Gestern fand das sehr gelungene erste Netzkulturfestival von Freiburg gestalten statt (umsonst und drinnen, nämlich in der wunderbaren Lokhalle). Kathrin Passig war auch da, und hat erbaulich über die seit 1982 nachweisbare Idee vorgetragen, dass das Netz kaputt sei und früher doch alles besser, schöner, utopischer war – bevor ungewaschene Barbaren und pubertierende Jungs Einzug in das jeweilige Kommunikationsmittel gehalten haben.
Lesetipp: L.X. Beckett – Gamechanger
Ganz frisch und großartig: der gerade bei Tor erschienene Roman Gamechanger von L.X. Beckett.
Dieser Roman ist die neuste und jüngste Annäherung der Science Fiction an das Problem, augmented reality – also das nahtlose Zusammenwirken „digitaler“, von intelligenten Agenten unterstützter und „analoger“, stofflicher Welt – plausibel darzustellen. Hier gelingt das und greift nebenbei auch Fragen auf wie die danach, ab was für einem Alter dann eigentlich Kinder an einer immer vorhandenen digitalen Schicht teilnehmen, die sich über alles legt. Oder auch: wie sichergestellt wird, dass sie vorher Berücksichtigung finden, oder was mit denen ist, die ein Implantat verweigern oder biologisch dafür nicht geeignet sind. Oder: was passiert mit @jarheads, Menschen in kaputten Körpern, die aber weiter am „Sensorium“, wie die digitale Ergänzung der Welt hier heißt, teilnehmen? Becketts Roman spielt in einer Zukunft, in der all das selbstverständlich ist. Und die digitale Schicht bleibt nicht Ornament, sondern ist tief in die Gesellschaft eingewoben. Ein Beispiel dafür ist die Idee, dass strikes/strokes verteilt werden können, die eine Art Währung darstellen. Oder die Art und Weise, wie stoffliche Räume und Games übereinander gelegt werden. Wie sich die Sprache verändert hat, die Ökonomie – in Richtung einer aufmerksamkeitsgetriebenen gig economy mit post-kapitalistischen Celebrities; aber auch die Politik (globale direkte Demokratie, aber mit Eintrittshürden in Form von Tutorials und Abfragen …) und die Medien in einer Überwachungsgesellschaft (Cloudsight hat da einiges gemeinsam mit Malka Olders Information – eine Weltbehörde für Informationskontrolle).
Eine augmentierte Realität plausibel zu schildern, passiert hier nicht das erste Mal. Wer möchte, kann bis zu William Gibsons Neuromancer (1984) zurückgehen. Bei Gibson ist der Cyberspace vor allem durch Separierung gekennzeichnet – er muss betreten werden, dazu gibt es eine spezielle technische Ausrüstung, dort gelten andere Regeln. Becketts Sensorium ist dagegen ein Teil der Welt, an der alle – oder fast alle – Menschen in unterschiedlichem Ausmaß immer teilhaben. Das ist das neue daran. Auch in den neusten Büchern von Neal Stephenson (Fall, or Dodge in Hell, 2019), Karl Schroeder (Stealing Worlds, 2019) und Tom Hillenbrand (Hologrammatica, 2018) ist augmentierte Realität ein Thema. Beckett packt da nochmal eins drauf.
Oder: Wenn Science Fiction auch dazu da ist, gegenwärtige Entwicklungen zu reflektieren, dann scheint das selbstverständliche Ineinanderfließen von stofflicher und digitaler Welt mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, eine der Debatten zu sein, die jetzt geführt werden muss.
Das zweite große Thema, mit dem sich Science Fiction gegen Ende der 2010er Jahre auseinandersetzt, ist das Ende der Welt. Die Klimakrise und der Zusammenbruch der globalen Ordnung als apokalyptischer Hintergrund sind fast schon ein alter Hut, etwas Gegebenes. Bei Beckett heißt diese Zeit des Zusammenbruchs Setback – und sie beginnt etwa heute. Das Buch spielt aber etwa eine Generation später – der Zusammenbruch, die Zwangsmaßnahmen wie Umsiedlungen, #triage und Rationierungen sind noch in Kraft, im Vordergrund steht jetzt aber der Wiederaufbau, die Erneuerung der natürlichen Kreisläufe, der harte Kampf um Klima und Sauerstoff. Das ist der Lebensinhalt der Bounceback-Generation: prosozial, anpackend, aktivistisch, optimistisch und höflich. Selbst auf der Barrikade werden noch die Orangenschalen fein säuberlich getrennt gesammelt, um sie wieder dem Kreislauf zuzuführen. Zur Schau gestellter Konsum ist ekelhaft. Oder in den Worten der Hauptperson, Rubi Whiting: „Row, row, row, everyone. All we have is us.“
Wer wach ist, nimmt genau diesen Geist heute wahr. Selbstverständlich ist Science Fiction immer Gegenwartsliteratur – und ja, vielleicht brauchen wir, ganz ohne außerirdische Bedrohung und vor Zwangsumsiedlungen („Verdichtung“) und Rationierungen etwas davon. Fridays for Future, anyone?
Literatur hat dabei Freiheiten – eine gewisse Herausforderung für meine suspension of disbelief stellt die Tatsache dar, dass der Roman in einer Welt der Knappheit spielt, dass aber gleichzeitig jede Mengen Drohnen, Server und High-Tech-Dinge zum Einsatz kommen. Im Buch selbst gibt es dafür zwei Erklärungen: das Sensorium ist auch ein Ort, an dem Menschen Spaß haben können und Dinge erleben, ohne dafür Ressourcen etwa in Form von Reisen zu verbrauchen; und die High-Tech, etwa in Form von Nahrungswürfeln oder sich selbst konfigurierendem Nanomaterial, das als Kleidung dient, ist letztlich ressourcenschonender als die handgemachte Alternative, die als Luxusgut gilt.
Nebenbei ist Gamechanger ein Buch über zerbrechliche Personen, die jeweils mit ihren eigenen Dämonen kämpfen. Und auch das trägt dazu bei, dass ich Becketts Buch am liebsten am Stück gelesen hätte.
Kurz: Seminomadische Digitalität
Geht euch das auch so, dass „der PC“ inzwischen nicht viel mehr als ein schlankes Terminal ist, um auf Daten zuzugreifen, die anderswo liegen?
Es sind die kleinen Dinge. Wenn ich Mails checken will, stelle ich fest, dass ich das inzwischen auf zwei Wegen tue: über die App auf einem der verschiedenen Handheld-Geräte, oder über die Web-Oberfläche meines Mailproviders. Ich finde es spannend, dass ich meine beruflichen Dateien inzwischen nicht nur per Notebook abrufen kann, sondern auch mobil darauf zugreifen kann. Musik und Bücher im Speicherplatz eines Netzriesen sind zwar moralisch verwerflich, aber enorm praktisch. Die Fotos liegen bei Flickr, mein Kalender bei einem anderen Netzriesen … und all das hilft, wenn ich im Zug, im Büro in Stuttgart, auf dem Balkon oder am Baggersee irgendwie darauf zugreifen möchte.
Ich weiß über die dadurch erzeugten Abhängigkeiten samt infrastruktureller Energiebedarfe Bescheid. Die optimale Lösung wäre, das Haus nicht zu verlassen, oder all das auf einem physischen Datenträger mit herumzuschleppen. Die zweitbeste Lösung wäre, alles auf den eigenen Webspace zu packen, statt sich auf die Cloud-Lösungen diverser Anbieter zu verlassen – ach, Bequemlichkeit, ach Smartphone, du magisches Fenster.
Immer Ärger mit der Digitalisierung, hier: DHL
Letzten Freitag bestellte ich mit ein paar Klicks auf der Seite eines großen Spielzeugherstellers mit L ein interessant erscheinendes Bauset. Beim Ausfüllen des Adressformulars bot der Browser mir Ausfüllhilfen an. Manchmal gibt es Felder „Straße plus Hausnummer“, manchmal sind das zwei Felder. Es kam, wie es kommen musste: Im Endeffekt landete wohl keine Hausnummer bei LEGO. Mir fiel das allerdings weder beim Ausfüllen der Felder noch in der Bestellbestätigung auf.
Montag dann die freudigen Mails von DHL: das Paket sei unterwegs, es würde jetzt versandt. So weit, so gut. Mal abgesehen davon, dass mein Wunschzustelltag auf Mittwoch festgelegt worden sei. Das irgendwann mal angegeben zu haben, daran konnte ich mich nicht erinnern. Am Dienstag dann die nächste Mail: nein, eine Zustellung am Mittwoch sei nicht möglich, es werde jetzt doch schon Dienstag zugestellt. Dienstag Abend hieß es dann
„Leider konnten wir sie unter der angegebenen Adresse nicht finden. Wir versuchen es weiter. Sollte die Zustellung nicht gelingen, müssen wir Ihr Paket mit der Sendungsnummer … leider an den Absender zurück senden.“
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Kurz: Da bewegt sich was
Pauschalurteile über die Jugend sind immer blöd. Trotzdem muss ich kurz die Beobachtung festhalten, dass sich da aktuell was tut, mit Jugendlichen und Politik. Vielleicht fällt es mir auch nur mehr auf, weil meine Tochter inzwischen 13 ist und da Politik irgendwie so richtig anfängt. Ich sehe jedenfalls an zwei Punkten, dass ein per WhatsApp (und Instagram und – ihh – Youtube) kommunizierende Jugend sich politisch äußert.
Das eine sind die Klimaproteste mit Greta Thunberg als selbst gewählter Galionsfigur. Fridays for Future bringt inzwischen weltweit Schulkinder zum Streik. Dezentral und wenig organisiert, auf Netzwerkeffekte und Klassengruppen setzend, und mit mächtig viel medialer Aufmerksamkeit. Ein paar Monate (Oktober 2018) älter und ein bisschen radikaler (und nicht so jugendlich): Extinction Rebellion – auch das eine globale Bewegung, die Klimaschutz auf die Straßen bringt und auf die politische Agenda setzt.
Das andere sind die Proteste rund um Artikel 13 („Hilfe, sie wollen Youtube schließen!“), oder anders gesagt: die spezifische Freiheit des Netzes erhalten. Auch hier: eine grenzüberschreitende Mobilisierung, insbesondere auch Teenager und junge Erwachsene fühlen sich angesprochen – und reagieren extrem wütend auf die Vermutung, das seien doch alles nur Bots. Einer der Hashtags der Kampagne: #niewiedercdu
Hier bewegt sich also was. Sehr projektförmig, bei den Protesten rund um die EU-Urheberrechtsreform kann ich mir auch vorstellen, dass das schnell wieder einschläft, wenn der konkrete Anlass – die Abstimmung im EU-Parlament, die jetzt wohl doch Ende März sein wird, rum ist. Das Klima wird Tag für Tag dramatischer. Und beides zusammen könnte den Effekt haben, dass nach einigen Jahren, in denen Jugend eher ein Synonym für konservativ und den Rückzug ins Private war, da so etwas wie eine neue politische und progressive Jugendbewegung entsteht. Wär doch was!