Nach der gestrigen Twitter-Debatte unter anderem mit dem Journalisten Nils Minkmar erscheint es mir doch notwendig, noch ein paar Worte zu Fridays for Future und der Methode des Schulstreiks aufzuschreiben. Aber das wichtigste zuerst: insgesamt ist die Debatte um die Schulpflicht aus meiner Sicht ein Ablenkmanöver, ein funktionales Äquivalent zur Frage „what about“, die vom Kern der Sache fortführt – bewusst oder als unintendierte Folge.
Kern der Sache ist und bleibt die Klimakrise. Der Alarmismus ist faktenbasiert und tief in der Wissenschaft verankert. Heute schon beobachten wir massive Folgen der steigenden CO2-Werte in der Atmosphäre – höhere Durchschnittstemperaturen, Hitzewellen, Unwetterereignisse, schmelzendes Eis in der Arktis, ein schneller als erwartet steigender Meeresspiegel. Gleichzeitig gibt es zwar das Pariser Abkommen – die tatsächliche Entwicklung der Emissionswerte gibt aber global wie national wenig Grund zur Zuversicht.
Gestern wurden Zahlen für Deutschland vorgelegt. Unterm Strich sind die Treibhausgasemissionen um 4,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesunken. Das klingt nach einigen Jahren der Stagnation hoffnungsvoll, ist aber bei näherem Hinsehen zu einem großen Teil ein Nebeneffekt der Witterungsverhältnisse (geringerer Heizbedarf sowie steigende Heizölpreise durch u.a. die im Sommer wegen der extrem niedrigen Wasserstände letztes Jahr ausfallenden Rheinschifffahrt) – und es liegt unterhalb der Rate, mit der Jahr für Jahr die CO2-Emissionen in Deutschland gesenkt werden müssten, um das 1,5‑Grad-Ziel noch zu erreichen.
Insofern: es geht um was, und ich kann völlig nachvollziehen, dass Jugendliche davon bewegt sind und die durch Greta Thunberg ausgelöste Bewegung weltweit eine solche Resonanz findet. Es geht nicht um irgendwann etwas tun, um das Entwickeln schöner Zukunftsbilder, sondern um die schlichte Botschaft: wenn ihr, in allererster Linie ist das die Politik, jetzt nicht handelt, dann müssen wir in ein paar Jahren mit dramatisch veränderten Umständen zurechtkommen. Tut was, nehmt das endlich ernst und handelt! Dass das politisiert, ist doch nur logisch.
Das ist aus meiner Sicht der Kern der Sache.
Das Instrument, freitags nicht zur Schule zu gehen, hat sich als wirkungsvoll erwiesen, und zwar egal, ob als Daueraktion wie bei Greta Thunberg oder mit großen Demonstrationen alle paar Wochen, wie ich das selbst aus Freiburg kenne, wo dann auch meine Tochter dabei ist.
Nicht zur Schule zu gehen ist eine Regelverletzung. Wer streikt, setzt sich dem Risiko von Sanktionen aus. Genau deswegen ist dieses Mittel wirkungsvoll. Freiwilliger Konsumverzicht oder eine Demo am Wochenende würden längs nicht diese Wirkung entfalten.
Dabei geht es – das zeigt auch die empirische Befragung der Uni Konstanz – den streikenden Schülerinnen und Schülern nicht darum, die Schule zu schwänzen oder den Unterricht zu verpassen. Sie wurden nicht von irgendwem auf die Straße gelockt, sondern machen bei diesen Aktivitäten mit, weil sie sehen, dass durchaus auch radikales Handeln jetzt noch etwas daran ändern kann, wie die Welt in ein paar Jahren und Jahrzehnten aussieht. Und das ist keine Ideologie, Religion oder sonstige Verdrehung, sondern schlicht Klimawissenschaft.
Manchen Menschen ist es trotzdem wichtig, jetzt nicht über den inhaltlichen Kern des Streiks zu sprechen, sondern darüber, ob eine solche Regelverletzung geduldet oder gar unterstützt werden darf. In primitiver Weise ist das die Leserbriefhaltung „die schwänzen und bräuchten mal eine Tracht Prügel“. Ausdifferenzierter wird es, wenn aus dem dosierten Bestreiken des Schulunterrichts ein Angriff auf die Gültigkeit der Schulpflicht abgeleitet wird. Die stellt zwar niemand in Frage, auch den streikenden Schülerinnen und Schülern ist klar, dass sie gegen eine Anwesenheitspflicht verstoßen. Dennoch wird dieses Argument immer wieder vorgebracht.
Das kann in zwei Varianten geschehen – links-fürsorglich bis paternalistisch, weil die allgemeine Schulpflicht in der Tat eine große Errungenschaft ist, und weil möglicherweise auch Schülerinnen und Schüler an dem Streik teilnehmen, die damit für sie wichtige Teile des Unterrichts verpassen, Fächer, in denen sie schlecht stehen, oder die nicht in der Lage sind, den verpassten Stoff eigenständig nachzuarbeiten. Angesichts des realen Unterrichtsausfalls (bei fast zehn Prozent) erscheint mir das als Strohmann-Argument; zumindest zeugt es von einem Weltbild, in dem Schülerinnen und Schülern abgesprochen wird, selbst einschätzen zu können, ob ein Streik – der ja nicht automatisch zu Unterrichtsausfall für die nicht Streikenden führt! – etwas ist, an dem sie teilnehmen können oder nicht.
Ähnlich gelagert geht es darum, dass Bildung doch wichtig sei, um genau die Fähigkeiten zu erlernen, die irgendwann in der Zukunft notwendig sind, um etwas gegen den Klimawandel zu tun. Aber erstens richtet sich der Streik der Schülerinnen und Schüler nicht gegen Bildung, zweitens scheint mir der Bildungswert eines selbstorganisierten global vernetzten Protestes in einigen Fächern durchaus hoch zu sein – wer streikt, lernt nicht nur etwas über Gemeinschaftskunde, sondern auch über Geologie -, und drittens ist irgendwann in der Zukunft halt schlicht zu spät.
Die zweite Variante des Arguments verweist gut preußisch auf die Notwendigkeit, staatliche Pflichten auch einzuhalten. Eigentlich ist diese Variante eine Kritik an jeder Form des zivilen Ungehorsams; gerne kommt sie im Mantel des „dann haben auch Nazis keinen Grund mehr, sich an Regeln zu halten“ daher. Dieses Argument finde ich insofern spannender, als damit ja tatsächlich die Frage verbunden ist, wie viel Ungehorsam und Regelverstoß eine liberale Demokratie aushält, und was passiert, wenn Instrumente aus der linken und alternativen Protestbewegung plötzlich vom Umfeld der Alternative für Deutschland aufgegriffen werden. Hier tut aus meiner Sicht eine Spur mehr Gelassenheit gut – es gibt einen Bereich legitimer Formen des Protests und des Widerstands, der, egal von wem genutzt, nicht gleich den Zusammenbruch der Staatsmacht nach sich zieht.
Lassen wir uns nicht ablenken! Im Kern der Sache geht es darum, wie unser Klima in ein paar Jahren aussieht, und ob die jetzt notwendigen Maßnahmen ergriffen werden oder nicht. Aktuell ist der Schulstreik ein gut funktionierendes Mittel, um die Aufmerksamkeit für dieses Thema zu erhöhen. Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat – in einem gestern leider vielfach verfälscht wiedergegebene Zitat – recht, wenn er die Frage stellt, wie lange das weiter gehen kann. Auch ein politischer Streik von Schüler*innen (oder, wie in den letzten Jahren ja mehrfach vorgekommen, Student*innen) nutzt sich irgendwann ab, nämlich dann, wenn er nicht mehr neu ist, wenn alle sich daran gewöhnt haben, und damit auch Berichtsanlässe wegfallen.
Die noch junge Fridays-for-Future-Bewegung mit ihrer mich immer noch erstaunenden globalen, dezentralen Vernetzung, wird vor der Frage stehen, was sie, was unsere Kinder noch tun können, um uns zum Handeln zu bewegen. Vielleicht sollten wir hier nicht warten, sondern da, wo wir „Erwachsene“ etwas bewegen können, jetzt etwas tun.
Auf Landesebene wie auf Bundesebene betrifft das beispielsweise die derzeit von der CDU blockierten Klimaschutzgesetze. Die müssen dringend kommen, aber sie müssen eben auch darauf überprüft werden, ob die dort aufgeführten Maßnahmen ausreichen, um die notwendigen Ziele zu erreichen. Wenn nicht, braucht es angesichts der harten planetaren Grenze auch radikalere Maßnahmen. Die brauchen politische Mehrheiten – etwa bei der Europawahl im Mai. Auch wenn die meisten Schülerinnen und Schüler noch nicht wählen dürfen, ist das eben doch einer der politischen Kipppunkte, der darüber entscheiden kann, ob es mit der Einhaltung des 1,5‑Grad-Ziels so gerade eben noch etwas wird – oder, mit aller Konsequenz, eben nicht. Darum geht es!
Warum blogge ich das? Weil ich die gestrige Twitter-Debatte zwar schräg fand, in gewisser Weise aber auch anregend und schärfend für die eigene Argumentation. Und das habe ich hiermit mal aufgeschrieben.