Wunderbares Frühlingswetter. Aber alles ist anders als normalerweise.
Noch sind nur die großen Veranstaltungen behördlich verboten. Aber es scheint mir nur eine Frage von Tagen zu sein, bis auch in Deutschland drastische Maßnahmen ergriffen werden, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Schulschließungen, Besuchsverbote in Krankenhäusern und Altenheimen, Schließungen von Cafes und Kneipen. Grenzschließungen und Einschränkungen der Reise- und Bewegungsfreiheit.
Das klingt drastisch, und das ist drastisch – aber es ist das, was Stand der Wissenschaft ist, um tausende Tote zu vermeiden. Hören wir auf die Wissenschaft!
Das Coronavirus ist zwar nur für einen kleinen Teil der Angesteckten tödlich – aber es breitet sich aus. Und weil jede angesteckte Person im Schnitt zwei bis vier weitere Personen ansteckt, breitet es sich nach einer exponentiellen Logik aus: innerhalb weniger Tage verdoppeln sich die Fallzahlen. Das war in Wuhan so, das ist in Italien so, und das ist nach allem, was die Zahlen hergeben, auch in Deutschland so. Exponentialkurven passen nicht zu unserem Alltagsverständnis. Sie sind nicht intuitiv – aber das ändert nichts an ihrer Gefährlichkeit. (Wer es nachlesen will: die Süddeutsche hat das hervorragend aufbereitet).
Um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, um die Kurven so abzuflachen, dass das Gesundheitssystem mit der Zahl schwerer Fälle zurecht kommt, ist es deswegen jetzt richtig, soziale Kontakte zu minimieren. Egal, was das für jede und jeden von uns an Einschnitten bedeutet. #flattenthecurve
Deswegen habe ich überhaupt kein Verständnis für diejenigen, die damit argumentieren, dass das ja auch nur eine Art Grippe sei, oder die spitzfindig Regeln unterlaufen und beispielsweise bei einem Veranstaltungsverbot ab 1000 Personen halt nur 999 reinlassen. Ich kann mir da nur an den Kopf fassen – Moment, auch das lieber nicht – weil 1000 natürlich keine magische Grenze ist, unterhalb der das Virus seine Ansteckungsgefahr verliert, sondern eine technische Zahl. Ja, es geht auch um Einnahmeausfälle und wirtschaftliche Schäden – bis hin zur Existenzbedrohung für beispielsweise Künstler*innen und Messebauer*innen – und dafür braucht es Lösungen. Das Unterlaufen von Regeln kann aber keine solche Lösung sein. Wer vernünftig ist, sagt ab, und macht zu.
Freiburg ist eine vernetzte Stadt – das Elsass und die Schweiz sind eng mit uns verflochten. Jetzt ist das Elsass Risikogebiet – ausgehend von einem Treffen einer Freikirche breitet sich das Virus massiv aus. Pendler*innen aus dem Elsass sollen nicht mehr nach Südbaden kommen, Kinder nicht mehr hier zur Schule gehen. Das sind harte Einschnitte in unsere gelebte europäische Normalität. (Und selbst im Kleinen bemerkbar – beispielsweise kommt ein Teil des Gemüses im lokalen Bioladen von elsässischen Bauernhöfen – und ist aktuell nicht lieferbar.)
Ich arbeite ganz regulär schon jetzt etwa die Hälfte der Woche im Home-Office. Das hat eine ganze Menge Nachteile, und ich freue mich über den direkten Austausch mit Kolleg*innen, an den Tagen, an denen ich in Stuttgart bin. Eigentlich war mein März-Kalender voll – neben den Arbeitsterminen in Stuttgart gab es auch noch eine ganze Reihe Parteitermine. Als Fraktion wollten wir am Montag unser vierzigjähriges Jubiläum feiern. Das haben wir schon vor zwei Wochen in den Juni verschoben. Damals haben noch einige gelächelt oder gemeint, das sei doch eine Überreaktion. Jetzt mache ich mir Sorgen, ob der Juni-Termin nicht noch zu früh ist. Partei-Arbeitsgruppen zum Wahlprogramm werden jetzt als Telefonkonferenzen stattfinden – überhaupt: Telefon- und teilweise Videokonferenzen sind plötzlich das Mittel der Wahl. Perfekt läuft das noch nicht, aber als Provisorium kann eine Vorstands- oder Arbeitskreissitzung auch in solchen Formaten stattfinden. Und zum Glück sind wir überwiegend mit mobilen Geräten ausgestattet, zum Glück gibt es die notwendige Technik im Landtagssystem.
Im Umkehrschluss kommt mir jetzt schon jede Fahrt nach Stuttgart derzeit wie ein riskantes Abenteuer vor – ohne Auto und ohne Führerschein bin ich auf den öffentlichen Verkehr angewiesen. Insofern: gerne Home-Office, gerne Telefon- und Videokonferenzen.
Mal sehen, wie das wird, wenn dazu Schulschließungen kommen – ich befürchte, das mir und meinen Kindern meine kleine Wohnung da bald sehr eng vorkommen wird.
Als Fraktion durften wir jetzt bereits zweimal den Ernstfall proben – schon vor einigen Tagen gab es den ersten Verdachtsfall, der letztlich negativ getestet wurde. Trotzdem löste das erst einmal eine Welle an Maßnahmen aus, vorsorglicherweise auch über die Empfehlungen des Gesundheitsamtes hinausgehend – Home-Office für alle. Was ist mit Partnern und Partnerinnen, Kindern – sollen die zur Schule gehen? -, anderen Menschen, die ich getroffen habe? Würden die Vorräte reichen, wenn aus der vorsorglichen Selbstisolation eine echte Quarantäne wird? Gestern gab es dann erneut einen – zum Glück wiederum letztlich negativen – Verdachtsfall. Ein Abgeordneter hatte Kontakt zu einer positiv getesteten Person und zeigte Erkältungssymptome – und war bei der großen Fraktionssitzung dabei. Das hatte Folgen – unter anderem nahm der Ministerpräsident nicht an der gestrigen Ministerpräsidentenkonferenz teil, die gesamte Fraktion blieb vorsorglich der Landtagssitzung fern, nachdem ein Versuch, diese zu vertagen, an der Opposition gescheitert war. Und eben für alle Abgeordneten und Mitarbeiter*innen wieder die Frage, wie sie das individuelle Risiko einschätzen, wie vorsorglich sie weitere Kontaktpersonen informieren oder nicht.
Das waren Probeläufe. Politik ist heute zu großen Teilen ein Präsenzgeschäft. Sitzungen sind präsenzpflichtig, und der Alltag von Politiker*innen besteht oft genug daraus, Hände zu schütteln und von Veranstaltung zu Veranstaltung zu gehen. Wie funktioniert das, wenn social distancing angesagt ist (und Tests auf das Virus noch immer ein paar Stunden brauchen)? Ist es verantwortlich, Handlungsfähigkeit beweisen zu wollen und Landtags- und Ausschusssitzungen stattfinden zu lassen, oder müssen auch diese abgesagt oder durch andere Formate ersetzt werden? Ist das ein Fall für die Einberufung des Notparlaments, oder braucht es so etwas wie Online-Abstimmungen für die Parlamente?
Wir sind mitten in einer krisenhaften Situation. Es geht jetzt darum, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und einzudämmen. Das wird schwierig.
Irgendwann wird eine Zeit nach dem Virus da sein. Wenn die Eindämmung gelungen ist. Wenn es einen Impfstoff gibt. Es ist jetzt zu früh, Aussagen über diese Zeit zu treffen. Mein Gefühl ist aber, dass es vieles gibt, was wir jetzt lernen können. Darüber, was wirklich wichtig und was nice to have ist, aber auch darüber, wo wir – im Gesundheitssystem, bei der digitalen Infrastruktur, möglicherweise auch im Hinblick auf die Einhegung der Folgen globaler Vernetzung – besser aufgestellt sein könnten. Möglicherweise wird die Zeit des Virus zu einem Katalysator für Online-Learning und Digitalisierung, aber auch für ein robusteres, widerstandsfähigeres und solidarisches Gemeinwesen. Und letzteres ist etwas, das auch im Hinblick auf die andere große Krise, die gerade etwas in den Hintergrund rückt, nämlich den Klimakrise, dringend notwendig ist.
Eine Antwort auf „Zeit des Virus“