Nachdem ich im ersten Teil meine Ur-Urgroßeltern väterlicherseits vorgestellt habe, geht es diesmal um die Ur-Urgroßeltern mütterlicherseits. Damit geht es jetzt weg von Leutkirch und Bopfingen im Süden nach Norddeutschland – an den Harz, Richtung Bremen und umzu sowie an die Ostseeküste, nach Grömitz.
Grasdorf (heute Teil von Holle), zwischen Hildesheim, Goslar und Salzgitter, Kartendaten: © OpenStreetMap-Mitwirkende, SRTM | Kartendarstellung: © OpenTopoMap (CC-BY-SA)
Karl Franz Heinrich Reuter (1840–1912)
Johanne Louise Reuter (Müller) (1843–1925)
Die Familie Reuter stammt aus Grasdorf (im Harz, heute Teil von Holle in der Nähe von Goslar). Karl wurde in Grasdorf geboren und starb auch da. Er war zunächst Müllergeselle, später Bäckermeister. Er heiratete Johanne, ebenfalls aus Grasdorf. Während Karl katholischen Glaubens war, war Johanne evangelisch. Das Paar hatte zwei Kinder. Johanne starb in Rauischholzhausen (ich vermute, bei ihrer dorthin gezogenen Tochter, Mathilde, die dort den Hofgärtner Carl Diessel geheiratet hatte). Carl Ludwig Reuter, der Sohn des Paars, wird später Lehrer und Schulleiter in Sandhausen (Kreis Osterholz). Dessen Sohn, mein Großvater Carl Reuter, schreibt in seinen Erinnerungen:
„Grasdorf, ein kleines beschauliches Dorf zwischen den Hängen des Vorharzes, an der alten napoleonischen Heerstraße gelegen, welche die Bischofsstadt Hildesheim mit der Kaiserstadt Goslar am Harz verbindet. Am Dorfanfang eine uralte Linde, deren Stamm von den Jahren schon zum Teil ausgehöhlt, darunter der Dorfbrunnen. So kannte ich das Dorf aus den Erzählungen meines Vaters und so sah ich es noch als Kind.
Im Sommer 1928 fuhren wir von Oldenbüttel über Hannover, Hildesheim mit dem Personenzug nach Derneburg. Nach einem Fußmarsch entlang der Innerste, einem Nebenfluß der Leine, erreichten wir in den Abendstunden Grasdorf. Diese Tagesreise war für mich, als damals sechsjährigen, ein großes Erlebnis. Ein zweites und letztes Mal war ich mit meinem Vater 1938 dort. So bot sich noch einmal die Gelegenheit, mich mit Ort und Umgebung näher vertraut zu machen.
Beim Besuch seines Elternhauses, ein roter Backsteinbau, konnte man noch erahnen, wo einst der Großvater [also mein Ur-Urgroßvater, TW] gebacken hatte. Wir sahen auch noch die Kammern, in denen seine Eltern gelbe Kanarienvögel züchteten. Als „Harzer Roller“ wurden diese im Herbst von Aufkäufern abgeholt und nach Amerika verschickt. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand noch ein gut erhaltenes schwarzweißes Fachwerkhaus. Es gehörte früher dem Onkel meines Vaters (Müller), der dort eine Gastwirtschaft mit Kegelbahn betrieb. Als Kind verdiente sich mein Vater hier als Kegeljunge ein Taschengeld. Auch in der Bäckerei hatte er zu helfen. Mit einem Handwagen brachte er das anfallende Brot in die umliegenden Dörfer.“
Auch auf die Tatsache, dass mein Ur-Urgroßvater Karl Reuter als praktizierender Katholik eine Protestantin heiratete, und die Kinder evangelisch erziehen ließ, geht Carl Reuter ein. Das war wohl damals hochproblematisch – es gab in Grasdorf einen lutherischen und einen katholischen Teil der Gemeinde, mit je eigener Kirche und einem in der Mitte geteilten Schulgebäude („eigene Klassenzimmer, eigene Toiletten und einen eigenen Schulhof“, getrennt durch einen Drahtzaun). Bis 1866 galt in Grasdorf das „Königlich-Hannöversche Recht“, demzufolge die Kinder im Glauben des Vaters zu erziehen waren. 1866 wurde das Königreich Hannover dann Teil Preußens, damit konnte nun der Vater festlegen, in welcher Konfession die Kinder erzogen werden. Laut den Aufzeichnungen meines Großvaters versuchte der katholische Klerus mit allen Mitteln, Karl Franz Heinrich Reuter dazu zu bringen, seine Kinder doch katholisch erziehen zu lassen. So wurde dem Sohn ein Theologiestudium samt Priesterausbildung versprochen, ihm selbst wurde angeboten, die Klostermühle zu pachten. Aber all diese Bestechungsversuche fruchteten nicht:
„An einem Heiligen Abend, nach der Weihnachtsbäckerei erhielt mein Großvater in seiner Backstube den Besuch eines jungen Jesuiten, der noch einmal alle Möglichkeiten erläuterte. Zum Schluß machte er den Vorschlag: Nach Kirchenrecht sei er ja mit einer Ungläubigen verheiratet, er könnte er also seine Kinder katholisch taufen lassen, ohne es seiner Frau wissen zu lassen. Nach dieser unglaublichen Aufforderung […] soll er den Jesuiten mit einen Backscheit verprügelt haben. Eine Anzeige seitens des Klerus ist scheinbar nicht erfolgt.
Mein Großvater hat zu seinen Lebzeiten die kath. Kirche in Grasdorf nicht wieder betreten. Da er ein praktizierender Katholik war, besuchte er, wenn er das Bedürfnis hatte, die Messe im Dom zu Hildesheim.“
Loxstedt, Stubben, Beverstedt, Sandhausen und Osterholz-Scharmbeck, Kartendaten: © OpenStreetMap-Mitwirkende, SRTM | Kartendarstellung: © OpenTopoMap (CC-BY-SA)
Johann Heinrich Ludwig Fincken (1847–1888)
Catharine Marie Christine Fincken (Menke) (1852–1934)
Johann Heinrich Ludwig kommt aus Scharmbeck, heute Teil von Osterholz-Scharmbeck. Er war wohl zwischenzeitlich Kaufmann, später – so ist es den Aufzeichnungen meines Großvaters zu entnehmen – Gastwirt („Alter Krug“, das älteste Gasthaus im Ort, das seit 1870 von der Familie Fincken betrieben wurde) und Kleinbauer in Scharmbeck und starb dort auch, mit nur 40 Jahren. Er war evangelisch, ebenso wie Katharina, die er am 2. März 1875 in Scharmbeck heiratete. Die beiden hatten drei Kinder. Die Herkunftsfamilien Menke bzw. Wellbrock von Marie sind in Scharmbeck bzw. im Teufelsmoor lange nachweisbar. Ihre Jugendzeit verbrachte Marie in der Koppelstraße in Scharmbeck. Im Bild dürfte Katharina Fincken bei der Heirat ihrer Tochter Sophie Fincken mit Carl Ludwig Reuter zu sehen sein.
Nach dem Tod von Johann musste Marie, so schreibt es Carl Reuter, „die Gastwirtschaft und die Landwirtschaft, unterstützt von ihren Kindern, alleine weiterführen.“ 1922 vermietete sie dann den „Alten Krug“ und zog nach Sandhausen, 1929 wurden Gaststätte und Grundstück verkauft. Das Gasthaus selbst stammt aus dem Jahr 1670. Carl Reuter beschreibt es, „so wie ich es noch als Kind erlebte und Erinnerung habe:“
„Durch die große Eingangstür betrat man die Diele, an deren linker Seite sich der Schankraum befand. Gegenüber auf der rechten Seite war die Stube eingerichtet, die den weiblichen Gästen vorbehalten blieb. Den Abschluß der Diele bildeten Küche und sonstige Wohnung.
Nach dem Kirchgang fanden sich die Männer an der Theke ein, um in lockerer Gesprächsrunde bei Schnaps und Bier ihre Probleme zu besprechen. Die Frauen nahmen unterdessen in der Stube Platz. Bei leichtem Braunbier, im Winter bei „Heet und Söt“, eine[r] Art Heißgetränk aus Bier, machten hier sicherlich nicht nur hauswirtschaftliche, sondern vor allem auch die familiären Neuigkeiten die Runde. […] In einer Zeit, in der es auf den teilweise weit verstreuten Höfen des Teufelsmoores kaum eine Zeitung gab, bot der sonntägliche Kirchgang der Landbevölkerung die fast einzige Möglichkeit zur Kommunikation.“
Neben den Kirchgängern kamen auch Handwerksmeister aus Scharmbeck in den „Alten Krug“, um dort Kegelabende abzuhalten. Im Winter veranstalteten diverse Vereine Gänseessen und Kohlessen.
Pferdefuhrwerk, Torfkahn und überschwemmte Hammewiesen (Fotos: Carl Reuter, 1940) |
Mein Großvater beschreibt auch die Arbeit meiner Ur-Urgroßeltern in der Landwirtschaft.
„Wie alle Handwerker und Gewerbetreibenden in damaliger Zeit, betrieb auch sie [Marie Fincken] eine kleine Landwirtschaft mit ein paar Kühen und sonstigem Kleinvieh. Außer Ackerland an den Rändern des Fleckens besaßen sie Weiden in den fruchtbaren Hammewiesen. Wenn die Herbststürme das Wasser von der Nordsee, der Weser, auch in die Hamme trieben, glichen alle Wiesen von Ritterhude bis nach Worpswede einem riesigen See. Der in den Wassermassen enthaltene Schlamm sorgte für eine gute Düngung. So fanden die Kühe, die im Frühjahr hierher getrieben wurden, ein saftiges Gras, das nicht nur ausreichendes Futter bis in den späten Herbst hinein ergab, sondern für den Besitzer auch eine sehr gute Milch.“
Das Melken der Kühe war Aufgabe der Frauen, die dafür jeden Tag einmal den weiten Weg bis zu den Hammewiesen gingen und mit vollen Eimern beschwert zurückkehrten.
Grömitz, Lenste und Beschendorf an der Ostsee, Kartendaten: © OpenStreetMap-Mitwirkende, SRTM | Kartendarstellung: © OpenTopoMap (CC-BY-SA)
Johannes Joachim Friedrich Meyer (1856–1888)
Magdalena Katharina Sophie Meyer (Rüsch) (1853–1941)
Mein Großvater schreibt über Grömitz, den Ort an der Ostsee, aus dem die Großeltern meiner Großmutter stammen:
„Grömitz, an der Lübecker Bucht gelegen, ist heute ein modernes Seebad. Um die Jahrhundertwende jedoch war es ein kleines Kirchdorf, dessen Bewohner Kleinbauern, Fischer und Handwerker waren. Viele mußten sich zusätzlich als Hilfskräfte auf den großen Gütern verdingen, um ihren kargen Lebensunterhalt ein wenig aufzubessern.“
Mein Ur-Urgroßvater Johannes Meyer wurde in Lenste nahe Grömitz geboren. Er war Schuhmacher, evangelisch. 1879 heiratet er Magdalena Sophie Rüsch aus Beschendorf in der Nähe von Grömitz, auch sie evangelisch. Im gleichen Jahr kauft Johann eine Kathe (ein Wohnhaus mit Stall und Acker) in Grömitz; das Häuschen umfasste wohl 68 m². Bereits 1888 (nach anderen Quellen 1889) stirbt Johannes bei einem Unfall beim Holzfällen in den königlichen Forsten, nur 32 Jahre alt. Die 35-jährige Witwe muss nun ihre vier Kinder alleine durchbringen.
In den Aufzeichnungen meiner Großeltern heißt es dazu:
„Als Witwenrente bekam sie [Magdalena Meyer] pro Monat 5 Mark und 8 Pfennige für sich und für die minderjährigen Kinder (bis zum 15. Lebensjahr) 22 Mark und 55 Pfennige. Sie holte zunächst ihre Mutter ins Haus, die sich um die Kinder kümmern konnte, während sie selbst sich da tageweise verdingte, wo ihre Arbeitskraft benötigt wurde,in der Landwirtschaft auf den Gütern, beim Schlachten oder auch in der Pflege von Wöchnerinnen. So mußten auch die Kinder schon zum Haushalt beitragen. Lieselottes Vater [d.h. mein Urgroßvater, TW] erzählte davon, daß er als Schuljunge ob Sommer oder Winter, morgens um 6 Uhr im Küsterhaus erscheinen mußte, um für die Familie des Küsters nicht nur den Wasserbedarf des Tages von der Pumpe auf dem Hof, in Eimern in die Küche zu bringen. Auch zum Kleinhacken des Brennholzes wurde er eingesetzt.“
Magdalena Meyer stirbt in Scharmbeck, wo ihr Sohn Friedrich Wilhelm Meyer ab etwa 1920 das „Überlandwerk Nord-Hannover“ (also die Anbindung und Überprüfung der Stromversorgung) in der Logerstraße („auf der Loge“, eine Handvoll Häuser am Stadtrand von Scharmbeck) leitet.
Auf dem Foto ist meine Ur-Urgroßmutter im Strandkorb zu sehen, mein Urgroßvater Friedrich Meyer und seine Frau Christine (geb. Brinkmann) sind rechts im Bild, wenn ich das richtig zuordne, die beiden Kinder dürften meine Großmutter Lieselotte und ihr Bruder sein – die Szene spielt wohl in Grömitz an der Ostsee. In den Aufzeichnungen meiner Großeltern schreibt meine Großmutter dazu:
„In den Sommerferien fuhren wir alle zu meiner Großmutter nach Grömitz. Das heutige mondäne Ostseebad war in den dreißiger Jahren noch ein verträumtes, kleines Fischerdorf. Die Großmutter lebte in einem kleinen Häuschen, das auch das Elternhaus meines Vaters war. Gekocht wurde noch über einem offenem Feuer, das meiner Mutter, die schon an elektrische Herde gewöhnt war, des öfteren Brandblasen bescherte. Dort trafen wir häufig auch unsere Kieler Verwandten. Meine Cousine brachte mir im seichten Wasser der blauen Ostsee schon früh das Schwimmen bei. Wir Kinder hatten dort herrliche Spielmöglichkeiten und abends ging es manchmal auf den Boden, wo wir im Heu schlafen konnten.“
Heinrich Friedrich Brinkmann (1858-??? 1890)
Johanna Katharina Brinkmann (Henken) (1857–1922)
Heinrich kommt aus Loxstedt (bei Bremerhaven) und war evangelisch. Er war wohl Bahnbeamter Bahnarbeiter und lebte in Stubben (bei Beverstedt, ebenfalls in der Nähe von Bremerhaven). Er heiratete Johanna Henken aus Hofe (möglicherweise ein Ortsteil von Beverstedt) Wremen, die in Scharmbeck starb; ihr Vater war Dienstknecht, ihre Mutter, eine gebürtige Desebrock aus Mulsum, kommt ebenfalls aus einer Arbeiterfamilie. Das Paar hatte sechs Kinder.
Dazu schreiben meine Großeltern in den Aufzeichnungen meines Großvaters Carl Reuter:
„Die Großeltern von Lieselotte [Heinrich und Johanna Brinkmann] lebten in Adelstedt (heute Stubben), wo sie ein kleines Häuschen besaßen. Da der Vater in frühen Jahren starb, mußte auch hier die Mutter die vielköpfige Familie durchbringen, zusammen mit dem Großvater, der als kleiner Bahnbeamter (Stationsnachtwächter) eine bescheidene Pension bezog.“
Ein besonderer Dank gilt an dieser Stelle meiner Tante Dagmar Reuter, die die hier verwendeten Aufzeichnungen und Fotografien eingescannt hat.
Hallo Till,
ich habe deine Familie in Beverstedt, Stubben gefunden:
Heinrich Friedrich ist am 25.03.1858 in Loxstedt geboren,
er hat Johanne Catharina Henken geb. am 12.06.1857 Wremen
in Beverstedt am 1.08.1879 geheiratet.
Heinrich war Eisenbahnarbeiter in Elfershude, was den Ort Hude
(nicht Hose) entspricht.
Danke!