Dass Politik das langsame Bohren dicker Bretter ist, wissen wir seit Max Weber. Konkret gebohrt wird beispielsweise beim langwierigen Abstimmen von Entscheidungen zwischen vier Vetospielern. Politik ist aber auch das Lauern auf einen Spalt offenstehende Türen und das blitzschnelle Entscheiden, einen Fuß in die Tür zu setzen. Beides zusammen macht politische Arbeit gleichzeitig unglaublich langsam und unvorhersehbar schnell. Bohren, Lauern und Entscheiden finden dabei in einem strategischen Rahmen statt. Und manchmal führen diese Kombinationen dann zu situativen Erdrutschen. Zum Beispiel gestern in Nordrhein-Westfalen, als innerhalb weniger Stunden aus einer Verhandlungstaktik plötzlich Neuwahlen wurden. Auch das ist Politik.
Individualismus der Piraten, Kollektivismus der Anderen
Zwischen @korbinian (Piraten), christiansoeder (SPD), @flo_wi (piratiger Grüner) und mir entstand gerade eine kurze Twitter-Debatte über die Frage der Delegation. Die SPD wählt ihre 600 Delegierten für den Bundesparteitag auf Landesebene. Wir Grüne wählen unsere 800 auf Kreisebene. Die Piraten verzichten (noch?) auf ein Delegationssystem, auch wenn Liquid Democracy in die Richtung geht. Ein entscheidender Unterschied zwischen Piraten und anderen Parteien ist mir genau dabei und aus dieser Debatte klar geworden:
Aus Sicht des an der Debatte beteiligten Piraten macht eine Delegation aus dem Kreisverband heraus wenig Sinn:
ich denke halt nicht in regioverbänden sondern individuell. bin in erster linie bundespirat solange es keine weltweite partei gibt
auf diesen wohnortgebundenen regionalismus hätte ich keine lust. ich will mir schon selbst aussuchen können wer für mich stimmt
ja, und das nervt mich ohne ende. is doch schade um „andersdenkende“ in der region. ich wohn im internet
Ich habe das dann als Differenz zwischen „Ich-Denke“ und „Wir-Denke“ bezeichnet. Was eine klare Reaktion auslöste:
jo, „wir-denke“ lehne ich ab. ich find das schon fast faschistisch
Die Delegation der Piraten bei Liquid Democracy ist eine individuelle, mit der virtuelle und temporäer Interessensgemeinschaften aufgespannt werden. Die Delegation der etablierten Parteien ist eine regionale, aus einer über den gemeinsamen Lebensort geknüpften Gemeinde heraus kommende. Die bei uns im Hintergrund manchmal noch wabbernden Rätegedanken ändern daran nichts (quasi-imperatives Mandat der Delegierten): Auch hier ist die Gruppe, die von einem oder einer Delegierten vertreten wird, die des Kreisverbands. Politik ist lokal.
Ein Nebeneffekt davon sind inhaltlich aufgeladene Regionszuschreibungen: Der Kreisverband A ist links, der Kreisverband B eher realo-mäßig orientiert, ist ja klar, wen die entsenden und wie deren VertreterInnen abstimmen werden.
Soweit ich weiß, delegieren innerhalb der Grünen im Landesverband Berlin zu einem (kleinen) Teil auch die Arbeitsgemeinschaften. Das auszuweiten, wäre eine Möglichkeit, das repräsentative Vertretungsprinzip mit einer egoistischen Interessenvertretung zusammenzubringen.
Allerdings hat die Delegation aus dem KV als möglicherweise ganz gemischt zusammengesetzter Gruppe heraus auch Vorteile: Im Idealfall findet Willensbildung über politische Differenzen dann schon auf dieser Ebene statt. Und es prallen nicht erst auf dem Bundesparteitag 400 Delegierte der AG Kunst auf 400 Delegierte der AG Netz.
Warum blogge ich das? Weil Tweets so flüchtig sind, und ich die ganz unterschiedlichen Sichten auf Delegationen hervor- und aufhebenswert fand.
P.S.: Dieser Ausschnitt aus einer Stunksitzung zu Grünen und Piraten passt auch noch mit rein …
Photo of the week: Big No
Gestern war ich mit den Kindern bei der – wohl relativ spontan organisierten – Menschenkette in der Freiburger Innenstadt anlässlich des 1. Jahrestags der Fukushima-Katastophe. Ein umfassender Bericht dazu steht bei der Badischen Zeitung.
Was mich etwas irritierte, war eine Begegnung nach der Menschenkette, als ich mich mit Kind an der einen Hand und Fahne in der anderen Hand zu unserem Fahrrad bewegte. Ein älterer, mir unbekannter Herr passte mich ab und sprach mich dann unvermittelt an, ja eigentlich setzte er direkt zu einer Schimpfkanonade an. Ob ich, wie der Fahne zu entnehmen sei, gegen Atomkraft wäre? Ja? Das sei völlig unverantwortlich, ich solle doch erwachsen werden, vielleicht sei ich ja auch gegen Kohlekraftwerke, dabei brauchten doch alle grünen Pflanzen CO2. Nachdem ich versuchte, ruhig zu bleiben und zu erläutern, dass ich durchaus gute Gründe für meine Meinung habe, platzte es dann aus ihm heraus – unverantwortlich sei es auch, wenn so einer wie ich Kinder in die Welt setzte etc.
Fand ich äußerst unangenehm. Zum einen, weil ich den Eindruck hatte, dass da einfach ein missionarischer Autosermon abgespult wurde, und jeder Versuch meinerseits, zu argumentieren, zu erläutern, sich überhaupt erstmal auf sowas wie Gesprächsregeln zu einigen, abgewürgt wurde, um auf einer (für einen mir Unbekannten) extrem persönlichen Ebene zu auf mich loszugehen. Ja, mit 37 fühle ich mich erwachsen.
Da dann ruhig zu bleiben, finde ich ziemlich schwer – ich habe ihn dann letztlich mit einem „Was wollen Sie denn eigentlich, lassen Sie mich doch in Ruhe“ oder so stehen lassen. Fazit: Trolle gibt’s nicht nur im Netz.
Besonders unangenehm fand ich das ganze, weil ich eben mit dreijährigem Kind an der Hand dumm angequatscht wurde (während der Menschenkette gab’s naturgemäß eher positives Feedback). Wer so viel Wert auf „Erwachsensein“ legt wie dieser Real-Life-Troll, sollte sich vielleicht mal kurz überlegen, was für einen Eindruck es auf ein Kind macht, wenn dessen Vater aus heiterem Himmel beschimpft wird. Selbst wer es für völlig unverantwortlich hält, gegen Atomkraft zu sein, muss sich – speziell in einer solchen Situation – doch nicht wie ein Rohrspatz verhalten, oder?
Kurz: Keine Blumen zum Frauentag
Heute ist der 101. Internationale Frauentag. Als symbolischer Anlass dafür, auf die weiterhin fehlende Gleichstellung von Frauen und Männern hinzuweisen, ist das ein wichtiges politisches Datum. An dem dann alle politischen Seiten für Gleichstellung sind, authentisch aber nur die in Erscheinung treten, die sich auch an den übrigen Tagen des Jahres dafür verkämpfen. In diesem Sinne finde ich den Frauentag richtig und wichtig.
Es gibt nun eine Tendenz – wohl ein DDR-Import im Verein mit dem Blumenhandel – den Tag auch als persönlichen Dankestags an „die Frau“ oder „die Frauen“ zu gestalten. Da habe ich Bauchweh bei. Und zwar, weil hinter dem einmal pro Jahr herausgehobenem Dank ein versteckter Undank steht, eine diskriminierende Normalitätserwartung. Die wird sichtbar, wenn gefragt wird, wofür „den Frauen“ den gedankt wird. Ihr So-sein als gesellschaftliche Tatsache kann es eigentlich nicht sein.
Denkbar wäre dann, dass der sozialistisch inspirierte Dank sich auf Leistungen in weiblich konnotierten Handlungsfeldern bezieht – Familienarbeit, Hausarbeit, Beziehungsarbeit. Dafür zu danken, legitimiert hier die Asymmetrie – für eine emanzipierte Gesellschaft hilfreicher erscheint es mir, hier (als Mann) alltäglich selbst zu Putzlappen und Windeln zu greifen, statt einmal im Jahr „der Frau“ dafür zu danken.
P.S.: Aus Gründen der Zuspitzung verzichte ich auf einen Schlenker zur feministischen Anerkennungsdebatte.
Photo of the week: Evening sky remix
Seit ein paar Tagen ist hier wunderbares Frühlingswetter (zwischendrin mal Nebelmorgende) – könnte meiner Meinung nach das ganze Jahr über so bleiben. Der Stuttgarter Schloßplatz am 1. März oder die Freiburger Innenstadt heute: Lauter fröhliche Leute, die sich in die ersten Sonnenstrahlen wagen. Urbanität, Straßenmusik, kein Wetterstress. Frühling – die nette Jahreszeit.