Krieg in Europa. Eine Zeitenwende, eine neue Geopolitik. Die großen Krisen, die mehr und mehr den Alltag bestimmen.
Das alles ruft, um in den üblichen Phrasen zu bleiben, nach „einer harten Hand“, nach „klarer Kante“, nach „Zumutungen und Einschränkungen“, oder, auf die Spitze getrieben, nach „Blut, Schweiß und Tränen“. Die Zeitenwende, der Bruch zwischen vorher und nachher gehört zu diesem Inventar, die neue Bedeutung der Bundeswehr, und ebenso Debatten darüber, ob kalt duschen, ungeheizte Wohnungen und harte Sanktionen angemessen sind oder nicht.
In diesem Kontext liegt es erst einmal nicht nahe, über eine sanftere Zeit zu spekulieren.
Trotzdem glaube ich, dass es diese Option gibt. Keine Angst: ich meine damit nicht, jetzt einfühlsam Putins verletzte Seele verstehen zu wollen und das Allheilmittel „Gespräche“ aus der 80er-Jahre-Aktentasche mit dem Friedenstaubenaufkleber zu holen. Das ist in dieser Situation nicht die richtige Antwort, außenpolitisch scheint „Stärke“ leider tatsächlich gefragt und wirksam zu sein.
Aber wenden wir den Blick nach innen.
Wir kommen aus einer sehr individualistischen Epoche. Einer Epoche, in der Protz und Angeberei für manche zum guten Ton gehörte. Eine, in der irgendwie alles möglich war, auch deswegen, weil weder die Herstellungsbedingungen noch die Umweltfolgen von all dem irgendwen interessieren mussten. Wir konnten es uns gut gehen lassen. Also, jeder für sich!
Jedenfalls die, die es sich leisten konnten. Die anderen interessierten nicht. Und in den fortschrittlicheren Milieus wurde der individuelle Konsum in schöne Erdfarben getunkt, etwas Beige hier, etwas Olive da, mit Nachhaltigkeitssiegel an der Flugfernreise und ganz viel Achtsamkeit. Was ja letztlich auch nur heißt, immer und überall die eigenen Bedürfnisse erspüren zu können.
Unterhalb der Oberfläche dieser Ästhetik – der billigen Konsumästhetik genauso wie der Ästhetik der nachhaltigen Erdtöne – stand dann aber letztlich doch erstens ein Egalsein, ein Rückzug ins Eigene – hie auf der Suche nach wilden Erlebnissen, da auf der Suche nach Sinn und Findung. Und zweitens die Melange aus Abstiegsängsten (all die Debatten um Prekarisierung der 2000er Jahre), der völlig ins Leere laufenden Selbsteinschätzung der sozialen Lage (hallo, obere Mittelschicht) und dem oft versteckten, aber immer vorhandenen Kampf ums Vorne-mit-Dabeisein, ums Erster-Sein, ums Besser-Sein, insbesondere im Arbeitskontext. Oder, um weitere Zeitgeistmerkmale zu nennen: eine Zeit für NIMBY, für Trollereien im Netz samt Radikalisierungsspirale, für lautstarke Schlagzeilen und billigen Humor.
Möglicherweise, und das meine ich mit der Spekulation über sanftere Zeiten, ändert sich diese Haltung gerade grundlegend. Ich halte das für möglich, weil ein paar Dinge zusammenkommen.
Ein Generationenwechsel, auch wenn längst nicht alles stimmt, was über die Arbeitseinstellung von Millenials, über die zunehmende Bedeutung von Sorgearbeit, über snowflakes und dergleichen mehr geschrieben wird. Trotzdem ist da was anders, das fängt bei der Frage an, wie Eltern mit Kindern umgehen, oder mit pflegebedürftigen Angehörigen – und hört nicht damit auf, dass eben hinterfragt wird, vielleicht nur aus persönlicher Selbstsorge, was Chef:innen so sagen, statt stumpf auf Anweisungen zu warten. (Das geht bis hin zur plötzlichen Entdeckung eines „mitfühlenden Liberalismus“ durch die FDP … wobei das auch schon wieder vorbei ist …).
Der zweite Treiber für den Wandel ist die auslaufende Pandemie. Was wir in die „post-pandemische“ Zeit mitnehmen, steht noch nicht fest. Wir können als Gesellschaft daraus lernen, wir können das aber auch lassen.
Zwei Dinge sind aber in der Pandemie ganz konkret sichtbar geworden. Zum einen ist sehr vielen Menschen bewusst geworden, wie anfällig (und wie marode) unsere Infrastruktur ist und wie viel davon abhängt, dass Kassen, Krankenbetten und Fahrerstände besetzt sind. Diese sichtbar gewordene Abhängigkeit des eigenen Wohlergehens vom Wohlergehen anderer Menschen passt nicht zum Fokus auf das Selbst, passt nicht zu Scheuklappen und Konsum. Und zum anderen wissen wir heute noch nicht, in welchem Ausmaß long covid und andere gesundheitliche Beeinträchtigungen als Spätfolgen einer Corona-Infektion verbreitet sind. Aber selbst bei sehr kleinen Prozentsätzen sind schlicht aufgrund der großen Zahl an Infektionen sehr viele Menschen davon betroffen. Das heißt, dass das Bild des verpflichtungsfreien, immer bereiten Workaholics ins Wanken gerät. Je mehr Menschen eingeschränkt sind, und je sichtbarer das auch das eigene Umfeld, vielleicht die eigene Person betrifft, desto stärker wird es zu einer Notwendigkeit, aufeinander Rücksicht zu nehmen.
Drittens befinden wir uns gerade in eine multiplen Krise. Und anders als bei den angesprochenen Prekarisierungsängsten der Vergangenheit ist das vorherrschende Narrativ dieser Krise keines von Absturz und Obenbleiben, von „Wir“ und „Die“, sondern eines der gemeinsamen Sorge darüber, dass es allen schlechter geht. Energie- und Lebensmittelpreise betreffen breite Teile der Bevölkerung. Damit steigt die Chance, dass sich ein Narrativ der gegenseitigen Hilfe in der Krise durchsetzt. Das eine solche Hilfe leistbar ist, dass das Potenzial dafür da ist, das hat beispielsweise die Reaktion auf die große Zahl Geflüchteter 2015 ebenso wie 2022 gezeigt.
Und viertens, nur am Rande erwähnt: das Schlagwort „Fachkräftemangel“ überdeckt, dass mit dem Generationenwechsel auch eine alternde (und damit hilfsbedürftige) Gesellschaft verbunden ist, dass die Demografie sich verändert – und dass Zuwanderung mehr und mehr zu etwas wird, das schon deswegen gewollt ist, weil es anders in der Wirtschaft gar nicht geht.
Die Reaktion darauf, dass die Zeiten härter werden, könnte Abschottung sein, das nackte Überleben, der Mensch als des Menschen Wolf, all das. Oder eben eine Hinwendung sein, ein Schritt hin zu sanfteren Zeiten, um gemeinsam – füreinander sorgend, sich umeinander kümmernd, mit Rücksichtnahme und mit Zuversicht – durch die multiplen Krisen zu kommen. Und dafür, dass das die vorherrschende Haltung wird, lässt sich durchaus etwas tun.