In den Faschingsferien war ich touristisch in Hamburg – hier ein Blick von der Aussichtsplattform der Elbphilharmonie auf den Hafen. Außerdem das übliche, d.h.: die sehr, sehr volle Caspar-David-Friedrich-Ausstellung, deren zweiter Teil (Konfrontation der Friedrich-Bilder mit heutigen Reinterpretationen) fast interessanter war als der erste, Miniaturwunderland, Katzencafe, Hafenrundfahrt …
Über Infrastruktur, und wie wir sie erhalten können
Ich gebe zu, dass ich bei dem Thema etwas voreingenommen bin. Eine von den Dingen, die ich wirklich aus meinem Soziologiestudium mitgenommen habe, ist Praxistheorie: gesellschaftliche Regeln, Erwartungen usw. verfestigen sich, indem sie immer wieder wiederholt werden – und damit Bahnen schlagen für genau diese Regeln und Erwartungen. Es ist so, weil es schon immer so war. Soziale Strukturbildung ist fluide. Jetzt kommt Technik ins Spiel: in Infrastruktur und Artefakte gegossene Erwartungen sind sehr viel fester als bloße soziale Erwartungsbündel und tragen dazu bei, diese über die Zeit festzuschreiben. Bis hin zu kontingenten Entscheidungen, die heute extremen Einfluss darauf haben, was wir glauben zu tun zu können und was nicht. Egal, ob es das Layout von Tastaturen ist oder die Spurweite der Eisenbahn oder die Orientierung ganzer Städte auf das Auto. Mit Elizabeth Shove gesprochen: soziale Praktiken bestehen aus einer Trias aus Skills/Handeln, Bildern/Vorstellungen/Wissen und eben Artefakten. Was ich sagen will: das Wechselspiel zwischen Infrastruktur und sozialer Strukturbildung fasziniert mich.
Genau da setzt Deb Chachras Buch How Infrastructure Works. Inside the Systems That Shape Our World (2023) an. Chachra – eine Professorin für Materialwissenschaft – beginnt (wie im ganzen Buch mit einem sehr lakonischen, anspielungsreichen und auch vor Wortspielen nicht zurückschreckenden Stil) mit einer Einführung, was Infrastrukturen überhaupt sind, wie es dazu kommt, dass es sie gibt, und wie Infrastrukturen aufeinander aufbauen. Und schon ziemlich früh in ihrem Buch macht sie klar, dass Infrastruktur eben auch etwas mit Macht zu tun hat, und ohne soziale Einbettung – und ohne soziale Wirkung – überhaupt nicht denkbar ist. Besonders an dem Buch ist zudem die vielfältige Perspektive. Chachra ist die Tochter von nach Kanada eingewanderten Inder*innen, und sie lebt inzwischen in den USA, zwischenzeitlich in Großbritannien. Das sind die Kontrastfolien, die immer wieder auftauchen.
Was im ersten Teil eher wie eine gute geschriebene Einführung in die Geschichte von Wasser, Gas, Elektrizität (und Verkehr) wirkt, wird dann schnell zu einem politischen Buch. Die Infrastruktur, die wir als gegeben hinnehmen, und die ein Ergebnis (und eine Grundlage) der Akkumulation von Reichtum in den westlichen Gesellschaften darstellt, ist ohne lange Handlungsketten, ohne Ausbeutung des globalen Südens, nicht denkbar. Infrastruktur ist in soziale und politische Systeme eingebettet und perpetuiert diese.
Oder, um es in zwei Zitate zu packen: „Infrastructural networks, by their nature, increase individual freedom collectively.“ (S. 115) – „Infrastructural networks could be fairly described as vast constructions whose purpose is to centralize resources and agency to a small fraction of extremely priviledged humans and to displace the harms to many others.“ (S. 134)
Chachra geht nun darauf ein, wie Infrastruktur „fails“ (fehlschlägt, kaputt geht – ich finde, das lässt sich nicht so richtig gut übersetzen). Das sind nämlich nicht nur Terroranschläge etc., sondern insbesondere auch langsam anwachsende Wartungsprobleme, weil zum Beispiel kein Geld da ist, um Brücken zu sanieren. Diese Art von Problemen nennt Chachra in Abgrenzung von „black swans“ und „gray swans“ dann „red termites“ – lästig, fast unsichtbar, gut ignorierbar, und irgendwann stürzt die Brücke dann ein. („Any sufficiently advancded negliegence is indistinguishable from malice.“ (S. 161))
Funktionierende Erhaltung von Infrastruktur hat wiederum sehr viel damit zu tun, wie diese politisch eingebettet ist – geht es darum, einen Profit zu erwirtschaften, oder steht das Allgemeinwohl im Vordergrund? Wie viel Geld wird zur Verfügung gestellt, und wie wird die scheinbar so langweilige Routinearbeit der Überprüfung und Instandsetzung bewertet?
Neben Schwänen und Termiten taucht dann auch ein „gray rhino“ auf – das graue Nashorn, das längst im Raum steht, und gerne ignoriert wird, egal, wie es sich benimmt: der Klimawandel. Das es diesen gibt, hat viel mit Infrastruktur zu tun – im Bau und Betrieb von Infrastruktur steckt Energie, und die ist für die letzten 200 Jahre vor allem fossile Energie. Gleichzeitig führt der Klimawandel dazu, dass Infrastruktur Problemen ausgesetzt ist, die bisher unvorhergesehen sind. Jahrhundertstürme und ‑hochwasser häufen sich, Temperaturen schwanken über Bereiche hinaus, für die Straßen oder Stromleitungen vorgesehen sind. Der Klimawandel trägt also dazu bei, dass unsere für selbstverständlich hingenommene Infrastruktur schneller und schneller bröckelt und repariert und angepasst werden muss.
Wie das geschehen kann – und damit schlägt Chachra dann den ganz großen Bogen – wird in den letzten Kapiteln des Buchs ausgeführt, in dem sie eine Zukunftsvision zeichnet. Die besteht nicht aus glitzernder Hightech, sondern baut auf einer dezentralisierten, flexiblen und resilienten Grundlage auf. Das mag langweilig wirken, ist aber eine sehr viel konkretere Utopie. Aus einer Einführung in die Politik der Infrastrukturen wird hier ein gut begründetes politisches Manifest, das in sechs Handlungsmaximen mündet:
- Plan for Abundant Energy and Finite Materials
- Design for Resilience
- Build for Flexibility
- Move Toward an Ethics of Care
- Recognize, Prioritze, and Defend Non-monetary Benefits
- Make It Public
Das scheinen mir sehr gute Orientierungsplanken zu sein – und zwar ganz egal, ob es um Verkehrssysteme, Städteplanung, Kommunikationssysteme, Elektrik oder die Wasserver- und ‑entsorgung geht. Die Zusammenhänge, die Chachra zwischen Nachhaltigkeit im Sinne von Dauerhaftigkeit, einer gewissen Nutzungsflexibilität und dem Fokus auf Resilienz auf macht, erscheinen sehr plausibel. Dazu gehört auch der inhärente Widerspruch zwischen Optimierung/Effizienz einerseits und Resilienz andererseits. Ein System, das mit Änderungen seiner Umwelt, mit Problemen und Störungen klar kommen soll, braucht eine gewisse Redundanz, braucht „slack“. Und genau die fällt weg, wenn das System bis zum letzten Winkel auf Effizienz getrimmt wird.
Ganz nebenbei räumt Chachra hier in gelungener Weise mit dem Mythos auf, dass der individuelle Fußabdruck, wie ihn BP erfunden hat, ein hilfreiches Maß ist. Entscheidend sind die großen technischen Systeme, weil diese nicht nur unser Handeln ermöglichen und lenken, sondern in deren Bau und Betrieb auch der Löwenanteil unserer CO2-Emissionen steckt.
Insgesamt also ein rundum empfehlenswertes Buch, nicht nur für Nerds, sondern für alle, die eine Handlungsanleitung für den Umbau der technischen Welt, in der wir leben, brauchen können.
Proteste und Proteste
Die Proteste für Demokratie und gegen Rechts gehen weiter – gestern gingen beispielsweise in meinem Heimatort Gundelfingen rund 2000 Leute auf die Straße, um gemeinsam für Vielfalt, für die Menschenrechte und die Menschenwürde und gegen Rechtsextremismus zu demonstrieren. Es hat mich gefreut, dass das in unserer manchmal doch beschaulichen Gemeinde Konsens ist. Und auch wenn die Demo und Kundgebung bürgerlicher geprägt war als die großen Demonstrationen in Freiburg, und der eine oder andere es nicht lassen konnte, auch ein Abgrenzung von „Straßenblockierern“ mit unter zu bringen: unterm Strich stimmt die Botschaft.
Auch ganz andere Proteste fanden in den letzten Tagen statt. Egal, wo Grüne eine Veranstaltung machen – Traktoren sind auch schon da. Warum das so ist, ist mir nicht ganz klar, vor allem: warum das nur bei uns so ist, und andere Parteien „verschont“ werden, etwa die Union, die über Jahrzehnte die Landwirtschaftspolitik gestaltet hat, oder SPD und FDP, die ja maßgeblich die Haushaltskürzungen mit zu verantworten haben, Stichwort „keine Abkehr von der Schuldenbremse“. Mir ist ehrlich gesagt auch nicht so ganz klar, was die Landwirt*innen eigentlich erreichen wollen. Die schwierige Lage der Branche ist bekannt. Um den Agrardiesel scheint es längst nicht mehr zu gehen. Wenn konkretes genannt werden soll, kommt dann oft ein Potpourri von „Ampel muss weg“ bis „Bürgergeld abschaffen“. Und da wird dann auch deutlich, wie groß der Einfluss rechter bis verschwörungstheoretischer Kanäle auf die Bauernproteste inzwischen ist.
Am Aschermittwoch wurde das dann noch einmal deutlicher. Ich war selbst nicht dabei, aber die Lage beim grünen politischen Aschermittwoch in Biberach muss wohl schlimm gewesen sein. Neben einer lauten, inhaltlich grenzwertigen, aber noch im Rahmen befindlichen Bauerndemo gab es dort Proteste vor der Halle, die auf Aufrufe in WhatsApp- und Telegram-Gruppen zurückgingen, und zu denen sich niemand so richtig bekennen wollte. Berichtet wurde mir von brennenden Strohballen, von Menschen mit Motorsägen herumfuchtelten, von Plakaten, die Grüne mit Unkraut gleichsetzten, und von einer Stimmung, in der ein demokratischer Dialog nicht mehr möglich war. In Abstimmung mit der Polizei wurde der politische Aschermittwoch dann abgesagt, weil die Sicherheit der Teilnehmenden nicht zu gewährleisten war.
Soweit, so schlecht. Was mich aber noch mehr schockiert hat als eine Polizei, die wohl kursierende Telegram-Aufrufe nicht richtig einschätzen konnte, war die Haltung insbesondere der Union danach – zusammengefasst war das, bis hin zum für die Polizei in Baden-Württemberg zuständigen Innenminister, oft ein „die Grünen sind selbst schuld, wenn die Ampel …“. Bei allem Verständnis für harte politische Auseinandersetzungen, und um den Bogen zu den großen Kundgebungen für die Demokratie zu schlagen: eine solche Haltung mag kurzfristig zu Geländegewinnen beitragen. Langfristig macht diese fehlende Empathie und fehlende Solidarität unter Demokrat*innen unsere Demokratie kaputt. Wenn alles nur noch Skandal ist, wenn jeder Fehler gleich ausgenutzt wird, wenn Sprache tagein tagaus in harte Bandagen gepackt wird – dann hat die AfD ein leichtes Spiel, weil das ihr Spiel ist. Und darauf sollte sich niemand einlassen. Weder protestierende Berufsgruppen noch Parteien, die miteinander koalitionsfähig bleiben wollen.