Ich mag ja Lexika. Als Jugendlicher stand die grünen Taschenbücher des rororo Lexikon in neun Bänden meiner Eltern in meinem Zimmer. Das muss damals – in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre – auch schon nicht mehr ganz taufrisch gewesen sein; im Netz finde ich v.a. eine Ausgabe von 1966; vielleicht war die, die wir hatten, aber auch etwas später erschienen. Und ich gebe es zu: ich habe das durchaus auch mal von A bis Z durchgelesen. Besonders spannend fand ich die Bildtafeln – ich erinnere mich an Vögel, Pflanzen, Trachten. Inzwischen gibt es für sowas ja die Wikipedia. Die hat den Nachteil, a. sich nicht von vorne bis hinten durchlesen zu lassen, und b. jedes Nachschlagen mit der Nutzung eines elektronischen Geräts zu verbinden, was dann möglicherweise zu internet- oder wikipediaspezifischen Ablenkungseffekten (Link, Link, Link … ganz woanders ankommen) führt.
Jedenfalls habe ich deswegen, vor allem auch mit Blick auf meine Kinder, vor ein paar Tagen ein kompaktes Lexikon gekauft. Die Auswahl fiel auf das Große Buch des Allgemeinwissens der Duden-Reaktion (aus dem Jahr 2015, das war auch mehr oder weniger das neuste der Kompaktlexika, die ich im Netz gefunden habe). Jetzt haben wir das Buch mal durchgeblättert, und ich bin nur so halbzufrieden. Das hat drei Gründe.
Der erste ist lexikoninhärent: die Einträge sind sehr knapp, gerade im Vergleich mit dem, was die Wikipedia liefert, und teilweise sehr verkürzt formuliert. Das erschwert das Verständnis bei meiner eigentlich recht klugen zwölfjährigen Tochter. Eine auf ein paar Sätze reduzierte Darstellung etwa des „Camp-David-Abkommens“ setzt jede Menge Vorwissen voraus, um verstanden zu werden.
Und die Form der Behandlung ist noch nicht einmal konsistent: zu „Bayern“ oder „Hessen“ gibt es mehrere Absätze, „Baden-Württemberg“ taucht einmal unter Politik und einmal unter Geografie auf, in beiden Fällen extrem knapp; „Baden“ oder „Württemberg“ fehlen ganz. Es findet sich auch ein Eintrag zum „Herr der Ringe“ – ein Fantasybuch von Tolkien, in dem es um Gut gegen Böse geht, und dass sich dadurch auszeichnet, dass für die dort drin vorkommenden Hobbits eine eigene Sprache entwickelt wurde. Das stimmt … so halb.
Der zweite Grund für die mangelnde Zufriedenheit ist der Kanoneffekt. Das für die Allgemeinbildung relevant gehaltene Wissen (übrigens inkl. eines eigenen Unterkapitels zur Bibel! – liegt vielleicht am im Impressum erwähnten US-Vorbild) wirkt auf mich erstaunlich altmodisch. Bei historischen Themen oder Naturgesetzen ist es nicht verwunderlich, dass ähnliches in einem Buch aus dem Jahr 2015 und meiner Erinnerung an das Jugendlexikon aus den 1980er Jahren steht. Aber irgendwie hört es da auch auf: die jüngsten Autor*innen im Literaturkapitel scheinen mir die großen Figuren der Nachkriegsliteratur zu sein, Gruppe 47, Böll, etc. – als ob da nach 1970 nicht mehr viel passiert wäre. „Romeo und Julia“ haben ebenso wie diverse Operetten eigene Einträge, „Star Wars“ oder „Star Trek“ nicht. Im Kapitel zu Philosophie, Anthropologie, Soziologie tauchen natürlich Adorno, Durkheim, Habermas und Luhmann auf. Latour oder Intersektionalität dagegen nicht. Und bei Naturwissenschaft und Technik begegnen mir Begriffe wie „Chaos-Theorie“, „Fuzzy-Logik“, „fraktale Geometrie“, die in den 1990er Jahren mal hip waren. „CRISPR“ fehlt dagegen, war 2015 vielleicht auch noch nicht absehbar. Im Technikkapitel führen die Erklärungen zu „Mobiltelefon“, „Laptop“ und „WWW“ zum Schmunzeln.
Und drittens ist es nicht nur der sedimentierte Wissensbestand, der ein solches Lexikon suboptimal erscheinen lässt: in der Knappheit und Themenauswahl vermittelt das Buch ein bestimmtes Weltbild. Beispielsweise wird der Begriff „Indianer“ nicht problematisiert, sondern völlig selbstverständlich verwendet. Dagegen steht selbst in der – diesbezüglich auch eher konservativen – Wikipedia im Eintrag Indianer auch eine ausführliche Darstellung, warum eine solche Gruppenbezeichnung aus heutiger Sicht schwierig ist.
Im Endeffekt ist ein kompaktes Lexikon ein Kompromiss. So richtig aktuell kann es nicht sein, und auch mein Jugendlexikon aus den 1960ern oder 1970ern war vermutlich wohl mit Weltdeutungen, die aus heutiger Sicht seltsam erscheinen würden. Was funktioniert: das Kind findet es interessant und blättert darin herum. Richtig hilfreich werden die Einträge aber erst, wenn darüber gesprochen, sie kontextualisiert und mit Hintergrundwissen versehen werden …
Warum blogge ich das? Weil es hier wohl leider keine perfekte Lösung gibt.
Die Kritik scheint mir berechtigt, onwohl ich das Werk nicht kenne. Dennoch habe von einer Redaktion bearbeitete Lexika auch heute ihre Berechtigung, z.B. der online Brockhaus, den man in vielen Bibliotheken bzw. mittels deren Leseausweise nutzen kann.
Wikipedia ist zwar oft gut, schäumt aber oft auchmit zu viel Fachwissen über, das Laien des jeweiligen Fachs leicht überfordert. Eine Lexikonredaktion wird darauf achten, dass die Informationen füralleverständlich sind und nicht zu sehr in die Tiefe gehen. Wer die Tiefe braucht, muss dann eh zur Fachliteratur greifen, digital oderanalog.