Scheinbar einbetoniert

Eine Viel­zahl von Umfra­ge­insti­tu­ten ver­öf­fent­li­chen gera­de wöchent­lich ihre Wahl­um­fra­gen. Deren Aus­sa­ge­kraft ist einer­seits begrenzt – bei den letz­ten Wah­len gab es teil­wei­se erheb­li­che Abwei­chun­gen – ande­rer­seits sagen sie in der Sum­me und im Ver­gleich inner­halb der jewei­li­gen Umfra­ge doch etwas aus. 

Wer sich selbst ein Bild davon machen möch­te, fin­det bei vie­len Medi­en ein­ge­bet­te­te Dia­gram­me. Die Roh­da­ten stam­men oft von wahlrecht.de, die eine weit zurück­grei­fen­des Archiv der Sonn­tags­fra­ge-Umfra­gen aller gro­ßen Insti­tu­te pfle­gen (und das nicht nur für die Bun­des­tags­wahl, son­dern auch für Land­tags­wah­len und Abfra­gen zur Bun­des­tags­wahl in ein­zel­nen Län­dern). Eine beson­ders gelun­ge­ne Visua­li­sie­rung ist aus mei­ner Sicht der Pol­ly­tix-Wahl­trend.

Wahlrecht.de archi­viert bei FGW und GMS nicht nur deren Pro­jek­ti­on, son­dern auch die „Roh­da­ten“ (poli­ti­sche Stim­mung). Das, was land­läu­fig als Sonn­tags­fra­ge prä­sen­tiert wird, ist die Pro­jek­ti­on: die vom Umfra­ge­insti­tut nach Demo­gra­fie, aber auch nach „secret sau­ce“ gewich­te­ten Roh­da­ten der jewei­li­gen tele­fo­ni­schen oder digi­ta­len Befra­gun­gen. Zwi­schen bei­den gibt es erheb­li­che Unter­schie­de. So lagen Grü­ne in der poli­ti­schen Stim­mung bei der FGW lan­ge über 20 Pro­zent (aktu­ell noch 17 Pro­zent); in der Pro­jek­ti­on wer­den im glei­chen Zeit­raum jeweils 14 bis 15 Pro­zent aus­ge­wie­sen – mit Blick auf erwünsch­te Ant­wor­ten und die tat­säch­li­chen Ergeb­nis­se der letz­ten Wah­len wohl rea­lis­ti­scher. Mit etwas Pes­si­mis­mus wür­de ich sogar sagen: eher noch zu hoch gegrif­fen, die 12 bis 13 Pro­zent, die gera­de von vie­len ande­ren Insti­tu­ten für Grü­ne aus­ge­wie­sen wer­den, wir­ken – lei­der – plausibler. 

Gleich­zei­tig wird bei die­ser Ein­schät­zung deut­lich, wie diver­gie­rend die Wirk­lich­kei­ten sind, in denen wir uns bewe­gen. Die Demons­tra­tio­nen, Rekord­zu­nah­men an Mit­glie­dern (Grü­ne inzwi­schen über 168.000!) und das hohe Maß an Enga­ge­ment im Orts- und Kreis­ver­band spie­geln genau­so wie mei­ne Time­line auf der euro­päi­schen Social-Media-Platt­form Mast­o­don eine Welt wie­der, in der Grü­ne bei min­des­tens 25, viel­leicht sogar 40 Pro­zent lie­gen müss­ten. Und auch die Begeg­nun­gen am Info­stand sind größ­ten­teils freundlich. 

In den Umfra­gen ist in den letz­ten Wochen jen­seits von sta­tis­ti­schen Schwan­kungs­brei­ten hier dage­gen nichts pas­siert. Im Mit­tel lagen wir die letz­ten Wochen kon­stant bei 13,x Pro­zent, bei eini­gen Insti­tu­ten mit Aus­schlä­gen nach oben Rich­tung 14, 15, 16 Pro­zent, bei ande­ren dage­gen mit Wer­tun­gen um 12 Pro­zent. Weder der Par­tei­tag noch Merz unsäg­li­ches Anbie­dern an die AfD haben einen Robert-Hype aus­ge­löst. Und jetzt, in den letz­ten Tagen vor der Wahl, scheint es wenn über­haupt eher eine Anglei­chung nach unten zu geben.

Wo es dage­gen Bewe­gung gibt, ist bei der Lin­ken. Nicht nur das über­ra­schen­de Ergeb­nis der U18-Wah­len und der eine oder ande­re Tik­Tok-Auf­tritt, son­dern auch die Stim­mung im eige­nen Umfeld wei­sen gera­de dar­auf hin, dass aus „unklar, ob die Lin­ke in den Bun­des­tag ein­zieht“ jetzt doch eher ein „6, 7 oder sogar 9 Pro­zent“ wer­den wird. Mit Blick auf sonst ver­lo­re­ne Stim­men und eine all­ge­mei­ne Stär­kung pro­gres­si­ver Kräf­te lie­ße sich dem sogar etwas posi­ti­ves abge­win­nen – lie­ber „Lin­ke“ als Klein­par­tei­en, die eh nicht ein­zie­hen. Den­noch habe ich das Gefühl, dass die­se Stim­men zu einem gro­ßen Teil von Men­schen kom­men, die sich auch hät­ten vor­stel­len kön­nen, Grün zu wäh­len – und es jetzt nicht tun werden.

Das hat neben dem Trend und der Tat­sa­che, dass die Ampel trotz aller Erfol­ge – die die CDU jetzt vom Deutsch­land­ti­cket über das Selbst­be­stim­mungs­ge­setz und das Gebäu­de­en­er­gie­ge­setz bis zur Can­na­bis­frei­ga­be zurück­dre­hen will – ins­ge­samt eher nega­tiv gewer­tet wird. Die Lin­ke ist in die­ser Hin­sicht attrak­tiv und unver­braucht. Und statt das Momen­tum der Demons­tra­tio­nen zu nut­zen, gab es dann gleich wie­der ein Blin­ken Rich­tung Mit­te-Rechts im Team Robert. Ich hät­te nicht dazu gera­ten. Noch weni­ger hilf­reich fand ich es dann jedoch, den eige­nen Sicher­heits­plan wie­der zurück­zu­zie­hen und kurz dar­auf erneut auf den Markt zu brin­gen. Das passt über­haupt nicht zu Grü­nen als Par­tei mit kla­ren Kon­zep­ten und dem Anspruch, Ori­en­tie­rung zu geben – statt den Schwan­kun­gen der Umfra­gen hinterherzulaufen.

Nichts­des­to­trotz emp­feh­le ich wei­ter­hin, Grün zu wäh­len – es gibt sehr vie­le gute Abge­ord­ne­te, bei denen ich mir wün­schen wür­de, dass sie ihre Arbeit in Ber­lin fort­set­zen kön­nen. (Der Man­dats­rech­ner gibt einen Ein­druck, wer je nach ange­nom­me­nen Wahl­er­geb­nis rein­kommt und wer nicht – selbst bei einem gleich­blei­ben­den Wahl­er­geb­nis führt das neue Wahl­recht mit har­ter Ober­gren­ze zu einer Ver­klei­ne­rung der grü­nen Bun­des­tags­frak­ti­on. Soll­te nicht nur die Lin­ke, son­dern auch BSW oder FDP ein­zie­hen, wird es noch enger.)

Und wenn ich mir anschaue, was für eine Lücke links von Merz und rechts von Rei­chi­nek klafft, dann fin­de ich uns Grü­ne mit 12–14 Pro­zent wei­ter­hin eher unter­be­wer­tet. Gera­de in die­sen Zei­ten, in denen die Welt unsi­che­rer wird, in der die CDU glaubt, mit Trump reden zu kön­nen, und in der der eins­ti­ge „Kli­ma­kanz­ler“ Scholz nie auch nur einen Gedan­ken an den Kli­ma­wan­del ver­schwen­det, wäre eine star­ke grü­ne Frak­ti­on wichtig.

Wenn das Wahl­er­geb­nis ähn­lich aus­fällt, wie es die schein­bar ein­be­to­nier­ten Umfra­gen sug­ge­rie­ren, dann bleibt nur eine CDU+x‑Koalition – und die Hoff­nung, dass x nicht die AfD ist. Die Auf­ga­be, die auf Grü­ne oder SPD als mög­li­cher Koali­ti­ons­part­ner die­ser Uni­on zukommt, ist gewal­tig. Denn letzt­lich muss es dar­um gehen, zu ver­hin­dern, dass der Kopf-durch-die-Wand-Merz das umsetzt, was er im Wahl­kampf ver­spro­chen hat. Sonst sieht’s düs­ter aus, dann bleibt die Ampel ein klei­ner Reform­schritt, der schnell wie­der ver­ges­sen ist.

Bes­ser wäre es natür­lich, wenn sich doch noch etwas bewegt, wenn Grü­ne und SPD noch deut­lich zule­gen. Für wahr­schein­lich hal­te ich das nicht. Aber man soll die Hoff­nung ja nie aufgeben.

Wahr­schein­li­cher – und des­we­gen spre­che ich von schein­bar sta­bi­len Umfra­ge­er­geb­nis­sen – sind aus mei­ner Sicht drei Punkte:

  • Ich hiel­te es poli­tik­hy­gie­nisch für gut, wenn die FDP tat­säch­lich unter 5 Pro­zent bleibt. Aus­ge­macht ist das noch nicht, aktu­ell bewegt sie sich wie­der auf die 5‑Pro­zent-Hür­de zu – und das, obwohl Merz klar gemacht hat, dass das neue Wahl­sys­tem mit Direkt­man­dat­de­ckung durch die Zweit­stim­me kei­ne Leih­stim­men mehr zulässt. Ein Ergeb­nis von knapp über fünf Pro­zent am Wahl­abend erscheint mir mög­lich. Auch der Blick auf Unter­neh­mens­spen­den und gro­ße Medi­en­be­rich­te ist da ein Indiz.
  • Am schwers­ten bewert­bar erscheint mir die AfD. In den meis­ten Umfra­gen wird sie bei 20 Pro­zent geführt und hat zuletzt leicht ver­lo­ren. Ent­hül­lun­gen wie der Spen­den­skan­dal schei­nen aber nicht zu scha­den, im Osten liegt sie auch bei der U18-Wahl klar vor­ne – ich kann mir hier eine hohe Vola­ti­li­tät vor­stel­len, mit einem Ergeb­nis, das am Ende deut­lich unter oder deut­lich über zwan­zig Pro­zent lie­gen kann.
  • Im län­ge­ren Trend hat die CDU/CSU seit Anfang des Jah­res eher ver­lo­ren. In den Umfra­gen wird sie meist bei 30 Pro­zent geführt. Hier kann ich mir – mit Ver­schie­bun­gen Rich­tung FDP oder AfD und mit der ganz offe­nen Fra­ge, wie hoch der Mobi­li­sie­rungs­fak­tor von Merz wirk­lich ist – vor­stel­len, dass es am Sonn­tag an der Wahl­ur­ne deut­lich unter 30 Pro­zent wer­den, und das tat­säch­li­che Ergeb­nis eher in Rich­tung 27 Pro­zent geht.

Wenn ich das zusam­men­neh­me, kom­me ich zu einem aus mei­ner Sicht nach heu­ti­gem Stand mög­li­chen Wahl­aus­gang, bei dem BSW drau­ßen bleibt, die Lin­ke deut­lich ein­zieht (sagen wir: 8,5%), die FDP knapp rein­kommt (5,1%), wir Grü­ne eher am unte­ren Ende der Umfra­gen lan­den (12,5%), die SPD viel­leicht auf 16 Pro­zent kommt, die AfD eher bei 23 Pro­zent lan­det und CDU/CSU zusam­men nur 27,5 Pro­zent erreichen.

In einem sol­chen Par­la­ment sähe die Sitz­ver­tei­lung (laut Man­dats­rech­ner) wie folgt aus:

Par­tei Sit­ze
CDU/CSU 187
AfD 156
SPD 109
Grü­ne 85
Lin­ke 58
FDP 35

Eine Mehr­heit inner­halb des mit­ti­gen Spek­trums hät­ten hier nur Uni­on + SPD + FDP oder Uni­on + SPD + Grüne. 

Schön ist was anderes. 

Trotz­dem kann ich mir vor­stel­len, dass es so kommt. 

Aber viel­leicht ist das auch Ansporn, in den letz­ten Tagen vor der Wahl noch ein­mal hart in den Wahl­kampf zu gehen. Es ist eine Bin­sen­weis­heit, aber es kommt gera­de bei die­sen bei aller schein­ba­rer Starr­heit so vola­ti­len Lagen wirk­lich auf jede Stim­me an. 

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