Nach einer kurzen Pause geht es mit dem elften Teil meiner Science-Fiction-Serie Brandung weiter. Wer den Anfang verpasst hat: geht’s zu Teil 1.
Brandung (11)
Erschöpft ließ sich Martha auf ihr Bett im Gästehaus der Global-Water-Filiale in Barcelona fallen. Das Zimmer schien international standardisiert zu sein und war im Blau des Konzerns gehalten, selbst die Bettwäsche hatte breite hellblaue Streifen. Im Badezimmer stand eine in Plastik verpackte Zahnbürste neben dem in Plastik verpackten Zahnputzbecher. Das Fenster ließ sich der Klimaanlage wegen nicht öffnen. Trotzdem konnte sie hören, dass unten in der Straße gefeiert wurde. Discomusik, die sie an die „besten Hits der 80er“ aus ihrer Jugend erinnerte, mischte sich mit lautem Gelächter Jugendlicher und den simulierten Motorengeräuschen der Elektroroller. Da war was los. Aber von der Welt wollte sie jetzt nichts wissen. Heute war nichts, aber auch gar nichts nach ihrem Plan verlaufen.
Erstens: Das sie ihr Telefon am Fahrrad vergessen hatte, ärgerte sie. Nicht nur, weil es gut möglich war, dass jemand es klaute, sondern auch, weil sie so keine Möglichkeit hatte, sich wenigstens mal kurz bei Martin zu melden. Eine Mail hätte sie auch während des Fluges verschicken können, so aber musste sie damit warten. Und anders als ein Smartphone konnte ein Neurotab nicht einfach eben mal ausgeliehen werden. Sie hoffte nur, dass Martin sich keine allzu großen Sorgen machte.
Zweitens: Sie hatte gehofft, während des Fluges nach Barcelona mit Dr. Maymoth über ihre Bedenken gegenüber dem Projekt Nano sprechen zu können. In gewisser Weise hatte sie das auch getan. Aber ihr kam es so vor, als hätte Dr. Maymoth überhaupt nicht wahrgenommen, was sie sagte. Martha hatte sich genau zurechtgelegt, was sie sagen würde, aber schon nach den ersten paar Sätzen hatte Dr. Maymoth sie unterbrochen. Lächelnd und sehr herzlich meinte sie nur: „Warten Sie, warten Sie. Sie müssen das gesehen haben, dann können wir darüber reden.“
Den Rest des Fluges über war sie offensichtlich damit beschäftigt, Daten aus dem Neurotab abzurufen. Resigniert schaute Martha aus dem Fenster des kleinen Flugzeugs. Von ihrem Sitz aus konnte sie sehen, wie die Sonne unterging und anfing, ganz Europa in blaues Dämmerlicht zu tauchen. Ein fantastischer Anblick– wenn sie sich darauf hätte konzentrieren können. So aber ärgerte sie sich über sich selbst.
Drittens: Die nächste Gelegenheit, mit Dr. Maymoth zu sprechen, hatte sie erst, nachdem das Flugzeug auf dem Aeroport de Barcelona gelandet war. Ein Bus holte sie von dem für Firmenjets reservierten Gelände ab. Wie beim Start wurden sie ohne weitere Fragen oder Kontrollen durch die Sicherheitsschleusen gewunken. Martha kam das Flughafengebäude sehr groß und leer vor. Sie erinnerte sich, dass es noch während ihrer Studienzeit völlig normal gewesen war, überallhin mit dem Flugzeug zu fliegen. Das war heute definitiv anders. Nachdem sie durch die überall mit roten und gelben Streifen und katalanischen Fahnen verzierte, aber weitgehend menschenleere und gut gekühlte Halle geeilt waren, schlug ihnen heiße Luft wie aus einem Föhn entgegen. Glücklicherweise mussten sie nicht lange warten – schon nach wenigen Minuten fuhr das Taxi vor, das Dr. Maymoth bestellt hatte. Diese war zwar jetzt nicht mehr damit beschäftigt, ihre Mails durchzugehen oder was auch immer sie im Flugzeug gemacht hatte, erwies sich aber als nicht sonderlich gesprächig. Die knappe halbe Stunde, die das Taxi bis zum Gästehaus mitten in der Stadt brauchte, redete Dr. Maymoth zwar gerne über das Wetter, die Sehenswürdigkeiten und dass es überhaupt kein Problem sei, dass Martha im Gästehaus unterkommen könne, aber mit keinem Wort über das Projekt.
Und dann war da noch viertens. Dr. Maymoth hatte sie zum Essen eingeladen. Sie sei häufiger hier, und kenne ein sehr gutes kleines Restaurant mit einem kleinen Garten. Bunte LED-Ketten und Kerzen in ebenso bunten Glasbehältern beleuchteten diesen Garten. Auch jetzt noch war es sehr warm. Tomatenbrot, Fisch, Wein. Süßigkeiten. Alles wunderbar zubereitet. Und sie war hungrig. Trotzdem hatte Martha ein kleines bisschen ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht nachgeschaut hatte, ob der Fisch aus zertifizierter Haltung kam. Aber auch hier keine Gelegenheit, das Projekt Nano anzusprechen. „Warten wir doch auf Morgen, meine Liebe. Wir müssen früh aufstehen, dann geht es mit dem Taxi in unsere Versuchsräume, und ich zeige ihnen, wie das alles funktioniert. Dann können wir über das Projekt reden.“
Mit dem Wein verlor Dr. Maymoth ein wenig ihre kühle Verbindlichkeit. Martha hatte das Gefühl, eine Katze zu beobachten, die nach und nach zutraulicher wurde. Gleichzeitig war sie sich unsicher, was Dr. Maymoth – Lizzy, sie hatte ihr das Du angeboten – eigentlich von ihr erwartete. Die Katze schien einen Gesprächspartner zu suchen – oder mehr? Jedenfalls hatte Lizzy angefangen, von ihrer Vergangenheit zu erzählen. Darüber, dass ihr kleiner Bruder bei den London Riots dabei gewesen sei. Dass er auch heute noch Schwierigkeiten mit der Polizei habe. Dass sie aus kleinen Verhältnissen stamme und sich über die Klassengrenzen hinweg hochgearbeitet habe, dann nach Deutschland gekommen sei in der Hoffnung, hier eine egalitärere Gesellschaft zu finden. „It’s not easy, you know?“
Sie waren gemeinsam und schon leicht schwankend wieder im Gästehaus angekommen. Hier trennten sich ihre Wege. Für einen Augenblick hatte Martha den Eindruck, in Dr. Maymoths Gesicht einen Blick sehnsuchtsvollen Verlangens wahrzunehmen. Aber vielleicht hatte diese auch nur geblinzelt, um die Uhrzeit abzurufen.
(to be continued)