Nicht mehr einsam – Rede zur Netzpolitik
Redemanuskript, Rede zur Antragseinbringung NP‑1 auf dem grünen Landesausschuss 26.06.2010
Liebe Freundinnen und Freunde,
„einsam, überwacht und arbeitslos“ – das waren die Befürchtungen, die im Orwell-Jahr 1984 aus grüner Sicht mit Datenschutz und Netzpolitik verbunden wurden. Im Mittelpunkt der Kritik stand das ISDN-Telefon. Unter „neuen Medien“ wurde Kabelfernsehen verstanden. Und die Idee, dass mit Bildschirmtext auch eine demokratische Utopie verbunden sein könnte, wurde vehement verneint. So war das 1984.
1994 gaben die ersten Browser dann den Startschuss für das Internet, wie es für die Mehrheit heute Alltag ist. Selbst jetzt sind sicherlich – obwohl das heute ja kein virtueller Parteitag ist – mindestens zehn Menschen online. Wenn der Innenminister meint, dass das Staunen über das Netz jetzt einmal ein Ende haben könne, dann hat er also nicht ganz unrecht.
Heute, im Jahr 2010, ist das Netz eine Infrastruktur, die aus Arbeitswelt, Freizeit, aus den Schulen und Universitäten – aber auch aus der Politik – längst nicht mehr wegzudenken ist. Dass wir heute überhaupt über Netzpolitik reden, fußt auf einem Beschluss der Landesdelegiertenkonferenz im letzten November. Der wiederum geschah in Reaktion auf die „Netzbewegung“ und Themen von der Vorratsdatenspeicherung bis zur Zensurinfrastruktur. Staunen ist vielleicht nicht notwendig – Bedarf für politische Einmischung gibt es jedoch zuhauf.
Der Antrag NP‑1 will aber mehr sein als nur ein Statement in dieser Auseinandersetzung. Klar: wir machen uns für Netzneutralität stark. Wir lehnen es ab, Datenschutz und Bürgerrechte auszuhebeln (egal, ob mit Hinweis auf die Sicherheitslage oder aus Profitinteresse). Wir wehren uns gegen Zensurversuche. All das kommt nicht zu kurz – keine Sorge!
Letztlich aber gilt: wenn wir Netzpolitik ernsthaft als grünes Thema diskutieren wollen, dann muss der Fokus weiter gefasst sein. Der Antrag NP‑1 nimmt diese Querschnittsperspektive ernst. Das bedeutet, Netzpolitik überall mitzudenken. Wer den Antrag durchblättert, findet viele Anregungen, wo das Netz für andere Politikfelder relevant wird. Drei Beispiele: Wenn es um ländliche Räume geht, geht es auch um Breitbandversorgung als Daseinsvorsorge. Beim Verbraucherschutz müssen wir Online-Geschäfte im Blick haben. Und wir dürfen e‑Petitionen und digitale Bürgerbegehren nicht vergessen, wenn Demokratie das Thema ist.
Eine Aneinanderreihung von Querschnitten ergibt allerdings noch keine kohärente Netzpolitik. Daher halten zwei „grüne Fäden“ unseren netzpolitischen Entwurf zusammen.
Der eine grüne Faden ist die Teilhabegerechtigkeit. Wie muss das Netz gestaltet und politisch reguliert sein, um zu einer gerechteren Teilhabe an Arbeit, Bildung und Demokratie in unserer Gesellschaft beizutragen? Mit dieser Frage wird schnell deutlich, dass wir über den „Zugang zum Zugang“ reden müssen. Es muss darum gehen, das Netz auch tatsächlich nützen zu können – also eine Frage der „Medienpädagogik“ (übrigens nicht nur für Kinder). Wir stellen fest: Die alte „Rundfunkmetapher“ greift nicht. Vielmehr haben wir es mit einem Kommunikationsraum zu tun haben, dessen aktive Nutzung wir begrüßen und fördern sollten – gerade dann, wenn es um politische Teilhabe geht. Aber zur Teilhabeperspektive gehört auch, dass es Menschen gibt, die nicht online sein wollen oder können. Gerade in einer Netzwerkgesellschaft muss der Staat dafür Sorge tragen, dass diese Gruppen nicht vergessen werden.
Der zweite grüne Faden ist die Informationswirtschaft. Was muss unternommen werden, damit in Baden-Württemberg der Strukturwandel zur Wissensgesellschaft in einer nachhaltigen Form gelingt? Ein wichtiges Element ist die Idee, Baden-Württemberg zum Spitzenstandort der „Green IT“ zu machen: das betrifft nicht nur die hier ansässigen Rechenzentrumsbetreiber, und die Frage, wie deren Klimabilanz aussieht – allen voran das staatliche Belwue-Netzwerk. Nein: Weitergedacht heißt diese Strategie, „Green IT“ zum durchgängigen Leitbild in Mittelstand, Industrie und Forschung machen – und so Arbeitsplätze zu schaffen und die Wirtschaft im Land zu fördern. Zu einer umfassend zukunftsfähigen Informationswirtschaft gehört allerdings noch mehr. Dazu gehört die Qualifizierung von Fachkräften. Dazu gehört beispielsweise Open-Source-Software. Und dazu gehört nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit der Frage, was eigentlich „gute Arbeit“ in der Netzwerkgesellschaft ausmacht.
„Einsam, überwacht und arbeitslos“? Ich möchte dem heute, ein Vierteljahrhundert später, einen neuen Dreiklang grüner Netzpolitik gegenüberstellen. Denn wir haben inzwischen erfahren, dass das Netz soziale Zusammenhänge stärken kann. Wir sehen, dass Informations-dienstleistung Arbeit schafft, die weniger stark an Ressourcenverbrauch gekoppelt ist. Wir haben aber auch gelernt, dass es weiterhin notwendig ist, für Verbraucherschutz und Bürgerrechte im Netz zu kämpfen – erst recht dann, wenn die Infrastruktur in privater Hand liegt.
Auf den Punkt gebracht: „Sozial vernetzt, mündig nutzbar und klimafreundlich“ – dass sollte, meine ich, das Leitmotiv einer grünen Netzpolitik mit Gestaltungswillen sein!
Ich bitte euch um Zustimmung zu unserem Antrag und freue mich auf die Debatte!
Quelle: Kuhn, Fritz / Schmitt, Wolfgang (Hrsg.) (1984): Einsam, überwacht und arbeitslos. Technokraten verdaten unser Leben. Stuttgart: Die Grünen.
Foto: Grüne BaWü, Lizenz CC-BY-SA
Nachtrag: Hier geht’s zum Bericht der Partei über den TOP Netzpolitik
Nachtrag 2: Der Beschluss, der gegenüber dem Antrag in einigen Punkten ja noch modifiziert wurde, ist jetzt online (pdf).
Kontrollverlust paradox
Heute morgen oder so habe ich mich noch darüber gewundert, warum Michael Seemann aka mspro in seinem FAZ-Blog „Ctrl-Verlust“ jetzt anfängt, gegen all seinen Prinzipien Fanboyhype um die neuste Version des Mobiltelefons der Fa. Apple zu machen.
Jetzt ist der Artikel weg – aber nicht nur das, auch das ganze Blog fehlt. Das ist 1. bedauerlich, lässt sich 2. in Richtung „FAZ und das Netz – wie es wirklich war“ diskutieren, und stellt 3. ein extrem lehrreiches Beispiel über das Verhältnis von Infrastruktur, kapitalistischer „Kontrollmacht“ und digitaler Arbeit dar.
Um das genauer auszuführen, würde ich jetzt gerne nochmal Seemanns Beiträge im Blog bei der FAZ durchblättern, was aber ja leider gerade nicht geht (s.o.). Deswegen nur so viel: Paradox ist das ganze, weil die Netzinfrastruktur (und sei es der Server, auf dem die Inhalte von faz.net liegen, und das darauf laufende CMS usw.) eben nicht unkontrolliert vor sich hin existieren, sondern in harte Kontrollstrukturen eingebunden sind. In Redaktionsabläufe, Vertragssysteme, Bezahlungen, Anstellungsverhältnisse, organisatorische Hierarchie, und was sich da noch alles finden lässt. Klar lässt sich der Inhalt des Blogs irgendwie rekonstruieren – aber, wie Michael Seemann selbst schreibt: er weiss nicht, ob er das darf. Er weiss auch nicht, ob die FAZ ihn weiter bezahlt, bzw. was diese Sperrung finanziell für ihn letztlich bedeuten wird.
Fazit: Wer gegen Geld bloggt, gerät damit in ein Abhängigkeitsverhältnis, das gar nicht neu ist, sondern seit Jahrzehnten rechtlich und sozial geregelt ist. Da geht’s ums Urheberrecht, um Verlagsverträge, um die Arbeitsbedingungen „fester Freier“ im Journalismus. Das alles bleibt beim Zeitungsbloggen unsichtbar, solange die schöne neue Medienwelt glatt zu funktionieren scheint. Sobald das Organisationsgefüge dann aber doch aufgerufen wird, taucht dieses Abhängigkeitsverhältnis auf, und es stellt sich heraus, dass das alles dann doch nochmal eine ganz andere Qualität hat als z.B. mein Verhältnis zu meinem Hoster. Und dass da ein massives Maß an Macht und Kontrolle drin steckt.
Das soll jetzt nicht heißen, dass ich es furchtbar fände, wenn sich jemand fürs Bloggen bezahlen lässt. Ich glaube nur nicht daran, dass sich auf die Dauer eine Trennung zwischen „JournalistInnen“ und „BloggerInnen“ aufrecht erhalten lässt, wenn beide faktisch Angestellte (bzw. abhängigen Selbstständigen) im Verhältnis zu einem Verlag sind. Warum dann für die einen bestimmte Regeln gelten sollen und für die anderen nicht, warum die einen diese Freiheiten und die anderen andere bekommen: all das lässt sich glaube ich organisationsintern nicht wirklich vermitteln und verankern. Damit wären wir dann bei einer Konvergenzthese: OnlinejournalistInnen (bzw. Menschen, die im Medium Netz professionell publizieren) und bezahlte BloggerInnen nähern sich zu einem neuen Berufsbild an. Und der Konflikt FAZ vs. Michael Seemann ist ein Schritt auf dem Weg dahin.
Und noch etwas abstrakter: Eigentlich geht es auch darum, wie Arbeitskraft in einer Form, die weder echte Selbstständigkeit noch echte abhängige Beschäftigung ist, und die neben ihrer diskursiven Verankerung im neoliberalen Mainstream und in der digitalen Boheme eben auch eine technologische Basis hat, denn (politisch und rechtlich) gestaltet werden kann, um hier „gute Arbeit“ zu ermöglichen.
Wie dem auch sei: dass „Ctrl-Verlust“ jetzt erstmal weg ist, finde ich bedauerlich, weil ich die dort veröffentlichten Texte überwiegend anregend fand. Ich drücke Seemann auf jeden Fall mal die Daumen, dass er da irgendwie sinnvoll rauskommt. Und warte darauf, dass die FAZ sich erklärt.
Warum blogge ich das? Teils aus Solidarität, teils aus abstrakter Neugierde.
Gauck in Schlandland
Taktisch betrachtet ist der Vorschlag „Joachim Gauck“ für die Bundespräsidentenwahl ein Meisterstück von SPD und Grünen.
Wir zeigen damit: selbst bürgerlich-konservative Bundespräsidenten vorschlagen können wir besser als die Bürgerlich-Konservativen. Und wenn ich mir die vier zur Wahl stehenden Personen so anschaue, dann würde ich auch sagen, dass Joachim Gauck derjenige ist, der sich am besten für dieses Amt in all seiner Repräsentativität und Angestaubtheit eignet. Ebenso wäre es schön, wenn der ostdeutschen Kanzlerin mit der Mitwahl eines Repräsentanten der Bürgerrechtsbewegung, die die DDR zu Fall gebracht hat, durch Mitglieder ihrer eigenen Koalition ein Strich durch die Parteitaktik gemacht wird. Und der Linken gleich mit dazu.
Weniger klar sind mir die langfristigen Auswirkungen. Also die Strategie. Das betrifft erstens die Frage, wie sich SPD und Grüne zu einem auch ihnen durchaus unbequemen Kandidaten verhalten werden, wenn er denn gewählt wird. Und andersherum. Da sehe ich keine große Klarheit. Zweitens frage ich mich, wie sich ein möglicher Erfolg bei der Bundesversammlung auf die politische Positionierung von SPD und Grünen auswirkt.
Und dann gibt es noch Schlandland. Bzw. die kuriose Tatsache, dass der schwarz-rot-güldenen Flaggenrausch mit der brutalen und bierseeligen Verniedlichung des Nationalen Landesnamens einhergeht. Ist das ein Zu-Eigen-Machen, oder ist es schlicht national gesättigte Trunkenheit, die sich im „Schland“ zusammenzieht?
Zurück zu Gauck: rund um die Kandidatur wimmelt es von Instant-Bürgerbewegung. „Wir, das Volk“ ist da nicht fern, unterstützt durch Parteizentralen und Freiwillige. Das ist einerseits beeindruckend und hat was von Obamobilisierung. Andererseits frage ich mich, wann die Nationalfarben der „Wir, das Volk“-Bewegung in den Parteilogos der Mitte-Links-Parteien auftauchen – als drittes großes Aber dieser Kandidatur.
Warum blogge ich das? Weil mir Gauck in Schlandland ein bißchen Angst macht.
P.S.: Ich gebe zu: ich habe auch schon bei Facebook auf ein „Dieser Gruppe beitreten“ für eine der großen BürgerInnen-Ansammlungen geklickt.