Was ich zur Klimakrise geschrieben habe, gilt auch für die anderen beiden Krisen, in denen wir uns gerade befinden – weder Corona noch Putins Krieg gegen die Ukraine lassen sich durch den Verweis auf Eigenverantwortung lösen.
Bei der Corona-Krise geht die Argumentation etwa so, dass ja auf staatliche Vorschriften etwa zum Maskentragen verzichtet werden kann, weil ja jede und jeder selbst entscheiden kann, ob er bzw. sie sich und andere durch Impfung und das Tragen einer Maske schützen möchte oder in Kauf nimmt, Corona zu kriegen und an einem schweren Verlauf zu sterben. Das wäre richtig, wenn in der Situation „andere Person hat Corona und trägt keine Maske, ich selbst trage Maske“ nicht doch ein nicht ganz kleines Infektionsrisiko bestünde – und wenn hinter dem Zielen auf Eigenverantwortung nicht eine erhebliche Verantwortungslosigkeit gegenüber denjenigen stünde, die sich nicht impfen lassen können (z.B. aufgrund von bestimmten Immunerkrankungen oder weil sie Kinder unter 5 Jahren sind). Wer bei Corona auf Eigenverantwortung setzt, verzichtet darauf, diese Menschen zu schützen. Mal ganz abgesehen von der Frage des „sich leisten können“ – für die einen sind FFP2-Masken etwas, was aus der Portokasse bezahlt wird, und auch der eine oder andere PCR-Test zur Sicherheit (60–80 €) ist bezahlbar. Andere können das nicht bezahlen. Und auch da greift dann der Ruf nach Eigenverantwortung zu kurz.
Und bei Putins Krieg höre ich jetzt immer wieder Aufrufe, das eigene Verhalten anzupassen: die Temperatur in der Wohnung niedriger zu drehen, auf Autofahrten zu verzichten, sich freiwillig an ein Tempolimit zu halten. Symbolisch mag das helfen, vielleicht auch das Gefühl vermitteln, etwas zu tun (da sind Spenden m.E. aber sehr viel sinnvoller) – aber von den tatsächlichen Auswirkungen her gehen solche Aktionen im Rauschen unter, solange nicht alle sich daran halten. Und der Hebel, damit „alle“ etwas machen, ist eben nicht der Ruf nach Eigenverantwortung, sondern der Staat, der hier Regeln setzen kann (bspw. ein Tempolimit einführen oder Gasimporte aus Russland stoppen). Und erst recht nach hinten los geht die Eigenverantwortung, wenn daraus das Horten von Sonnenblumenöl (warum auch immer …) oder die ganz individuelle Unfreundlichkeit gegenüber russischstämmigen Menschen hier in Deutschland wird.
Insofern: in einem idealen Gemeinwesen, in dem alle die Ressourcen und die Haltung hätten, sich verantwortlich zu verhalten, wäre der Ruf nach Eigenverantwortung großartig. In unserer Realität überdeckt er fehlendes Handeln des Staates und macht statt dessen Individuen ein schlechtes Gewissen. Bürokratien, staatliche Organisationen, Regelwerke, Verwaltungen – all das wurde auch erfunden, um die Komplexität derartiger Entscheidungen für Einzelpersonen zu reduzieren. Ein bisschen mehr davon fände ich gut – statt offensichtlich unabgestimmter Symbolaktionen einzelner Ministerien.