Brandung (13)

Im drei­zehn­ten Teil der SF-Serie Bran­dung geht es wie­der nach Katalonien.

Neighboring quai

Brandung (13)

Für einen Moment war Mar­tha ori­en­tie­rungs­los. Sie rieb sich die Augen. Ein anhal­ten­des lau­tes Klop­fen an der Zim­mer­tü­re hat­te sie aus dem Schlaf geris­sen. Wer woll­te sie an einem Sonn­tag­mor­gen so früh wecken? Und wo war sie über­haupt? Ach so, das Gäs­te­zim­mer in Bar­ce­lo­na. Ihre Müdig­keit war ver­schwun­den. Mit weni­gen Schrit­ten war sie bei der Tür und öff­ne­te die­se einen Spalt weit. Dr. May­mo­th stand vor der Tür: „Na, gut geschla­fen? Ich weiß, die Uhr­zeit ist unmensch­lich, aber ich muss­te Sie wecken – wir haben noch eini­ges vor heu­te, mei­ne Liebe!“

Mar­tha grunz­te irgend­et­was Bestä­ti­gen­des, zog sich eilig an und has­te­te dann die Trep­pe hin­un­ter. Gepäck hat­te sie ja kei­nes dabei. Unten war­te­te Dr. May­mo­th im Foy­er des Gäs­te­hau­ses in einem der tür­kis­blau­en Ses­sel. Mar­ta war froh, dass sie zum „Sie“ zurück­ge­fun­den hat­te. Alles ande­re wäre ihr unan­ge­nehm gewe­sen. Auf dem klei­nen Tisch vor ihr stan­den zwei Becher Kaf­fee. „Hier, ich habe Ihnen einen Kaf­fee mit­ge­bracht, ein Bröt­chen gibt es auch noch. In zehn Minu­ten kommt der Wagen und holt uns ab. Milch, Zucker?“

Unwill­kür­lich ver­glich Mar­ta die Situa­ti­on mit dem übli­chen Sonn­tags­früh­stück bei sich zu Hau­se, ein Ritu­al, dass sie und Mar­tin regel­mä­ßig pfleg­ten. Bevor die Zwil­lin­ge auf die Welt gekom­men waren, waren sie sonn­tags ger­ne zum Brunch gegan­gen. Das war anders gewor­den, seit sie Kin­der hat­ten. Aber trotz­dem: das lang aus­ge­dehn­te, spä­te Früh­stück am Sonn­tag mit aller­lei Lecke­rei­en – das war ein biss­chen der Höhe­punkt ihrer Woche. Mit einem Mal hat­te sie das Gefühl, einen gro­ßen Feh­ler began­gen zu haben, als sie sich ges­tern spon­tan drauf ein­ge­las­sen hat­te, mit nach Bar­ce­lo­na zu kommen.

Sie ent­deck­te ein etwas alt­mo­disch anmu­ten­des Ter­mi­nal und nutz­te die Gele­gen­heit, mit dem Kaf­fee in der Hand Mar­tin schnell noch eine Mail zu schi­cken. Kaum hat­te sie die­se abge­schickt, war der Wagen auch schon da. 

Dies­mal war es kein Taxi, son­dern ein fah­rer­lo­ser Fir­men­wa­gen der Glo­bal Water. Es dau­er­te eine Wei­le, bis der lei­se sur­ren­de Wagen aus dem Laby­rinth der Innen­stadt her­aus­ge­fun­den hat­te. Danach fuh­ren sie dann mit der Son­ne im Rücken. Mar­tha saß auf der lin­ken Sei­te – von hier aus war immer wie­der das Meer zu sehen, rechts konn­te sie im mor­gend­li­chen Mit­tel­meer­licht die Hän­ge des Küs­ten­ge­bir­ges erah­nen. Dem Dis­play des Autos ent­nahm sie, dass ihr Ziel der Ort Sant Carles de la Ràpi­ta sei, und dass die wahr­schein­li­che Fahrt­zeit etwa zwei Stun­den betra­gen würde. 

Dr. May­mo­th spiel­te die Frem­den­füh­re­rin. „Im Som­mer ist der Ver­kehr hier eine Kata­stro­phe. Den Urlaub las­sen sich die Leu­te was kos­ten – und ste­hen dann mit dem Wagen im Stau. Und auch ohne Stau sind wir eine gan­ze Wei­le unter­wegs. Jede Men­ge klei­ner Urlaubs­or­te, und immer an der Küs­te ent­lang. Frü­her wur­de hier über­all Salz gewonnen.“ 

Obwohl sie früh los­ge­fah­ren waren, war der Ver­kehr auf der Küs­ten­stra­ße erstaun­lich dicht. Die meis­ten Fahr­zeu­ge fuh­ren um die­se Uhr­zeit wie auch sie auf Auto­pi­lot. Regel­mä­ßig durch­quer­te die Küs­ten­stra­ße die Stahl­bö­gen der Maut­kon­trol­le. Für Mar­tha sahen die Feri­en­or­te, an denen sie vor­bei­ka­men, alle gleich aus. In die­sem gleich­mä­ßi­gen Dahin­flie­ßen fiel es ihr schwer, die Augen offenzuhalten. 

Erst als der Wagen mit einem Ruck zum Ste­hen kam, schreck­te sie aus dem schläf­ri­gen Dahin­däm­mern auf. Auf bei­den Sei­ten war eine Marsch­land­schaft zu sehen. Wenn sie aus ihrem Fens­ter schau­te, sah sie in der Fer­ne Was­ser­flä­chen glit­zern. Vor ihnen erstreck­te sich eine mili­tä­risch anmu­ten­de Sicher­heits­an­la­ge – eine Beton­mau­er, die oben mit Sta­chel­draht bewehrt war. Dr. May­mo­th öff­ne­te die Wagen­tü­re und stieg aus. Mar­tha tat es ihr nach. Ein gro­ßes Metall­tor ver­sperr­te den Zutritt zur Test Faci­li­ty. Ein Pfört­ner trat vor und begrüß­te Dr. May­mo­th – offen­sicht­lich war sie nicht zum ers­ten Mal in die­ser Ein­rich­tung, und eben­so offen­sicht­lich war er froh, an die­sem Sonn­tag­vor­mit­tag Besuch zu bekommen. 

Dr. May­mo­th wand­te sich an Mar­tha: „Lei­der gibt es hier ziem­lich stren­ge Sicher­heits­vor­keh­run­gen. Smart­phones sind ver­bo­ten – aber Sie haben heu­te ja kei­nes dabei. Sonst müss­ten Sie das jetzt abge­ben. Aber das ken­nen sie ja schon vom Water Tower. Ach ja, und noch etwas.“

Sie nahm den Pfört­ner zur Sei­te. Die­ser eil­te dar­auf zu sei­ner Kabi­ne und kam kur­ze Zeit spä­ter mit einem For­mu­lar und einer Video­ka­me­ra zurück. „Sie müs­sen eine Geheim­hal­tungs­er­klä­rung abge­ben“, erläu­ter­te Dr. May­mo­th. „So sehen die Vor­schrif­ten aus.“

Mar­tha zöger­te einen Moment, unter­schrieb dann aber, dass sie nie­mals irgend­wem außer­halb von Glo­bal Water über das berich­ten wür­de, was sie inner­halb der Werk­to­re der Test Faci­li­ty zur Kennt­nis nahm, und dass sie auch inner­halb der Fir­ma nur Per­so­nen mit ent­spre­chen­der Sicher­heits­heits­frei­ga­be Bericht erstat­ten wür­de. Danach muss­te sie das Gan­ze noch ein­mal laut vor­le­sen, wäh­rend der Pfört­ner sie auf Video auf­zeich­ne­te. Am Ende der Pro­ze­dur sam­mel­te er ihre ID-Kar­ten ein und hän­dig­te ihr und Dr. May­mo­th jeweils einen Tages­aus­weis für das Gelän­de der Test Faci­li­ty aus. 

Das gro­ße Metall­tor roll­te nun lang­sam zur Sei­te. Mar­tha und Dr. May­mo­th gin­gen zu Fuß wei­ter, wäh­rend der Wagen sich lang­sam in Bewe­gung setz­te, um einen Park­platz zu finden.
Mar­tha war zwar noch nie hier gewe­sen. Trotz der stren­gen Sicher­heits­vor­schrif­ten kam ihr das Gelän­de bekannt vor. Genau: in der Fir­men­zeit­schrift hat­te es einen län­ge­ren Arti­kel dar­über geben. Anschei­nend war das Fir­men­ge­län­de, das am Rand einer Lagu­ne lag, eines der letz­ten Wer­ke der berühm­ten Archi­tek­tin Zaha Hadid. Auf Mar­tha wirk­ten die Gebäu­de der Test Faci­li­ty wie eine Hand­voll blau­er Bau­klöt­ze, die ein Rie­sen­kind acht­los aus­ge­schüt­tet hat­te. Zum Teil waren sie aufs Land, zum Teil ins Meer gepur­zelt, zum Teil wirk­ten sie wie zufäl­lig auf­ein­an­der gesta­pelt, zum Teil waren sie als Soli­tär etwas abseits des Haupt­ge­bäu­des zu lie­gen gekom­men. Zwi­schen ihnen erstreck­ten sich Rohr­lei­tun­gen und geschwun­ge­ne, durch­sich­ti­ge Fußgängerbrücken.

„Mei­ne Lie­be, ich zei­ge Ihnen jetzt zunächst ein­mal, wie Glo­bal Water heu­te schon mit Nano­tech arbei­tet. Danach kön­nen wir über das neue Pro­jekt spre­chen. Hier ent­lang!“. Dr. May­mo­th schritt schnell in Rich­tung eines der abseits zum Lie­gen gekom­me­nen Bau­klöt­ze. Mar­tha fiel auf, wie leer das Gelän­de wirk­te. Mit ihrer Tages­kar­te öff­ne­te Dr. May­mo­th zuerst die äuße­re, dann die inne­re Tür einer Schleu­se. LED-Lam­pen fin­gen an, den Gang zu erleuch­ten. Sie zogen Labor­kit­tel über. Der Raum, in den sie ein­tra­ten, war durch eine gro­ße Glas­wand zwei­ge­teilt. Auch hier fla­cker­ten Lam­pen auf. „Unter­druck­si­cher­heits­sys­tem“, erklär­te Dr. May­mo­th. „Für heu­te reicht es, wenn wir auf die­ser Sei­te bleiben.“

Hin­ter der Glas­schei­be waren meh­re­re Tanks zu sehen, die mit durch­sich­ti­gen Rohr­lei­tun­gen ver­bun­den waren. „Das ist eine Mach­bar­keits­stu­die im indus­tri­el­len Maß­stab. Das Pro­blem der Meer­was­ser­ent­sal­zung ist Ihnen bekannt, neh­me ich an?“ 

Mar­tha nick­te. Dr. May­mo­th setz­te ihren Vor­trag fort: „Die Anla­ge läuft jetzt schon seit vier Mona­ten und ist so gut wie seri­en­reif. Hier vor­ne wird das Meer­was­ser ange­saugt. In die­sem Tank befin­den sich dor­man­te Bio­brick-Kul­tu­ren. Bio­mi­men­ti­sche Nano­ma­schi­nen, die wie Bak­te­ri­en arbei­ten, aber von vor­ne bis hin­ten klei­ne Meis­ter­wer­ke der Inge­nieur­kunst sind. Die Bio­bricks sind so kon­fi­gu­riert, dass sie erst bei hoher Umge­bungs­hel­lig­keit aktiv wer­den. Dann haben sie zwei Auf­ga­ben: Selbst­ver­meh­rung und ihrem eigent­li­chen Job, näm­lich Salz abzu­schei­den und zu bin­den. Und das machen die klei­nen Ker­le ganz hervorragend!“

Beson­ders inter­es­sant anzu­schau­en war das gan­ze aller­dings nicht. Bio­bricks und das bra­cki­ge Meer­was­ser wur­den durch zwei Rohr­lei­tun­gen zusam­men­ge­fügt, und flos­sen dann über eine hell erleuch­te­te Glas­spi­ra­le mit leich­tem Gefäl­le mehr­fach über die Län­ge des Rau­mes hin und her.

„Am Schluss kön­nen wir ein­fach abfil­tern. Das Salz liegt in gebun­de­ner Form in den Bio­bricks vor. Die sind dann so ange­schwol­len, dass sie nicht durch den Mikro­fil­ter hier am Ende der Anla­ge durch­pas­sen. Was hier unten her­aus­läuft, ist weit­ge­hend salz­frei­es Was­ser. Trink­was­ser, wenn Sie so wollen.“

Mar­tha konn­te sehen, dass in der Lei­tung dann noch ein braun-grün schim­mern­der Schlamm übrig blieb. Sie unter­brach Dr. May­mo­th. „Und hier wer­den dann die Bio­bricks und das Salz als Schlamm abge­pumpt, richtig?“

„Genau. Gut erkannt. Wie gesagt, das läuft jetzt hier seit vier Mona­ten. Anfangs gab’s klei­ne Macken – zuge­setz­te Pum­pen und so. Aber jetzt könn­ten wir das im Prin­zip eins zu eins einsetzen.“

„Wenn da nicht die Auf­la­gen der Euro­päi­schen Nano­tech­be­hör­de wären“, star­te­te Mar­tha einen Testballon.

„Rich­tig. Eigent­lich ist das, was hier raus­kommt, harm­los. Sie haben ja schon gese­hen, dass die Bio­bricks nur bei hoher Licht­in­ten­si­tät akti­viert sind. Trotz­dem muss das gan­ze der­zeit in einem Sicher­heits­la­bor statt­fin­den. Und die Fil­ter­an­la­gen, um das Was­ser wie­der ins Meer pum­pen zu kön­nen, sind auch nicht ohne.“

Dr. May­mo­th warf einen kon­trol­lie­ren­den Blick auf die Anla­ge. „Aber ich will sie nicht lang­wei­len. Die Geneh­mi­gun­gen für den Regel­be­trieb wer­den wir frü­her oder spä­ter krie­gen. Wir haben jeden­falls bewie­sen, dass es mög­lich ist, bio­mi­men­ti­sche Nano­tech in der Was­ser­ge­win­nung kom­mer­zi­ell nutz­bar zu machen.“

Mar­tha hat­te den Ein­druck, dass die Ent­sal­zungs­an­la­ge für Dr. May­mo­th ein Kind dar­stell­te, dass bald flüg­ge wer­den wür­de, und dem sie jetzt nicht mehr ihre vol­le Auf­merk­sam­keit schen­ken musste. 

„Mei­ne Lie­be, viel­leicht haben Sie sich gefragt, war­um ich die­ses Wochen­en­de nach Sant Carles muss­te. Dass ich ihnen unse­re schö­nen Auf­bau hier zei­gen kann, ist nur ein Neben­ef­fekt. Die eigent­li­che Her­aus­for­de­rung war­tet nebenan.“

(to be continued)

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