Grade erst habe ich meine SF-Sammelbesprechung gepostet, die nächste dauert noch ein bisschen – aber von diesem Buch war ich so begeistert, dass ich es außerhalb der Reihe unbedingt ans Herzen legen möchte.
Ruthanna Emrys sagte mir bisher nichts, ihre vorherigen Werke scheinen eher in Richtung Horror-Subversion zu gehen, nicht unbedingt mein Feld. Mit A Half-Built Garden (2022) ist jetzt bei Tor ein lupenreiner Science-Fiction-Roman von ihr erschienen, der nicht nur an Le Guin erinnert – worauf bereits der Klappentext aufmerksam macht – sondern für mich auch Anklänge an Marge Piercys He, She and It (1992) aufweist, etwa mit Blick auf die jüdischen Feiertage und Rituale, die im Buch eine Rolle spielen, mit Cory Doctorows Walkaway (2017) einen Raum für zeitgenössische Utopien eröffnet, Kim Stanley Robinsons tiefen Blick für ökologische Zusammenhänge aufnimmt und eine Idee aus Karl Schroeders Stealing Worlds (2019) zu Ende denkt: die enge Vernetzung von Menschen und Natur, die in technologischer Umsetzung von Bruno Latours Aktor-Network-Theory stattfindet.
Soweit zum Namedropping – worum geht es? Judy Wallach-Stevens, die Heldin des Buches, und zugleich fast durchgehend die Person, aus deren Augen wir die Handlung wahrnehmen, lebt im Jahr 2083 in der Chesapeake Bay. In heutigen Begriffen geht es um Virgina, Maryland, Washington D.C. und New Jersey – im Jahr 2083 dieses Buches existieren Nationalstaaten zwar formal noch, spielen praktisch betrachtet aber kaum noch eine Rolle. Vielmehr ist die Welt nach ökologischen Prinzipien organisiert, d.h. entlang von Wasserscheiden haben sich nach einer Dandelion Revolution (also der Löwenzahn-Revolution) Gemeinschaften gebildet, deren Kern eine Art soziales Netzwerk darstellt. In diesem Netzwerk werden Entscheidungen besprochen und dann getroffen – nicht rein demokratisch, sondern nach Abwägung der Kompetenz (abgebildet durch vorherige Bewertungen) der Beteiligten, und unter Einbeziehung von AIs, die natürliche Entitäten wie den Potomac-River repräsentieren und dabei auf umfangreiche Sensor-Netzwerke zurückgreifen, die ständig alle möglichen Umweltfaktoren messen und bewerten.
Die Welt im Jahr 2083 ist dabei, die ökologische Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu überwinden – langsam, Schritt für Schritt. Die Sommer sind unerträglich heiß, es gibt Hurrikane und Wirbelstürme, Energie wird lokal produziert und verteilt, und die Carbon Budgets sind eng begrenzt. Das Leben spielt sich vor allem vor Ort ab, auch wenn es weiterhin überregionale Vernetzungen gibt. Die Menschen in den Wasserscheiden verstehen sich als Stewards, um das komplexe ökologische Zusammenwirken zu verstehen und aufrechtzuerhalten – gegebenenfalls auch mit gentechnischen Eingriffen und der Einbringung klimarobusterer Arten in die Ökosysteme. Die Erde ist noch kein Garten, aber auf dem Weg dorthin.
Das Zusammenleben in der Chesapeake-Bay findet in Kommunen und großen Wahlfamilien statt. Es ist selbstverständlich, Pronomen zu nennen; zumindest in der Generation der Protagonistin sind Trans-Geschlechtsidentitäten eine Selbstverständlichkeit. Chesapeake Bay lässt sich als „woke“ Utopie lesen, als Skizze eines nicht konfliktfreien, aber sich einer besseren und bewussteren Gesellschaft annähernden Lebensweise.
Ein Schritt auf dem Weg, solche progressiven Inseln und Netzwerke zu schaffen, war die Entmachtung der Konzerne. Deren Anhänger*innen haben sich auf künstliche Eilande zurückgezogen. Anders als in Le Guins Dispossessed mit dem holzschnittartigen Kontrast von Anares und Urras sind die Eilande der Konzerne zwar durch und durch kapitalistisch, weisen jedoch eine cyberpunkige Faszination auf: glitzernde Hochhäuser, das Licht der Werbetafeln, Street Food – und ein ausgeklügeltes Spiel mit Symbolen, seien es die fünf oder sechs hier einsetzbaren, in sich klar umrissenen, im Wechsel dazwischen jedoch maximal fluiden Geschlechterollen, seien es Modestatements oder andere Formen des immerwährenden Wettbewerbs.
Auf der Erde in Emrys 2080er Jahren ko-existieren also insbesondere zwei ganz unterschiedliche Lebensmodelle. Vereinfacht und mit der Brille der 1980er Jahre: Ökos und Yuppies. Wobei der Cyberpunk-Aspekt der Konzern-Eilande nicht bedeutet, dass in den Watersheads Technik abgelehnt wird – augmented reality, künstliche Intelligenz, das die Gemeinschaft durchziehende Netzwerk, ein umfangreiches Internet of Things – all das gehört ganz selbstverständlich zum Alltag von Judy dazu. Und, einer der vielen Denkanstöße, die dieses Buch gibt: die halbwegs erfolgreiche Heilung der Ökosysteme gelingt nur in der Kombination von politischem Willen und Technik.
Soweit ein anregendes Setting, in sich schon eine Art Utopie. Doch das Ganze ist nur der Hintergrund für die eigentliche Handlung des Buchs: ein Raumschiff landet in der Chesapeake Bay. Judy ist zufällig die erste, die sich dem Schiff nähert, nachts, mit Kind im Tragetuch – weil einer der Sensoren, die sie überwacht, ungewöhnlich starke Nährstoffeinträge ins Wasser meldet. „We come in peace“, und weil die Aliens, die „Ringer“, unsere Radio- und Fernsehsignale studiert haben, gibt es soweit keine Verständigungsprobleme. Das Kind im Tragetuch erweist sich als wichtig. Die Ringer-Kultur ist ein Matriarchat, auf dem Schiff hat die First Mother das Sagen – und die geht davon aus, dass wichtige Verhandlungen nur mit Kind vor dem Bauch stattfinden können. Judy wird nolens volens nicht nur zum ersten Kontaktpunkt, sondern gleich zur Leiterin der Erd-Delegation.
Die Ringer – zwei in Symbiose lebende Spezies – haben einen Vorschlag dabei: Sie würden die Menschheit gerne retten. Denn alle Empirie zeigt, dass Planeten Todesfallen sind, und technische Zivilisation nur auf Habitaten im All selbst existieren können. Und diesmal sind die Ringer rechtzeitig da, um die menschliche Zivilisation zu evakuieren.
Den halb geheilten Garten Erde, das Jahrhundertprojekt des Lebens im Einklang mit der Ökologie des Planeten aufgeben? Für die Watersheads auch nach basisdemokratischer Deliberation undenkbar, für die Rest-USA-NASA ein Traum, für die Konzerne eine einmalige Chance, wieder ihre vorherige Macht zurückzugewinnen.
Aus diesen Zutaten mixt Emrys ein humor- und respektvoll geschriebenes Panorama. Und wie es sich für gute SF gehört, ist Half-Built Garden packend, ohne auf eine tiefere Schicht zu verzichten. Manche der Probleme aus dem Jahr 2083 sind sehr gegenwärtig, und manche der Lösungsansätze – bis hin zur Suche nach gemeinsamen Zielen an Stelle des Streits um Wege – bieten sich für Heute an. Gleichzeitig lässt sich Half-Built Garden auch schlicht als eine gute und gut erzählte Geschichte lesen – was ich hiermit wärmstens empfehlen möchte.
Das hört sich sehr spannend an und ist eine begeisterte Rezension. Deinen Empfehlungen schätze ich sehr – habe das Buch schon gekauft.