Teil II meiner SF-Fortsetzungsgeschichte. Teil I findet sich hier.
Brandung (2)
Von der im sommerlichen Spätnachmittagslicht tiefblau glänzenden Fassade des Water Tower bis zum alten Hafenviertel waren es nur wenige Stationen mit der Stadtbahn. Wie immer um diese Uhrzeit waren die Wagen nicht klimatisiert und gedrängt voll. Auch wegen der Menschenmenge hatte Kath den Schmetterling in ihre schwarze Kuriertasche gesteckt. Beides, Schmetterling wie Kuriertasche, wirkten inzwischen altmodisch. Davon war Kath überzeugt. Denn wer lief schon mit zwanzig Jahre alter Mode oder mit einem zwei Jahre alten Nanospielzeug herum? Manchmal kam es ihr vor wie eine kleine Rebellion, soviel Rebellion eben, wie ein Büchsenfisch es sich zwischen all den anderen Büchsenfischen im Stadtbahnwagen erlauben kann.
„Experte: Flutschäden am alten Hafen hochwahrscheinlich“. Der Nachrichtenschirm in der Mitte des Stadtbahnwagens war ausnahmsweise einmal nicht zerbrochen oder mit Aufklebern beklebt. Das Viertel rund um den alten Hafen beherbergte nicht nur Szenekneipen, sondern war auch eines der wenigen Stadtteilen, in denen die Mieten überhaupt noch einigermaßen bezahlbar waren. Seit der Sturmflut von 2017 war klar, dass der alte Hafen über kurz oder lang ein Opfer des Klimawandels werden würde. Wer es sich leisten konnte, zog um. Die frei werdenden Häuser wurden nicht renoviert, sondern notdürftig in Ein- und Zweizimmerwohnungen aufgeteilt. „Günstig an Studenten zu vermieten“, hieß das in den Kleinanzeigen im Netz dann.
Im Treppenhaus war schon wieder ein Stück Putz von der Wand gefallen. Eine achtlose weiße Staubspur zog sich jetzt hinauf bis in den dritten Stock. Kath hatte ihre Einzimmerwohnung am alten Hafen behalten, obwohl sie längst keine Studentin mehr war. Dass Kath sich nicht von dem Zimmer mit Kochnische und Bad trennen konnte, war in ihrem Netzwerk längst zum running gag geworden. Sentimentalität oder ökonomische Notwendigkeit – das zu entscheiden, fiel Kath schwer. Wenn sie hätte aufzählen sollen, warum sie die Wohnung nicht längst gegen etwas besseres eingetauscht hatte, wäre es der Blick gewesen. Kein Vergleich mit dem 23. Stock des Water Towers, aber ihr Studium über hatte sie kein trister Hinterhof und keine Straße voller surrender und hupender Elektrofahrzeuge begleitet, sondern immer wieder das Fenster (das einzige in ihrer Wohnung) und der Balkon (den sie sich mit der Nachbarwohnung teilte) mit dem Blick auf den alten Hafen. Hier legten längst keine Schiffe mehr an, aber das Meer war dageblieben.
Das Schlafsofa. Zwei Stühle und das weiß angestrichene Tischchen vom Sperrmüll. Das vom Sonnenlicht inzwischen honigfarben gegerbte Kiefernholzregal mit Ordnern; der Schrank, den sie vor allem als Kleiderschrank nutzte. Keine Bilder, fast keine Dekoration an den türkisblau gestrichenen Wänden. Das Poster von der Attac-Wasserkampagne, das sie fast ihr ganzes Studium über begleitet hatte, hatte sie irgendwann wütend von der Wand gerissen. Zuviel schlechtes Gewissen. Ein bisschen Hightech – den Adapter, der aus ihrem Telefon eine Stereoanlage machte. Der Netzanschluss. Die Ladestation für den Schmetterling. Auf dem Schreibtisch das eingestaubte Notebook, auf dem sie ihre Master Thesis geschrieben hatte, und das kaum noch zum Einsatz kam, seit sie bei Global Water arbeitete. Heimat wie aus dem Ikea-Katalog.
Eine Wohnung wie die von Kath bietet wenig Möglichkeiten, herumzuwandern oder sich abzulenken. Selbst das herumstehende Geschirr war irgendwann gespült. Um Musik zu hören, ein Buch zu lesen oder einen Film anzusehen, oder auch nur, um den Flug des Schmetterlings über den alten Hafen zu verfolgen, hätte sie nach dem Smartphone greifen müssen. Was sie an ihren heute Mittag gefassten Vorsatz erinnert hätte, Berti anzurufen. Oder zumindest Martha.
Am Schluss setzte sie sich resigniert auf ihr Sofa und zog das Telefon aus der Kuriertasche. Ein Euro kullerte mit heraus. Bild für Berti, Zahl für Martha. Die Hagia Sophia, also Berti. Stimmte die alte Nummer noch?
„Na, was willst du denn?“ – Berti klang ernsthaft überrascht. Kath hatte dennoch das Gefühl, dass ihm der Anruf eher ungelegen kam. „Ich muss mit dir reden. Aber nicht am Telefon.“
„Über uns?“
„Nein, nicht über uns.“
Kath konnte die Erleichterung bei Berti fast spüren. Ihre gemeinsame Vergangenheit war ihm immer noch ein äußerst unangenehmes Thema. Aber trotzdem – er war derjenige, mit dem sie offen reden konnte. Wenn es denn sein musste.
Auch hier im Norden des Landes gab es im Sommer jetzt immer häufiger „tropische Nächte“. Diese war eine davon. Jetzt am späten Abend war es angenehm, am Wasser entlang zu spazieren. Wie oft hatten Berti und sie das früher gemacht. Im Blau der Abenddämmerung über den späten Foucault schwadroniert. Sich über wilde Theorien ausgetauscht. Oder über den Idealismus, der notwendig ist, um die Welt zu retten. Berti hatte es nach dem Studium geschafft, eine halbe Stelle an der Uni zu bekommen. Neo-Luhmannianische Kommunikationstheorie war sein Spezialgebiet. Aber das war nur sein halbes Leben. Die andere Hälfte war die direkte Aktion; auch Berti hatte eines Tages bei Attac aufgehört – weil sie ihm nicht radikal genug waren. Wie er beides zusammenbringen konnte, war für Kath immer noch unbegreiflich. Aber so war Berti – tagsüber intensiv konzentriert auf die Exegese des Bielefelder Zettelkastens, nachts dann einer, der auch schon mal Beton in Tanks von Global-Water-Fahrzeugen kippte. Für Berti war auch klar: Eine langfristige Beziehung, gar so etwas wie eine Familiengründung – dafür war in den vierundzwanzig Stunden seiner Tage keine Zeit.
Schmetterling war ein Überbleibsel ihrer gemeinsamen Zeit. Ein Nanospielzeug, ein filigran anmutendes Roboterinsekt. Gegen Ende des Studiums waren sie zusammen nach Amsterdam gefahren, zu einem Workshop der Bewegung für freie Soziotechnologie. Dort hatten sie die Schmetterlinge gebastelt. Sie hatte ihren bis heute behalten.
Das war früher. Ob Berti sich überhaupt noch an die Schmetterlinge erinnerte? Seit sich ihre Lebensentwürfe diametral auseinander entwickelt hatten, gab es kaum noch gemeinsame Orte. Ihre Netzwerk-Kreise überlappten sich fast nicht mehr. Die Schrecksekunde oder Bertis Zimmer im besetzten Haus waren sein Terrain, in das hineinzutreten ihr inzwischen wie ein Einbruch vorgekommen wäre. Die Universitätsgebäude waren ebenso wie der Water Tower exklusive Räume, die nur betreten durfte, wer gültige Chipkarten vorweisen konnte. In ihre kleine Wohnung wollte sie ihn auch nicht einladen – die kannte Berti nur zu gut.
Blieb also nur das alte Ritual des gemeinsamen Spaziergangs, um mit ihm darüber zu reden, was Dr. Maymoth heute Mittag – streng vertraulich natürlich – im Konferenzraum des Water Towers vorgetragen hatte.
„Scheiße! Dann ist also doch was dran an dem Gerücht! Das zirkuliert bei BluePlanet“ – Bertis aktueller Bezugsgruppe – „schon lange, aber bisher habe ich mir das nicht vorstellen können, dass einer der Konzerne wirklich so weit geht.“
Wenn Berti sich beim Reden erregte, dann konnte das zwei Formen annehmen. Das Hineinsteigern in die seltsamsten Konsequenzen soziologischer Theorie war begleitet davon, dass Berti anfing, in Monologen zu sprechen, andere nur noch als Stichwortgeber ansah, und kaum zu stoppen war. Wenn Berti dagegen über irgend etwas so richtig wütend war, politisch wütend, dann verschlug es ihm die Sprache. Dann wurde er so wortkarg, als wäre er hier in der Stadt aufgewachsen.
Jetzt hörte er auf zu reden, sah Kath lange an, und meinte dann nur: „Totale Kontrolle? Das geht nicht. Da müssen wir was machen.“
Er umarmte sie stumm, winkte ihr noch einmal zu und eilte davon, Richtung Schrecksekunde. Wie immer, wenn er eine fixe Idee hat, dachte Kath. Und seufzte.
(to be continued)
Nach „Global Water“ und dem Schmetterling dürfte bald das Licht ausgehen :).
Nö, dauert noch ein bisschen ;-)