Ein Programm für heute

Berlin

Ges­tern und vor­ges­tern fand in Ber­lin der Grund­satz­kon­vent statt, auf dem der „Zwi­schen­be­richt“ für das neue grü­ne Grund­satz­pro­gramm vor­ge­stellt wur­de, und zugleich ein biss­chen gefei­ert wur­de – schließ­lich trat genau vor 40 Jah­ren die „Sons­ti­ge Poli­ti­sche Ver­ei­ni­gung DIE GRÜNEN“ zur Euro­pa­wahl an, das war sozu­sa­gen die ers­te Grün­dung der Grü­nen als Par­tei, die zwei­te folg­te dann ein Jahr spä­ter nach deut­schem Recht in Karls­ru­he (nähe­re Infos zum Kon­vent mit Link zum Zwi­schen­be­richt).

Frei­tag­nach­mit­tag bestand der Kon­vent vor allem aus Büh­nen­pro­gramm (aber was für einem!) – Micha Kell­ner, Robert Habeck und Anna­le­na Baer­bock stell­ten den Zwi­schen­be­richt vor; Katha­ri­na Bor­chert (Mozil­la Foun­da­ti­on), Fer­da Ata­man (Jour­na­lis­tin) und Lui­sa Neu­bau­er (Fri­days for Future) lob­ten und kri­ti­sier­ten den Bericht; zudem wur­de ein Film zu „40 Jah­ren SPV DIE GRÜNEN“ gezeigt. Und gefei­ert wur­de auch. Am Sams­tag ging es dann mit ein paar hun­dert Leu­ten im Open-Space-For­mat wei­ter. Auch das, wie ins­ge­samt vie­les am Grund­satz­pro­gramm­pro­zess, ein Betei­li­gungs­expe­ri­ment, und eines, das gut geklappt hat, so jeden­falls mein Ein­druck. Mit den Impul­sen aus dem Kon­vent, mit Ideen aus wei­te­ren Ver­an­stal­tun­gen, auch mit der Grund­satz­aka­de­mie der Bun­des­ar­beits­ge­mein­schaf­ten läuft jetzt noch etwa ein Jahr lang der wei­te­re Grund­satz­pro­gramm­pro­zess. Der 74 Sei­ten star­ke Zwi­schen­be­richt ist dabei genau das, was der Name sagt: eine Doku­men­ta­ti­on des der­zei­ti­gen Dis­kus­si­ons­stands, und eine Idee, in wel­che Rich­tung es mit dem Pro­gramm gehen kann.

An die­ser Stel­le muss ich dar­auf hin­wei­sen, dass es mir schwer fällt, neu­tral über den Bericht zu urtei­len – ich war Mit­glied der Schreib­grup­pe, die den Bun­des­vor­stand bera­ten hat. Das hat vie­le, vie­le Zug­fahr­ten nach Ber­lin mit sich gebracht, aber extrem span­nen­de Dis­kus­sio­nen über Nar­ra­ti­ve und Sto­rytel­ling, über die Spra­che unse­res Pro­gramms, aber auch dar­über, ob die grü­nen Wer­te heu­te noch gül­tig sind. Wir haben dar­über gere­det, wie sich die aktu­el­len Her­aus­for­de­run­gen, vor denen wir als Mensch­heit ste­hen, eigent­lich fas­sen las­sen, und wie poli­ti­sche Lösun­gen und Hand­lungs­op­tio­nen aus­se­hen kön­nen. Gerun­gen wur­de eben­so dar­um, wel­che The­men ange­spro­chen wer­den wie auch dar­um, auf wel­chem Kon­kre­ti­ons­le­vel dies eigent­lich gesche­hen soll.

Ich bin – wie gesagt, sicher­lich vor­ein­ge­nom­men – mit dem jetzt vor­lie­gen­den Ergeb­nis sehr zufrie­den. In die End­fas­sung des Zwi­schen­be­richts sind noch ein­mal vie­le Impul­se aus der Par­tei ein­ge­flos­sen, und die Struk­tur hat sich an eini­gen Stel­len ver­än­dert. Aber trotz­dem erken­ne ich vie­les wie­der, was wir in der Schreib­grup­pe und mit dem Bun­des­vor­stand dis­ku­tiert haben. (Kei­ne Sor­ge: es gibt auch noch ein paar Ideen, die im Zwi­schen­be­richt noch nicht zu lesen sind, sowohl was das For­mat anbe­langt als auch inhalt­lich. Und nach dem Kon­vent sind das noch ein­mal eini­ge mehr geworden).

Ein Grund­satz­pro­gramm­pro­zess kann ja leicht in Rich­tung Selbst­be­schäf­ti­gungs­the­ra­pie füh­ren. Ich glau­be, die­se Klip­pe haben wir ganz gut umschifft. Das nächs­te Jahr fer­tig wer­den­de Grund­satz­pro­gramm wird dann das vier­te grund­sätz­lich-pro­gram­ma­ti­sche Doku­ment sein. 1980 gab es ein ers­tes Grund­satz­pro­gramm der neu gegrün­de­ten Par­tei, rund 40 Sei­ten umfas­send, im Maga­zin­stil – mit den dama­li­gen Mit­teln – lay­outet, voll akti­vis­ti­scher Auf­bruchs­stim­mung. 1993, im Zuge der Ver­ei­ni­gung zwi­schen DIE GRÜNEN und Bünd­nis 90, wur­de ein knap­per Grund­kon­sens ver­fasst, der in Para­gra­phen­form die wich­tigs­ten Wer­te und Hal­tun­gen defi­niert. Hier kamen unter ande­rem die Men­schen­rech­te mit in die Par­tei. (Viel­leicht kurz zu mei­ner eige­nen „Par­tei­ge­schich­te“ – ich habe zwar 1991 die Grün-Alter­na­ti­ve Jugend Baden-Würt­tem­berg mit gegrün­det, Par­tei­mit­glied bin ich aber erst seit 1996 – inso­fern habe ich die­se bei­den Dis­kus­si­ons­pro­zes­se nicht selbst mit­ge­kriegt.) 2002 wur­de dann – nach einem lan­gen Pro­zess, mit Zukunfts­kon­fe­renz und auch damals schon vie­len Betei­li­gungs­for­ma­ten, das der­zeit gül­ti­ge Grund­satz­pro­gramm ver­ab­schie­det. Das ist mit 180 Sei­ten sehr lang, stel­len­wei­se auch sehr aka­de­misch gera­ten – Micha Kell­ner mach­te sich auf dem Kon­vent ein biss­chen lus­tig über die sie­ben Aspek­te des Gerech­tig­keits­be­griffs. Wer heu­te in das Pro­gramm rein­schaut, fin­det vie­les, was immer noch gül­tig ist, oder was Debat­ten ange­legt hat, die wir heu­te füh­ren (in mei­nen The­men­fel­dern: unser Ver­hält­nis zu Wis­sen­schaft und Tech­nik – unser Umgang mit dem damals noch jun­gen Inter­net), es gibt aber auch den einen oder ande­ren Punkt, der 2002 – mit­ten im rot-grü­nen Pro­jekt – anders geklun­gen haben mag als 2019. 

Zumin­dest die ers­ten bei­den Grund­satz­tex­te waren stark nach innen gerich­tet, auf Selbst­ver­ge­wis­se­rung und das the­ma­ti­sche Zusam­men­brin­gen der schon immer viel­fäl­ti­gen Par­tei hin aus­ge­rich­tet. Das 2002er-Pro­gramm war in gewis­ser Wei­se der Ver­such, den Schritt zum Voll­sor­ti­men­ter phi­lo­so­phisch zu begrün­den – mit­ten in der Regierungszeit.

Was ist – Stand Zwi­schen­be­richt – heu­te neu und anders? An vor­ders­ter Stel­le das, was unter dem Schlag­wort „Bünd­nis­par­tei“ dis­ku­tiert wird. Der Zwi­schen­be­richt beschreibt grü­ne Wer­te, die grü­ne Sicht auf die Welt und grü­ne Hand­lungs­an­sät­ze. Aber er tut dies in einer Form, die Offen­heit ermög­licht. Wir haben Wer­te – Öko­lo­gie, Gerech­tig­keit, Selbst­be­stim­mung, Demo­kra­tie und Frie­den – und wer sich in die­sen Axio­men wie­der­fin­det, der ist bei uns rich­tig. Das Pro­gramm ist weni­ger Selbst­ver­ge­wis­se­rung und mehr Ange­bot. Das wird auch deut­lich, wenn im Text selbst dar­auf ein­ge­gan­gen wird, dass auch unse­re Wer­te nicht immer wider­spruchs­frei zuein­an­der ste­hen, son­dern immer und immer wie­der Aus­hand­lungs­pro­zes­se benö­ti­gen. Kon­flikt, Dis­kus­si­on, Streit, aber auch die Eini­gung – in demo­kra­ti­schen Ver­fah­ren – als Grund­mo­tiv, und eben nicht eine har­te Freund-Feind-Linie.

Ein wich­ti­ges Ele­ment in die­sem Pro­gramm­text ist für mich das, was ich in einer unse­rer Dis­kus­sio­nen mal „Zeit der Ungleich­zei­tig­kei­ten“ genannt habe – mit Wil­liam Gib­son: die Zukunft ist schon da, sie ist nur ungleich ver­teilt. Mehr noch: die Zukunft ist nicht nur schon da, ist im Hier und Jetzt ange­legt, son­dern sie ist auch beein­fluss­bar. Es gibt ein „einer­seits“ und ein „ande­rer­seits“, posi­ti­ve und nega­ti­ve Ent­wick­lun­gen, und dar­über, wie es wei­ter­geht, ent­schei­den weder Natur­ge­set­ze noch omi­nö­se Mäch­te noch vor­ge­zeich­ne­te Schick­sals­li­ni­en, son­dern dar­über ent­schei­det Poli­tik. Inso­fern ist die­ser Zwi­schen­be­richt ein ganz kla­res Signal: Poli­tik heu­te, gera­de in die­sen Zei­ten, wo so gut wie alles kom­pli­ziert ist, mag zwar kei­ne ein­fa­chen Lösun­gen haben. Aber Poli­tik ist emi­nent wich­tig, gera­de weil Zukunft offen und gestalt­bar ist. Und: Belie­big­keit war ges­tern. Das Her­aus­for­de­rungs­ka­pi­tel im Zwi­schen­be­richt spie­gelt die­ses Einer­seits-Ande­rer­seits aus mei­ner Sicht sehr gut. Egal, ob es um die öko­lo­gi­schen Kri­sen, die Demo­kra­tie unter Druck, (digi­ta­le) Tech­nik oder die Glo­ba­li­sie­rung geht: fast nichts ist schwarz oder weiß, aber es ist eben auch nicht grau. Im Keim sind schwarz und weiß ange­legt, wel­che Zukunft sich rea­li­siert, ist eine poli­ti­sche Frage.

Neben­bei bemerkt: was mir an die­sem Pro­gramm auch sehr gut gefällt, ist eine opti­mis­ti­sche Hal­tung auf Tech­nik. Klar, auch Tech­nik ist nicht ein­fach, son­dern muss auf der Grund­la­ge eines Wer­te­kom­pass mit­ge­stal­tet wer­den, sie ist Pro­blem und Lösung zu gleich – aber sie kann eben auch, und das ist in die­ser Deut­lich­keit neu für grü­ne Tex­te, Teil der Lösung sein. Ent­spre­chend wich­tig sind Rah­men­be­din­gun­gen für Inno­va­ti­on, und sind gute Bedin­gun­gen für Wis­sen­schaft und For­schung. Das nimmt für ein 74-Sei­ten-Pro­gramm im Zwi­schen­be­richt zu recht rela­tiv viel Raum ein. Und eben­so taucht auf, dass unse­re Poli­tik evi­denz­ba­siert sein soll. Das ist durch­aus bedeu­tungs­voll, weil damit zwei Ansprü­che ver­bun­den sind: wir rich­ten uns nach wis­sen­schaft­li­chen Fak­ten – und wir sind bereit, unse­re poli­ti­schen Schluss­fol­ge­run­gen zu ändern, wenn sich der wis­sen­schaft­li­che Kon­sens verändert. 

Offen­heit für Neu­es, Bünd­nis­fä­hig­keit, der Weg aus der Nische, der kon­se­quen­te Ver­zicht auf den Blick nach innen, eine kom­pli­zier­te Sicht auf die Welt – ich ver­ste­he, wenn man­che dann gleich Belie­big­keit unter­stel­len und Weich­spü­ler im Ein­satz ver­mu­ten. Wer den Zwi­schen­be­richt auf­merk­sam liest, wird fest­stel­len, dass das ganz und gar nicht der Fall ist. Enkel­taug­lich­keit, (glo­ba­le) Gerech­tig­keit auch als The­ma der Öko­lo­gie und eine kon­se­quent an pla­ne­ta­ren Gren­zen ori­en­tier­te Poli­tik sind har­te Aus­sa­gen – und wir mei­nen die ernst. Lui­sa Neu­bau­er von Fri­days for Future fand das auf dem Kon­vent trotz­dem noch nicht deut­lich genug. Viel­leicht müs­sen wir hier noch muti­ger sein, zu sagen, was die­se Ori­en­tie­run­gen bedeu­ten. Aber nicht nur in der Öko­lo­gie, auch mit Blick auf die Ein­he­gung des Mark­tes im Sin­ne einer sozi­al-öko­lo­gi­schen Markt­wirt­schaft, auf die Zer­schla­gung von digi­ta­len Platt­form­un­ter­neh­men, oder auf die geo­po­li­ti­sche Rol­le Euro­pas, gedacht als einer euro­päi­schen Repu­blik sind in die­sem Pro­gramm­ent­wurf sehr kla­re und sehr kan­ti­ge Aus­sa­gen zu fin­den. Und genau so wie wir eine Ori­en­tie­rung der Poli­tik an pla­ne­ta­ren Gren­zen ernst mei­nen, sind auch das kon­kre­te Ideen dazu, wel­che Zukunft in die­ser Gegen­wart begin­nen soll. Hier wür­de ich mir von machen mehr Zutrau­en in die Poli­tik­fä­hig­keit der Poli­tik wünschen.

Abschlie­ßend noch ein Hin­weis auf eine wich­ti­ge pro­gram­ma­ti­sche Neue­rung: manch­mal haben wir uns in der Ver­gan­gen­heit ger­ne dar­an ori­en­tiert, Verbraucher*innen dazu auf­zu­ru­fen, rich­tig zu han­deln. Da wur­de Poli­tik schnell zu Moral, mit neo­li­be­ra­len Anklän­gen („Selbst­op­ti­mie­rung“). Natür­lich ist es rich­tig, dass jede und jeder Ein­zel­ne im eige­nen Leben mit ent­schei­den kann, wel­che Alter­na­ti­ven gewählt wer­den, und qua Ver­brau­cher­macht und Markt damit auch Struk­tu­ren zu ver­än­dern. Aber im Zwi­schen­be­richt steckt eben auch hier eine kla­re Ori­en­tie­rung dar­an, dass Poli­tik die Ent­schei­dun­gen trifft, und die­se weder auf Unter­neh­men noch auf Verbraucher*innen abwäl­zen darf. Ich fin­de die­ses Bekennt­nis zum Poli­ti­schen wich­tig und sehr zeit­ge­mäß. Viel­leicht ist 2019 das Jahr, in dem aus Nutzer*innen und Verbraucher*innen auch in der all­ge­mei­nen Wahr­neh­mung wie­der Bürger*innen wer­den, die in demo­kra­ti­schen Ver­fah­ren Poli­tik mit der Macht und der Not­wen­dig­keit aus­stat­ten, Ent­schei­dun­gen zu tref­fen, die alle betref­fen. Denn das ist drin­gend notwendig.

War­um blog­ge ich das? Als per­sön­li­chen Zwi­schen­be­richt zum Zwischenbericht …

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