Wann endet die Pandemie?

Ich habe mei­nen Fol­lo­wern auf Twit­ter zwei Fra­gen gestellt, und auch wenn die Ant­wor­ten nicht reprä­sen­ta­tiv für irgend­et­was sind, fin­de ich sie doch inter­es­sant. Die ers­te Fra­ge lau­te­te „Was habt ihr im Februar/März 2020 gedacht, wie lan­ge es uns SarsCov2 aka Covid-19 beschäf­tig­ten wird?“, die zwei­te „Und die Anschluss­fra­ge: wann wird die Coro­na-Pan­de­mie enden?“. Wie bei Twit­ter-Umfra­gen üblich, konn­te ich nur vier Ant­wort­op­tio­nen vor­ge­ben. Zum Zeit­punkt, als ich die­sen Text schrei­be, lief die Umfra­ge noch, inso­fern kann es noch klei­ne Ände­run­gen geben.

Twitter-Umfrage zu Corona, links "Was habt ihr im Februar/März 2020 gedacht, wie lange es uns SarsCov2 aka Covid-19 beschäftigten wird?", rechts "Und die Anschlussfrage: wann wird die Corona-Pandemie enden?"

Auf die ers­te Fra­ge ant­wor­te­ten dem­nach 34,5 Pro­zent, dass sie im Früh­jahr 2020 davon aus­ge­gan­gen sei­en, dass die Pan­de­mie „bis Som­mer 2020“ been­det sein wird, noch­mal 30,2 Pro­zent sagen „bis Som­mer 2021“, also nach etwas mehr als einem Jahr. Die drit­te Opti­on – „bis Som­mer 2022“ – wäh­len nur 9,5 Pro­zent, die übri­gen 25,9 Pro­zent ent­schei­den sich für die Opti­on „län­ger“. Anders gesagt: etwa zwei Drit­tel der Ant­wor­ten­den gin­gen davon aus, dass die Pan­de­mie nach eini­gen Mona­ten bis etwas mehr als einem Jahr zu Ende sein wird, ein wei­te­res Vier­tel hat­te bereits im Früh­jahr 2020 die Erwar­tung, dass das gan­ze deut­lich län­ger gehen wird. Ob hier das jet­zi­ge Wis­sen mit rein­spielt, wis­sen wir nicht.

Ich selbst wür­de mich zu den zwei Drit­teln zäh­len, die von einer über­schau­ba­ren Zeit bis zum Ende der Pan­de­mie aus­ge­gan­gen sind. Wir erin­nern uns: am Anfang ging es um ein­zel­ne Fäl­le, die nach­ver­folgt und in Qua­ran­tä­ne gesteckt wur­den, kur­ze Zeit spä­ter gab es dann schon ers­te Hin­wei­se dar­auf, dass bald Impf­stof­fe ver­füg­bar sein wür­den. Inso­fern war mei­ne Erwar­tung tat­säch­lich, dass uns die Pan­de­mie beschäf­ti­gen wird, dass sie auch eini­ges an Ände­run­gen – viel­leicht auch lang­fris­ti­gen Ände­run­gen im Ver­hal­ten – mit sich brin­gen wird. Dass wir jetzt, im Herbst 2022, gera­de dabei sind, in die nächs­te Wel­le rein­zu­rut­schen, hät­te ich nicht vermutet.

Damit sind wir bei der zwei­ten Fra­ge: wann wird die Coro­na-Pan­de­mie enden? 11,9 Pro­zent der Teil­neh­men­den sagen, die Pan­de­mie sei vor­bei. 23,7 Pro­zent haben „2023, max. 2024“ ange­klickt, gehen also von einem Ende in eini­gen Mona­ten, viel­leicht in einem Jahr aus. 35,6 Pro­zent sagen, dass wir erst 2025 ein Ende der Pan­de­mie erle­ben wer­den, und 28,8 Pro­zent haben sich für die Opti­on „nie“ entschieden. 

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Es ist kompliziert

„Aus der Kri­se hilft nur Grün“ war 2009 Slo­gan des grü­nen Bun­des­tags­wahl­kampfs, wenn ich mich rich­tig erin­ne­re. Gemeint war da die inter­na­tio­na­le Finanz­kri­se, aber selbst­ver­ständ­lich auch schon die Klimakrise. 

Aus heu­ti­ger Sicht wirkt 2009 dage­gen wie fried­lichs­te Ver­gan­gen­heit. Jetzt haben wir Kri­sen en mas­se. Und kämp­fen damit, dass die öffent­li­che und poli­ti­sche Auf­merk­sam­keit eine begrenz­te Res­sour­ce ist. Vor eini­gen Tagen gab es dazu eine tref­fen­de Kari­ka­tur – ein Mann sitzt vor dem Fern­se­hen, und besteht dar­auf, dass erst ein­mal der Krieg in der Ukrai­ne eine fried­li­che Lösung fin­den müs­se, und das Virus besiegt wer­den müs­se, bevor über­haupt dar­an zu den­ken sei, die Kli­ma­kri­se – auf die sei­ne Part­ne­rin in mit Blick auf Hit­ze­wel­len in Indi­en etc. hin­weist – anzugehen. 

Das ist der Nor­mal­mo­dus poli­ti­scher Kri­sen­be­wäl­ti­gung: ein Sta­pel, und das neus­te Pro­blem kommt oben drauf und wird zuerst gelöst. 

Aktu­ell lan­det auf die­sem Sta­pel noch das dro­hen­de Rück­rol­len der USA in die 1850er Jah­re – mit dem durch­ge­sto­che­nen Ent­wurf des Supre­me Courts steht nicht nur das Recht auf Abtrei­bung auf der Kip­pe, son­dern auch vie­le wei­te­re gesell­schafts­po­li­ti­sche Errun­gen­schaf­ten. Die Trump-Jah­re waren nicht fol­gen­los, son­dern haben dazu geführt, dass aus dem Supre­me Court ein zutiefst poli­ti­sches Organ wur­de; die nahe­lie­gends­te Lösung, ihn jetzt um wei­te­re demo­kra­ti­sche Richter*innen zu ergän­zen, ist ver­mut­lich nicht mehr­heits­fä­hig – wie so vie­les, was der US-Prä­si­dent Biden ange­kün­digt hat, und das, obwohl auf dem Papier eine demo­kra­ti­sche Mehr­heit in bei­den Kam­mern da wäre. Es ist zu befürch­ten, dass die­se Papier-Mehr­heit in einem Jahr nicht mehr exis­tiert – und dass Trump (oder ein ande­rer sei­nes Kali­bers) am Ende der Biden-Amts­zeit zurück­kommt und das Pro­jekt, die USA zu einer christ­li­chen Auto­kra­tie zu machen, wei­ter vorantreibt.

Die Kli­ma­kri­se allei­ne ist ein Gene­ra­tio­nen­pro­jekt und bräuch­te jetzt alle poli­ti­sche Auf­merk­sam­keit. Zwei­ein­halb Jah­re Coro­na-Pan­de­mie haben hier eini­ges ins Sto­cken gebracht; die klei­nen Del­len durch Lock­downs, Home-Office und ver­min­der­te Mobi­li­tät sind längst auf­ge­fres­sen, der CO2-Aus­stoß wie­der auf Wachs­tums­pfad. Der rus­si­sche Angriffs­krieg gegen die Ukrai­ne zeigt, dass eine kli­ma­schutz­ori­en­tier­te Ener­gie­po­li­tik auch frie­dens­po­li­tisch wich­tig gewe­sen wäre – jetzt befin­den wir uns in einer Abhän­gig­keit von Russ­land, aus der raus­zu­kom­men nicht ein­fach wird. Immer­hin geht es hier – bei der Ener­gie­wen­de wie beim schnel­len Ende der Abhän­gig­keit von rus­si­schem Gas, Erd­öl und Koh­le – mehr oder weni­ger in die glei­che Rich­tung. Oder, wie es so schön heißt: hier gibt es Synergien.

Die Coro­na-Pan­de­mie und die damit ver­bun­de­nen har­ten Lock­downs in Chi­na zei­gen uns gera­de, dass Euro­pa nicht nur von rus­si­schen Impor­ten abhän­gig ist, son­dern eben­so oder noch viel stär­ker davon, dass Waren und Vor­pro­duk­te aus Chi­na gelie­fert wer­den. Jetzt stau­en sich die Con­tai­ner-Schif­fe, die just in time-Pro­duk­ti­on gerät ins Stocken.

Und das sind ja – Beck hat es 1986 bereits vor­aus­ge­se­hen – nicht die ein­zi­gen Abhän­gig­kei­ten. Wei­zen­lie­fe­run­gen aus der Ukrai­ne und die Hun­ger­be­kämp­fung der inter­na­tio­na­len Pro­gram­me im glo­ba­len Süden hän­gen eng mit­ein­an­der zusam­men. Chi­na inves­tiert auf dem afri­ka­ni­schen Kon­ti­nent. Indi­en sieht sich vor die Ent­schei­dung gestellt, sich nach Russ­land oder Rich­tung Wes­ten zu ori­en­tie­ren. Bra­si­li­en exer­ziert schon mal vor, wie die zwei­te Trump-Peri­ode in den USA aus­se­hen könn­te, und der­wei­len brennt der Amazonas.

Und ja – die Zer­stö­rung von Bio­to­pen, die Kli­ma­ka­ta­stro­phe – das steht dann wie­der in Wech­sel­wir­kung mit Rück­zugs­räu­men für Tie­re, und erhöht das Risi­ko wei­te­rer Pan­de­mien, die von wil­den Tie­ren auf uns über­sprin­gen könnten.

Puh – gar nicht so ein­fach, 2022 halb­wegs zuver­sicht­lich zu blei­ben. Erst recht nicht, wenn das, was gemacht wer­den kann, nicht gemacht wird – sie­he Tem­po­li­mit – oder wenn deut­lich wird, dass Poli­tik und Büro­kra­tie auch in exis­ten­zi­el­len Fra­gen einen Hang zur sys­te­mi­schen Träg­heit ent­fal­ten. Und erst recht nicht, wenn der poli­ti­sche Dis­kurs dann busi­ness as usu­al macht und sich mit Eitel­kei­ten, Belei­digt­sein oder künst­lich hoch­ge­zo­ge­nen Pola­ri­sie­run­gen auf­hält. So wird das nichts. 

Zeit des Virus, Update XI

View from Zähringen towards Wildtal

Seit Juli ist viel pas­siert. Zwi­schen­drin ver­ges­se ich manch­mal, dass es die Pan­de­mie noch gibt. Ich bin geimpft, eben­so mei­ne Fami­lie, auch die Teen­ager­kin­der. Gab jeweils ein, zwei Tage Neben­wir­kun­gen und Impf­re­ak­tio­nen. Und jetzt das gute Gefühl, zur 2G-Grup­pe zu gehören.

Einer­seits wird es all­mäh­lich wie­der nor­mal, dass es Off­line-Ver­an­stal­tun­gen gibt. Eine Frak­ti­ons­klau­sur mit 100 Men­schen, beglei­tet von Tests und Hygie­ne­kon­zep­ten. Eine Geburts­tags­fei­er. Land­schul­heim der Kin­der. Wahl­kampf­stän­de. Demons­tra­tio­nen. Ich schaue nicht mehr stän­dig auf die Inzi­den­zen. Die Coro­na-Ver­ord­nun­gen wur­den ange­passt, um statt der Inzi­denz auf die Hos­pi­ta­li­sie­rung zu ach­ten – ändert nicht wirk­lich etwas, ver­schiebt die Schwel­len und Grenz­wer­te nach oben. Die Kur­ven sehen nicht viel anders aus als letz­tes Jahr. Warn­ru­fe ver­hal­len. Im Mit­tel­punkt ste­hen die Unge­impf­ten. Es wird um die Fra­ge gestrit­ten, ob die pan­de­mi­sche Lage über­haupt noch gege­ben ist.

Ande­rer­seits: wei­ter Mas­ke tra­gen, beim Ein­kau­fen, vor allem aber in den vol­len Zügen und Stra­ßen­bah­nen. Hier in Frei­burg wird das auch ziem­lich kon­se­quent gemacht. Pan­de­mie der Unge­impf­ten – Erwach­se­ne und Teen­ager, die noch nicht geimpft sind, und nicht aus medi­zi­ni­schen Grün­den nicht impf­bar sind, sind irgend­wie selbst schuld. Es gibt kei­ne Impf­pflicht, und das Nud­ging mit bei­spiels­wei­se den jetzt anfal­len­den Test­kos­ten oder Zutritts­ver­bo­ten für Unge­impf­te wirkt nur bedingt, eben­so wie Impf­ak­tio­nen nur einen Teil errei­chen. Zumin­dest die, bei denen die feh­len­de Imp­fung an Bequem­lich­keit und Orga­ni­sa­ti­ons­fra­gen liegt, nicht an ideo­lo­gi­scher Ver­bohrt­heit. Trotz­dem scheint die Zahl der Geimpf­ten jetzt zu sta­gnie­ren. Sor­gen machen mir die Kin­der unter 12, für die es offi­zi­ell noch kei­ne Imp­fun­gen gibt. Trotz­dem soll auch hier gelo­ckert wer­den, soll etwa die Mas­ken­pflicht in der Schu­le teil­wei­se fal­len. Erleich­te­rung, klar – aber wie vie­le schwe­re Ver­läu­fe neh­men wir in Kauf, wie vie­le heu­te viel­leicht noch gar nicht abseh­ba­ren Lang­zeit­schä­den einer Virus­er­kran­kung, die wohl auch das Gehirn angreift?

Die stärks­te Erin­ne­rung dar­an, dass die Pan­de­mie noch nicht vor­bei ist, war para­do­xer­wei­se der Wahl­kampf­auf­tritt der „die­Ba­sis“ – auch wenn deren Hoff­nung, in den Bun­des­tag ein­zu­zie­hen, klar geschei­tert ist, waren sie hier in der Gegend doch sehr prä­sent. Mit kru­den Theo­rien und halt­lo­sen Vor­wür­fen auf Pla­ka­ten und an Wahl­kampf­stän­den. Zwei bis drei Pro­zent der Leu­te rund um Frei­burg haben die­se Quer­den­ker­par­tei gewählt. Ich befürch­te, dass es da durch­aus Reso­nan­zen bis tief in „grü­ne Milieus“ gege­ben hat, bis in den eige­nen Bekanntenkreis. 

Wech­sel in die glo­ba­le Vogel­per­spek­ti­ve – wir sind pri­vi­le­giert, was die Impf­stoff­ver­füg­bar­keit aus­sieht. In ande­ren Län­dern ist das teil­wei­se ganz anders. Das Coro­na­vi­rus wird auf abseh­ba­re Zeit blei­ben. Die Pan­de­mie auch? Das bleibt abzuwarten.

Abzu­war­ten bleibt auch, ob wir als Gesell­schaft lern­fä­hig sind. Die Coro­na-Kri­se hat eini­ges kata­ly­siert und her­vor­ge­ho­ben, hat Lücken – etwa bei der Digi­ta­li­sie­rung – und Schwä­chen – etwa hin­sicht­lich der Zugäng­lich­keit medi­zi­ni­scher Infor­ma­tio­nen in der Bevöl­ke­rung ‑sicht­bar gemacht. Ich bin mir ziem­lich sicher, dass die tech­no­lo­gi­schen Sprün­ge nicht in Ver­ges­sen­heit gera­ten – Video­kon­fe­ren­zen, oder auch mRNA als Impf­stoff­tech­nik. Wie es mit den stär­ker sozi­al fokus­sier­ten Ver­än­de­run­gen aus­sieht, wer­den wir sehen. Home-Office bei­spiels­wei­se, ein ver­än­der­tes Hygie­never­hal­ten mit Mas­ken in der Viren­sai­son und Hän­de­wa­schen. Hier befürch­te ich, dass die­se Erfah­run­gen schnell wie­der in Ver­ges­sen­heit gera­ten, wenn die Pan­de­mie denn als been­det erklärt wird und aus dem Gedächt­nis verschwindet.

2020/2021 – ein Fragment

Winter sky VII

Düs­te­rer, leicht lila gefärb­ter Him­mel. Die Wol­ken bewe­gen sich im Zeitraffer. 

Ein Mann holt einen Brief aus sei­nem Brief­kas­ten. Es ist das erwar­te­te Schrei­ben einer luxem­bur­gi­schen Immo­bi­li­en­hol­ding, die den beschau­li­chen Wohn­block von dem deut­schen Groß­kon­zern über­nom­men hat, der vor eini­gen Jah­ren den klei­ne­ren Kon­zern geschluckt hat. Er hat die­sen Brief schon erwar­tet. Aus Daten­schutz­grün­den müs­sen die Mieter:innen eine neue Last­schrift­er­mäch­ti­gung ertei­len – auf Papier. Der Mann kratzt sich am Kinn. Das ist ein Ana­chro­nis­mus. Sowas lässt sich doch inzwi­schen digi­tal regeln, über eine kur­ze Nach­richt. Über­haupt – er hat in den letz­ten Wochen kein Bar­geld mehr ver­wen­det, seit selbst bei den Bäcke­rei­en kon­takt­lo­se Kar­ten­le­ser auf­ge­stellt sind. Aber wenn der Kon­zern es so will, dann wird es wohl das bes­te sein, dem zu folgen.

Der Mann bringt den mit einem alt­mo­di­schen Füll­fe­der­hal­ter aus­ge­füll­ten Brief zum Post­kas­ten. Er zieht sich eine Mas­ke an, bevor er die Woh­nung ver­lässt. In die­ser Wohn­zo­ne ist der Ver­kehr auf 30 km pro Stun­de redu­ziert. In vie­len Stra­ßen fah­ren gar kei­ne Autos mehr. Die, die er doch noch sieht, sind zuneh­mend elek­tri­sche. Elon Musk von Tes­la ist inzwi­schen der reichs­te Mann der Welt. Oder es han­delt sich um die ganz gro­ßen Wagen, die halb­au­to­ma­tisch durch die Städ­te fah­ren. Übli­cher­wei­se haben Autos im Jahr 2020 ein Dis­play an der Kon­so­le, auf dem jeder­zeit der aktu­el­le Stand­ort ange­zeigt wird. Eine Com­pu­ter­stim­me gibt Anwei­sun­gen, um das Ziel zu errei­chen. Aber er geht zu Fuß. Für län­ge­re Stre­cken wür­de er nor­ma­ler­wei­se die Stra­ßen­bahn neh­men, die alle paar Minu­ten ver­kehrt. Es lohnt sich gar nicht mehr, in die Fahr­plan-App zu schau­en, die Anzei­ge an der Hal­te­stel­le ver­rät, wann die nächs­te Bahn zu erwar­ten ist. 

In die­sen Mona­ten ver­sucht der Mann aller­dings, auf die Nut­zung der öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­tel zu ver­zich­ten. Lie­ber bucht er ein Fahr­rad in der App. Die Pan­de­mie. Er ver­folgt jeden Tag besorgt die Fall­zah­len. In Deutsch­land ster­ben täg­lich über tau­send Men­schen an der Pan­de­mie. Inner­halb von einer Woche über­schrei­ten die Todes­zah­len die der Ver­kehrs­to­ten, und inner­halb eines Monats kommt eine Klein­stadt zusam­men. Und das nur in Deutsch­land. Das Virus wütet über­all auf der Welt. Es wird über klei­ne Tröpf­chen in der Atem­luft über­tra­gen. Jeder län­ge­re Kon­takt erhöht das Risi­ko. Noch hat die Warn-App, die Kon­tak­te regis­triert, bei ihm nicht rot geblinkt, aber er ist lie­ber vor­sich­tig. Bis der in Win­des­ei­le dage­gen ent­wi­ckel­te mRNA-Impf­stoff des Kon­zerns – ein Tri­umph der Wis­sen­schaft – alle erreicht, wird es noch etwas dauern.

Immer neue Ver­ord­nun­gen wer­den erlas­sen. Das ist in allen Län­dern so. Egal, ob die Christdemokrat:innen oder die Sozialdemokrat:innen, die Lin­ken oder die Grü­nen die Regierungschef:innen stel­len. Regel­mä­ßig tref­fen die­se sich zu Kri­sen­sit­zun­gen mit der Kanz­le­rin. In der Kri­se zeigt sich wah­rer Charakter. 

Vie­le Geschäf­te sind geschlos­sen, in ande­ren ist der Auf­ent­halt streng regle­men­tiert. Auch die Schu­len wur­den zuge­macht. Teil­wei­se fin­det der Unter­richt digi­tal statt. Manch­mal ver­brin­gen die Kin­der den Tag aber auch in Computerspielewelten. 

Sei­ne Kolleg:innen hat der Mann seit einem hal­ben Jahr nur noch per Video­kon­fe­renz gese­hen. Sei­ne Aus­rüs­tung funk­tio­niert unab­hän­gig von dem Ort, an dem er ist. Kon­fe­ren­zen, Bespre­chun­gen, Doku­men­te – alles ist inzwi­schen digital. 

Da, wo vie­le Men­schen sich auf­hal­ten, tra­gen alle Mas­ke – fast alle, bis auf die Spinner:innen, die lie­ber an ihre Ver­schwö­run­gen glau­ben. Auf den vie­len tau­send Kanä­len des Netz­werks gibt es Bil­der von Spinner:innen, die sin­gend über Plät­ze tan­zen. Sie leben in einer abge­schot­te­ten Welt, und glau­ben, was ihre Sektenführer:innen ihnen erzäh­len. Die Pan­de­mie sei eine Erfin­dung, in Wahr­heit gehe es dar­um, dass Bill Gates an das Blut unschul­di­ger Kin­der wolle. 

Viel­leicht gehört auch der US-Prä­si­dent dazu. Der ist gera­de abge­wählt wor­den. Die Wahl­aus­zäh­lung zog sich über Tage hin, in eini­gen Bun­des­staa­ten dran­gen Bewaff­ne­te in die Wahl­lo­ka­le ein und ver­such­ten, die Wähler:innen ein­zu­schüch­tern. In einer her­un­ter­ge­kom­me­nen Gegend hat der Prä­si­dent sei­nen Anwalt ver­kün­den las­sen, dass er die­se Wahl nicht aner­ken­nen wird, dass sie ihm gestoh­len wur­de. Vor Gericht hat er damit aller­dings kei­nen Erfolg. Den­noch erzählt er sei­nen Anhänger:innen immer wie­der über das Netz­werk, dass er der recht­mä­ßi­ge Wahl­sie­ger sei. 

Am Drei­kö­nigs­tag kommt es schließ­lich zum Putsch­ver­such. Ex-Mili­tärs, Polizist:innen und selbst­er­nann­te Patriot:innen aber auch selt­sa­me Gestal­ten mit bemal­ten Gesich­tern und Scha­ma­nen-Kos­tüm drin­gen gewalt­sam in das nor­ma­ler­wei­se gut geschütz­te Kapi­tol ein, wo gera­de der neue Prä­si­dent bestä­tigt wird. Es dau­ert Stun­den, bis die Herz­kam­mer der ame­ri­ka­ni­schen Demo­kra­tie wie­der unter Kon­trol­le ist. Die Senator:innen und Abge­ord­ne­te wer­den in Sicher­heit gebracht und müs­sen aus­har­ren. Es kommt zu Kämp­fen. Es gibt Tote. Es gibt Bil­der. Das alles lässt sich im Netz­werk mehr oder weni­ger live mit ver­fol­gen. Spä­ter gibt es Gerüch­te, dass Tei­le des Sicher­heits­ap­pa­rats den Putsch woll­ten. Dass die Auf­stän­di­schen eigent­lich das Ziel hat­ten, Gei­seln zu nehmen.

Der Mann macht sich Sor­gen. Noch hat der US-Prä­si­dent Zugriff auf die Nukle­ar­codes. Der evan­ge­li­ka­le Vize-Prä­si­dent hat zwar fak­tisch die Macht über­nom­men, aber wer weiß, was da noch passiert.

Inzwi­schen ist eine Muta­ti­on des Virus auf­ge­taucht. Stär­ker anste­ckend. In eini­gen Län­dern sind die Fall­zah­len schon hoch­ge­gan­gen. Auch in Groß­bri­tan­ni­en, das nicht mehr zur Euro­päi­schen Uni­on gehört und sei­ne Gren­zen dicht gemacht hat.

Um sich davon abzu­len­ken, holt der Mann sich ein Buch auf einen der vie­len Bild­schir­me. Oder er schaut Seri­en und Fil­me an. Die Aus­wahl ist rie­sig. Vie­les ist brand­neu, obwohl die Pan­de­mie auch das Film­ge­schäft hart unter­bro­chen hat. Oder er führt hef­ti­ge Debat­ten im Netz­werk. Mög­lich­kei­ten, sich abzu­len­ken, gibt es jeden­falls genug. 

Der Jah­res­wech­sel fand weit­ge­hend ohne Feu­er­werk statt. Nie­mand woll­te den über­las­te­ten Kli­ni­ken auch noch abge­ris­se­ne Hän­de und Brand­ver­let­zun­gen zumu­ten. Es war ein selt­sa­mer Jah­res­wech­sel. Heim­lich hat­ten vie­le gehofft, das nach dem Jahr 2020 mit sei­nen Wald­brän­den und Tor­na­dos, mit dem Kome­ten und der Kli­ma­kri­se, den Flüch­ten­den und der Pan­de­mie wie­der Ruhe ein­keh­ren wird. Wenn es doch nur zu Ende gin­ge. Doch das hier ist jetzt unse­re Zukunft. 

Zeit des Virus, Update III

Flowers everywhere! - IX

All­mäh­lich wird aus der hek­ti­schen Betrieb­sam­keit der ers­ten Wochen etwas, das sich lang zieht, etwas, das nach Aus­dau­er und War­ten ruft. Etwas, das noch kein Ende kennt, ein Drit­tes neben Kri­se und Normalbetrieb.

In den letz­ten drei Wochen, seit ich zuletzt über die „Zeit des Virus“ geschrie­ben habe, ist es gefühlt deut­lich schwie­ri­ger und anstren­gen­der gewor­den. Ostern hat ganz gut geklappt, Kern­fa­mi­li­en­fei­er, per Sky­pe zuge­schal­te­te Groß­el­tern und Geschwis­ter, gemein­sam ver­brach­te Zeit. Aber die Oster­fe­ri­en, die in Baden-Würt­tem­berg erst mor­gen enden, sind kei­ne Feri­en, weil die Kin­der bei­de noch Schul­stoff erle­di­gen müs­sen, und weil auch die Frak­ti­ons­ar­beit weit­ge­hend „nor­mal“ weiterläuft.

Auch bei mir gibt es zuneh­mend das Gefühl, dass es doch mal auf­hö­ren müss­te mit die­sem Lock­down, mit den gan­zen Beschrän­kun­gen. Ich kann mir noch nicht so ganz vor­stel­len, wie die Kin­der damit klar kom­men sol­len, wei­te­re Wochen im „Home-Schoo­ling“ zu ver­brin­gen. Für Mon­tag sind die nächs­ten Auf­ga­ben und Tele­fo­na­te mit den Lehrer*innen ange­kün­digt. „Macht doch mal was“ bleibt trotz­dem an den Eltern hän­gen, und klar: es gibt so etwas wie einen Rhyth­mus, aber es sind doch Tage, an denen deut­lich weni­ger pas­siert als es in der Schu­le der Fall wäre. Und zumin­dest R. ist zuneh­mend frus­triert davon, wenn drau­ßen auf dem Hof Kin­der spie­len und ich nur sage, dass wir es nicht möch­ten, dass er dazu geht.

Gefühlt also Eile, trotz aller Intro­ver­tier­heit der Wunsch, dass die Zeit des Virus mal vor­bei gehen möge. Und gleich­zei­tig im Kopf das Wis­sen dar­um, dass wir noch längst nicht über den Berg sind, der Ärger dar­über, dass allein die Debat­te um „Locke­run­gen“ bei eini­gen wohl dazu geführt hat, das alles nicht mehr ernst zu neh­men … ich möch­te nicht wis­sen, was das für die Anste­ckungs­zah­len in ein paar Tagen bedeutet.

Und wenn ich ver­su­che, mir die ver­schie­de­nen Stra­te­gien, mit dem Virus umzu­ge­hen, vor Augen hal­te, dann wird klar: Her­den­im­mu­ni­tät, der Auf­bau eines natür­li­chen Schut­zes bei einem gro­ßen Teil der Bevöl­ke­rung: das funk­tio­niert nicht, jeden­falls nicht ohne eine Viel­zahl an Toten in Kauf zu neh­men. Was jetzt pas­siert, ist das Sen­ken der Wei­ter­ver­brei­tung auf ein Maß, mit dem das Gesund­heits­sys­tem klar kommt. Das sieht aktu­ell gut aus, die Neu­in­fek­tio­nen sind zurück­ge­gan­gen und seit Tagen sta­bil, auch die Zahl der täg­li­chen Todes­fäl­le ist halb­wegs sta­bil (zynisch, dass das eine gute Nach­richt ist). Aber so wei­ter zu machen, heißt eben auch, einen Kern aus Kon­takt­ver­mei­dung und har­ten Beschrän­kun­gen noch min­des­tens bis in den Herbst, viel­leicht auch ins Früh­jahr auf­recht zu erhal­ten. Und dann ste­hen sowohl Selb­stän­di­ge, die nichts ver­die­nen, weil der­zeit zum Bei­spiel nie­mand Auf­trit­te von Künstler*innen bucht, vor einem Pro­blem – genau­so wie alle Eltern, die das Gewurs­tel der letz­ten Wochen bis weit in die Zukunft hin­ein wei­ter­füh­ren sol­len. (Und nein, bei wei­tem nicht jeder Haus­halt besteht aus Vater Allein­ver­die­ner, der päd­ago­gisch ver­sier­ten Mut­ter Hob­by­leh­re­rin und den bra­ven Kin­dern 1 und 2, die ger­ne mit dem Hund im Gar­ten tol­len). (Apro­pos: sehr gut dazu Anna­le­na Baer­bock in der taz).

Nahe lie­gen­de Lösun­gen für die­ses Pro­blem gibt es nicht, am bes­ten wäre wohl eine Kom­bi­na­ti­on aus ech­tem Tele­un­ter­richt für die Kin­der (aber das muss tech­nisch erst ein­mal klap­pen), einem rol­lie­ren­den oder sonst irgend­wie redu­zier­tem Sys­tem von Kita- und Schul­öff­nun­gen und Lohn­er­satz­leis­tun­gen für alle, die so nicht arbei­ten kön­nen. Und irgend­wann dann die Imp­fung. Aber so oder so heißt dass, das es noch eine gan­ze Wei­le wei­ter­geht mit dem Sta­tus quo.

Der klei­ne Hoff­nungs­fun­ke: die Zahl der Neu­in­fek­tio­nen und die Zahl der Infek­tio­nen pro Per­son nimmt so stark ab, dass wie­der zu „Con­tain­ment“ als Stra­te­gie gegrif­fen wer­den kann. Das hat aber zwei nicht ganz ein­fa­che Vor­aus­set­zun­gen. Zum einen braucht es schnel­le Tests, auch auf Immu­ni­tät, und Wis­sen dar­über, wie die Dun­kel­zif­fern aus­se­hen. Also Tests und Strich­pro­ben. Und zum ande­ren braucht es eine Ein­hal­tung sowohl der jetzt gel­ten­den Kon­takt­be­schrän­kun­gen wie auch der dann wei­ter not­wen­di­gen Hygie­ne­re­geln durch einen gro­ßen Teil der Bevöl­ke­rung, also Ein­sicht. Bei den Tests und Stich­pro­ben bin ich halb­wegs zuver­sicht­lich, bei der Ein­sicht habe ich der­zeit so mei­ne Zwei­fel. Der Heins­berg-Coup von Laschet ist dies­be­züg­lich, um es deut­lich zu sagen, hoch­gra­dig kontraproduktiv.

In der Pres­se und in der Frak­ti­on – genau­so wie in den sozia­len Medi­en – gibt es der­zeit eigent­lich nur ein The­ma. Auch das trägt dazu bei, dass die­se Tage sich stre­cken. Es geht immer um Coro­na. In der Arbeit. In der Frei­zeit. Am Wochen­en­de. In den „Feri­en“. Usw. Klar gibt es Flucht­mo­men­te – Com­pu­ter­spie­le, Fil­me, Bücher – aber eigent­lich ist das Virus dau­er­prä­sent. Und das seit Wochen. Auch das macht die­se Zeit schwie­rig. Viel­leicht brau­chen wir hier ande­re Räume.

Gleich­zei­tig emp­fin­de ich es als schwie­rig, die Pan­de­mie aus­zu­blen­den. Bei­spiel Wahl­pro­gramm – im Früh­jahr 2021 sind Land­tags­wah­len in Baden-Würt­tem­berg. Da jetzt ein Pro­gramm zu schrei­ben, das aus­sieht wie jedes ande­re, das wird nicht gehen. Nicht nur, weil die Wirt­schafts­la­ge und die Finanz­la­ge des Lan­des eine ande­re sein wer­den, son­dern auch des­we­gen, weil die Pan­de­mie eine gan­ze Rei­he von poli­ti­schen Prio­ri­tä­ten umge­wor­fen hat. Das ist jeden­falls mein Ein­druck. Jetzt auf Ant­wor­ten aus dem Jahr 2019 zu set­zen, hät­te ähn­li­che Effek­te wie die gran­di­os dane­ben gegan­ge­ne „Alle reden von Deutsch­land – wir nicht“-Kampagne, die die West-Grü­nen nach der Wen­de aus dem Bun­des­tag kick­te. Es braucht also Sen­si­bi­li­tät dafür, wie die Stim­mung im Land im Früh­jahr 2021 aus­se­hen wird. Nur weiß das jetzt noch nie­mand. Poli­tik wie üblich funk­tio­niert auch des­we­gen gera­de nicht.

Arne Jung­jo­hann hat­te auf Twit­ter mit Bezug auf Caro­lin Emckes Coro­na-Tage­buch nach gene­ra­tio­nen­de­fi­nie­ren­den his­to­ri­schen Ereig­nis­sen gefragt. Bis­her hät­te ich da mit Tscher­no­byl geant­wor­tet, viel­leicht mit der Wen­de, mit der ers­ten rot-grü­nen Bun­des­re­gie­rung, mit 9/11 oder auch mit Fuku­shi­ma und allen Fol­gen, auch in der baden-würt­tem­ber­gi­schen Lan­des­po­li­tik. Gut mög­lich, dass das Jahr 2020 in vie­len Bio­gra­fien die­se Ereig­nis­se über­strah­len wird und in der Geschich­te der Zukunft der Punkt sein wird, an dem das alte 20. Jahr­hun­dert dann wirk­lich geen­det hat.

P.S.: April­ta­ge mit fast 30° Cel­si­us, viel zu wenig Regen, Dür­re­war­nung – die ande­re gro­ße Kri­se ist wei­ter­hin da.