter­ne Ver­net­zung – son­dern schlicht dar­um, noch ein­mal Auf­merk­sam­keit zu bekom­men, um auf den letz­ten Metern Bot­schaf­ten in die Welt sen­den zu kön­nen. In die Welt drau­ßen, um die letz­ten noch unent­schlos­se­nen Wähler*innen zu errei­chen, und in die Welt drin­nen, um Geschlos­sen­heit her­zu­stel­len, den eige­nen Leu­ten zu dan­ken und die­se für den Schluss­sprint zu motivieren. 

Neben­bei: was ich an mei­ner Par­tei mag, ist die Tat­sa­che, dass wir auch im Gegen­wind und im Regen soli­da­risch blei­ben. Die Umfra­ge­wer­te sahen schon mal bes­ser aus, und die Angrif­fe auf die Per­son der Kanz­ler­kan­di­da­tin zu Beginn des Wahl­kampfs haben die Wahr­neh­mung von Anna­le­na Baer­bock in der Öffent­lich­keit nach­hal­tig beein­träch­tigt. Klar gab es eige­ne Feh­ler. Aber es fällt doch auf, mit was für unter­schied­li­chen Maß­stä­ben da teil­wei­se gemes­sen wird. Und wie immer wie­der die sel­ben Geschich­ten erzählt wur­den. Gegen die­se vor­her gefass­ten Urtei­le kom­men ihre extrem star­ken, kom­pe­ten­ten und empa­thi­schen Auf­trit­te in den Tri­el­len und auf den Markt­plät­zen nur schwer an. Das ist ein Wahl­kampf mit Gegen­wind und Regen­schau­ern. Und genau da fin­de ich es wich­tig, dass wir als Par­tei Hal­tung bewah­ren, dass wir wei­ter kämp­fen und alles dafür geben, zu über­zeu­gen. Nicht als Par­tei­sol­da­ten­tum, bei dem schön gere­det wird, aber eben auch nicht – da bli­cke ich auf die Uni­on – als Weg­rü­cken vom eige­nen Kan­di­da­ten. Und ich jeden­falls erle­be uns als eine Par­tei, in der Soli­da­ri­tät und Geschlos­sen­heit gelebt werden.

Ich mag Wahl­kämp­fe nicht, vor allem da nicht, wo sie – not­wen­di­ges Übel – in Rich­tung Show und Wer­bung abdrif­ten. In mei­ner nai­ven Ide­al­vor­stel­lung ent­schei­den Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler danach, wel­che poli­ti­schen Vor­ha­ben und wel­che Per­so­nen sie über­zeu­gen. Wahl­kampf erscheint mir all zu oft als ein Ver­such, das zu ver­ne­beln. Nicht umsonst erin­nern die Pla­kat­wän­de an die fal­schen Haus­fas­sa­den einer Wild­west­stadt, die nach Ende des Film­drehs zusam­men­ge­klappt und weg­ge­räumt wer­den. Natür­lich ver­mit­teln Pla­ka­te und Auf­trit­te ein Image. Natür­lich geht es dar­um, eine Geschich­te zu erzäh­len und zu hof­fen, dass ande­re mit­ma­chen und die­se Geschich­te eben­falls erzäh­len. Und die Instru­men­te, die ver­su­chen, Par­tei­pro­gram­me run­ter­zu­bre­chen, wie etwa der Wahl-o-mat, sind dann schnell unter­kom­plex. Ganz so ein­fach ist es mit dem Fokus auf die Inhal­te also auch nicht. Trotz­dem bin ich über­zeugt davon, dass ein kür­ze­rer und fokus­sier­te­rer Wahl­kampf die­ser Repu­blik gut tun würde.

Die Legis­la­tur­pe­ri­ode des Bun­des­tags dau­ert vier Jah­re, das sind 48 Mona­te. Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen und die Bil­dung einer Regie­rung neh­men inzwi­schen ger­ne ein hal­bes Jahr ein, blei­ben 42 Mona­te. Die Zeit, in der Poli­tik in Wahl­kampf kippt, ist je nach Par­tei unter­schied­lich. Das Par­tei­pro­gramm wur­de im Juni beschlos­sen – vier Mona­te vor der Wahl. Die Ent­schei­dung über die Kanz­ler­kan­di­da­tin fiel im April und der Pro­gramm­ent­wurf wur­de bereits im März vor­ge­stellt, damit sind wir schon sie­ben Mona­te vor der Wahl. Schon davor wur­de in den Par­tei­gre­mi­en dar­an gear­bei­tet, und mit den ers­ten Über­le­gun­gen für Lis­ten­kan­di­da­tu­ren sowie dann den ers­ten Lis­ten­wah­len in den Län­dern sind wir im Herbst und Win­ter 2020/2021. Net­to blei­ben viel­leicht 34, 35, 36 Mona­te, alle übri­gen Wah­len und Wahl­kämp­fe mal außen vor gelas­sen. So rich­tig viel Zeit ist das nicht.

Aber viel­leicht ist die­se Tren­nung ja auch eine künst­li­che. Viel­leicht wür­de ein kür­zer „ech­ter“ Wahl­kampf nur dazu füh­ren, dass die eigent­li­che par­la­men­ta­ri­sche Arbeit stär­ker als jetzt schon zu einem Wahl­kampf in Per­ma­nenz wird, immer dar­auf bedacht, viel zu versprechen.

Die­se Wahl ist eine ande­re als frü­he­re Wah­len. Es ist die ers­te Bun­des­tags­wahl, die auf­grund der Coro­na-Bedin­gun­gen und der Erfah­run­gen bei der Euro­pa­wahl und bei den Land­tags­wah­len eine hohe Zahl an Briefwähler*innen mit sich brin­gen wird. Und es ist, dar­über wur­de viel geschrie­ben, eine Wahl, in der die Kanz­le­rin nicht antritt. Und es ist die ers­te Wahl, in der die Kli­ma­kri­se rich­tig spür­bar ist. 

Dazu kom­men die kon­train­tui­ti­ven Ele­men­te des Wahl­rechts. Mög­li­cher­wei­se wird die­ser Bun­des­tag so groß wie nie zuvor, und mög­li­cher­wei­se führt das Zusam­men­spiel von Direkt­man­da­ten und Aus­gleich- und Über­hangs­man­da­ten gera­de bei einem schwä­che­ren grü­nen Ergeb­nis zu einer (in abso­lu­ten Zah­len) extrem gro­ßen grü­nen Frak­ti­on. Das dürf­te die Kandidat*innen auf den hin­te­ren Lis­ten­plät­zen freu­en – zur Arbeits­fä­hig­keit des Bun­des­tags trägt es nicht bei, und für eine star­ke grü­ne Regie­rungs­be­tei­li­gung ist eben­falls die rela­ti­ve Stär­ke wichtiger. 

Ob unter die­sen Bedin­gun­gen die alten Weis­hei­ten noch gel­ten – dass Wäh­len­de sich erst kurz vor dem Wahl­tag ent­schei­den; all das, was die Poli­tik­wis­sen­schaft über die Dyna­mik von Umfra­gen und Wahl­er­geb­nis­sen weiß – ist unklar. Ich jeden­falls bin extrem gespannt, was der nächs­te Sonn­tag für ein Ergeb­nis brin­gen wird, und was die Par­tei­en dann dar­aus machen wer­den. Allem Hadern mit „fal­schen“ Wahl­ent­schei­dun­gen und allen Unzu­läng­lich­kei­ten des Wahl­sys­tems zum Trotz bin ich froh, in einem Land zu leben, in dem es eine ech­te Aus­wahl gibt, in dem Wah­len frei, gleich und geheim sind. Kämp­fen wir jetzt mit Über­zeu­gung und schau­en dem Sonn­tag mit Gelas­sen­heit entgegen.

Kurz: Ein Land, noch nicht bereit

Ges­tern dann also das zwei­te „Tri­ell“ zwi­schen Baer­bock, Scholz und Laschet. Habe viel dazu get­wit­tert. Auf­fäl­lig: schlecht vor­be­rei­te­te und schlecht abge­stimm­te Mode­ra­ti­on, die kein gutes Bild auf „Nach­rich­ten“ als Kern­kom­pe­tenz der öffent­lich-recht­li­chen Sen­der wirft. Eine hal­be Stun­de mit unsin­ni­gen Koali­ti­ons­fra­gen ver­bracht. Und die Diskutant:innen? Das Meme, das Laschet und Scholz als Lori­ots Bade­wan­nen-Her­ren zeigt, passt. Anna­le­na Baer­bock dazwi­schen – kom­pe­tent, sach­lich, auf den Punkt, empa­thisch und lebens­nah. Was dann aber lei­der zu oft unter­ging zwi­schen „Las­sen Sie sofort das Bade­was­ser ab!“ und „An ihrer Fra­ge merkt man, wie sehr sie unehr­lich sind!“. 

Am Schluss kopie­ren Laschet und Scholz Baer­bocks Move und tre­ten vor das Rede­pult. Bei den Inhal­ten sieht’s dage­gen düs­ter aus. Laschet will Ver­trau­en ver­kör­pern. Scholz steht für den mode­ra­ten Weg, also bloß kei­ne Ver­än­de­rung. Baer­bock bringt es dage­gen auf den Punkt: „Unse­re Kin­der und Enkel sol­len uns nicht fra­gen: War­um habt ihr nichts getan? Son­dern: Wie habt ihr das geschafft?“

Soweit mal als kur­zer Ein­druck. Zum Mis­match zwi­schen Kom­pe­tenz und Kom­pe­tenz­zu­schrei­bung und auch zu der einen oder ande­ren Ungleich­be­hand­lung durch die Moderator:innen wür­de ich gern eine Gen­der-Stu­dies-Abhand­lung lesen. Mein Ein­druck: in zu vie­len Köp­fen weckt „älte­rer Herr mit Anzug und Kra­wat­te“ noch eine Kom­pe­tenz­zu­schrei­bung, die fak­tisch gar nicht erfüllt wer­den muss, um zu wir­ken. Dage­gen und gegen ein in den letz­ten Mona­ten ver­fes­tig­tes Bild muss­te Anna­le­na Baer­bock ankämp­fen. Bei der Alters­grup­pe bis Mit­te 30, Anfang 40 klappt das. Bei den älte­ren Jahr­gän­gen wird’s schwie­rig. Inter­es­sant dazu auch die­ser Bericht der BZ (hin­ter der Paywall).

Für alles wei­te­re emp­feh­le ich Ulrich Schul­te in der taz, der das glei­che Tri­ell gese­hen hat wie ich. Und deut­lich dar­auf hin­weist, dass Deutsch­land Mode­ra­ti­on und Aus­hand­lung super fin­det, dass das der Phy­sik aber egal ist.