Die Selbstblockade verhindern – aber richtig

Die Bun­des­tags­wahl 2009 steht kurz bevor. Jeden­falls ist es ein leich­tes, die­sen Ein­druck zu gewin­nen, auch wenn’s noch über ein Jahr hin ist bis zum Wahltag. 

Was aller­dings jetzt schon hef­tig geschieht, ist das Modi­fi­zie­ren des Opti­ons­raums für die Zeit nach der Wahl. Und zwar sowohl per­so­nell (SPD) als auch rhe­to­risch. Ein beson­ders inter­es­san­tes Bei­spiel für letz­te­res ist der Kom­men­tar von Alt­staats­mann Fischer in der ZEIT ONLINE. Er macht das zwar um eini­ges bes­ser als Alt­staats­mann Schmidt mit sei­nem Nazi­ver­gleich (oder Kret­sch­mann, der unheim­li­che Kon­ser­va­ti­ve), aber trotz­dem – das ein­zi­ge, was an die­sem Kom­men­tar 100%-ig stimmt, ist die Über­schrift. Die ich mir mal ent­lie­hen habe. Die heißt näm­lich „Die Selbst­blo­cka­de verhindern“. 

Was ver­steht Josch­ka Fischer darunter? 

Bei­de Par­tei­en [SPD und CDU] wer­den 2009 ohne eine ver­bind­li­che Koali­ti­ons­aus­sa­ge antre­ten und statt­des­sen nur noch Prio­ri­tä­ten beschlie­ßen: Rot-Grün und Schwarz-Gelb. Die­se Optio­nen wer­den zwar immer unwahr­schein­li­cher, erspa­ren den Par­tei­füh­run­gen jedoch gefähr­li­che Rich­tungs­de­bat­ten zur Unzeit. Die Koali­ti­ons­op­tio­nen Nr. 2 sind bis­her auf Bun­des­ebe­ne unbe­kann­te Drei­er­kon­stel­la­tio­nen: Ampel, Jamai­ka oder Rot-Rot-Grün. 

"Ja zu Joschka": Joschka speaks X (detail)
Ja zu Grün – das stimmt weiterhin

Die­se drei Drei­er­kon­stel­la­tio­nen redu­ziert Fischer dann Schritt für Schritt. Erst wird Rot-Rot-Grün eli­mi­niert (dazu gleich noch mehr), dann ent­fällt mit Ver­weis auf die „Mehr­heits­ver­hält­nis­se im Bun­des­rat“ als Haupt­ar­gu­ment die rot-grün-gel­be Ampel, und so bleibt schließ­lich nur noch „Jamai­ka“, als schwarz-gelb-grün. Aus Fischers Per­spek­ti­ve heißt „Die Selbst­blo­cka­de ver­hin­dern“ also: sich auf eine Min­der­hei­ten­rol­le in einer kon­ser­va­tiv-wirt­schafts­li­be­ra­len Koali­tio­nen vor­be­rei­ten. Oder zumin­dest, eine inten­si­ve Zusam­men­ar­beit mit der FDP vor­zu­be­rei­ten, wie sie Gui­do Wes­ter­wel­le gera­de abge­lehnt hat.

Die Idee, dass in einem Fünf­par­tei­en­sys­tem die Alter­na­ti­ve zur gro­ßen Koali­ti­on nicht ein­fach rot-grün hei­ßen kann, und dass es mög­lich sein muss, bei Vor­lie­gen einer genü­gend gro­ßen Schnitt­men­ge auch über Koali­tio­nen mit demo­kra­ti­schen Par­tei­en des kon­ser­va­tiv-wirt­schafts­li­be­ra­len Spek­trums nach­zu­den­ken, ist ja so blöd nicht. Inso­fern stimmt ich Fischer zu, dass es rich­tig ist, den Mög­lich­keits­raum nach der Wahl jetzt so zu gestal­ten, dass nicht durch selbst­ge­setz­te Zwän­ge sinn­vol­le Poli­tik­op­tio­nen ver­schwin­den. Das bes­te Bei­spiel dafür ist aller­dings nicht Ham­burg (da wur­de dann halt schlicht der im Wahl­kampf vor­ge­nom­me­ne Aus­schluss schwarz-grü­ner Optio­nen nach der Wahl igno­riert), son­dern Hes­sen und die selt­sa­me Lage, in der sich die even­tu­el­le Minis­ter­prä­si­den­tin Ypsi­lan­ti dort befindet. 

Wenn ich jetzt nicht noch ande­res zu tun hät­te, wür­de ich an die­ser Stel­le ja noch etwas Böses zur SPD schrei­ben („Intri­gen­sta­del auf dem Tan­ker“ oder so), das las­se ich aber. Aus Zeitgründen. 

Was jedoch fest­zu­hal­ten bleibt: das größ­te Hin­der­nis für eine rot-rot-grü­ne Opti­on nach der Bun­des­tags­wahl in einem Jahr ist der­zeit die SPD. Was ja auch so sei­ne Geschich­te hat. Kom­men wir also zurück zur Fra­ge, wie Josch­ka Fischer die­se Koali­ti­ons­op­ti­on aus­schließt. Er macht das näm­lich so:

Letz­te­res [Rot-Rot-Grün] wird man 2009 wohl aus­schlie­ßen müs­sen, da die Links­par­tei in ent­schei­den­den inhalt­li­chen Fra­gen der Bun­des­po­li­tik (noch?) nicht regie­rungs­fä­hig ist. 

Hin­ter die­sem schlich­ten Satz steckt jetzt eini­ges. Ers­tens fällt das „man“ auf – nicht Josch­ka oder die Vor­sit­zen­den der Par­tei­en oder die Wäh­le­rIn­nen. Der Aus­schluss erfolgt im Sti­le des Sach­zwangs: „man wird wohl aus­schlie­ßen müs­sen“. Und war­um? Die Links­par­tei ist „in ent­schei­den­den inhalt­li­chen Fra­gen“ „nicht regie­rungs­fä­hig“. Wenn ich mir anschaue, wie die Links­par­tei in den Län­dern agiert, kann damit nicht der feh­len­de Popu­lis­mus gemeint sein. Ich ver­mu­te, dass sich hin­ter den Inhal­ten, die Josch­ka zur Selbst­blo­cka­de Rich­tung links zwin­gen, eher The­men ver­ber­gen wie der Wunsch nach einer sinn­vol­len sozia­len Absi­che­rung statt Hartz-IV, mög­li­cher­wei­se auch gewerk­schaft­lich favo­ri­sier­te Beschäf­ti­gungs­pro­gram­me, die Rück­nah­me von Pri­va­ti­sie­run­gen (wann folgt die Ex-Bun­des­bahn der Bun­des­dru­cke­rei) und natür­lich vor allem die Außen­po­li­tik, die in der Links­par­tei wohl noch mehr­heits­fä­hig nicht mili­tä­risch stattfindet. 

Wenn mei­ne Ver­mu­tung stimmt, dass dies die The­men sind, mit denen Josch­ka eine Rot-Rot-Grü­ne Koali­ti­ons­op­ti­on inhalt­lich aus­schließt, dann steckt hin­ter die­sem schlich­ten Satz noch etwas ande­res: näm­lich die Ein­schät­zung, dass ein Drit­tel bis die Hälf­te der Grü­nen-Mit­glie­der (und der Wäh­le­rIn­nen von Bünd­nis 90/Die Grü­nen) eben­falls nicht regie­rungs­fä­hig sind: eine gro­ße Min­der­heit will ein Grund­ein­kom­men, eine geschätz­te Mehr­heit hält nicht viel vom fort­ge­setz­ten Abbau des Sozi­al­staats, selbst offi­zi­el­le Frak­ti­ons­spre­cher haben sich gegen Pri­va­ti­sie­run­gen aus­ge­spro­chen, und Krieg und Frie­den ist noch immer das hei­ße The­ma jeder grü­nen Mit­glie­der­ver­samm­lung und jeder zwei­ten BDK. 

Das also sind die Punk­te, die Fischer – und mit ihm wohl auch ande­re Rea­los und Rea­las – in den Raum stel­len, wenn sie Rot-Rot-Grün unmög­lich reden wol­len. Die Atom­po­li­tik der CDU, die Wirt­schafts­ver­göt­te­rung der FDP, die Koh­le­po­li­tik der SPD – all das spielt dann kei­ne Rol­le. Ein der­ar­ti­ger Ansatz kann aber m.E. nur zur Selbst­blo­cka­de füh­ren, näm­lich zum Aus­schluss jeg­li­cher Koali­ti­ons­op­ti­on. Bes­ser fin­de ich es da schon, zu sagen, was wir inhalt­lich wol­len, wie es der letz­te Län­der­rat getan hat, und dann abzu­war­ten, wel­ches Bünd­nis sich als inhalt­lich pas­send erweist. 

Opti­mis­tisch bin ich aller­dings den­noch nicht. Weni­ger wegen der feh­len­den inhalt­li­chen Über­ein­stim­mun­gen, son­dern eher des­we­gen, weil, wie ein­lei­tend bemerkt, inter­es­sier­te Kräf­te jetzt schon alles tun, um den Mög­lich­keits­raum ein­zu­schrän­ken. Wenn es tat­säch­lich für Rot-Grün kei­ne eige­ne Mehr­heit gibt (was wahr­schein­lich ist), dann wird es ver­mut­lich kei­ne Drei­er­kon­stel­la­ti­on geben, die nicht schon vor der Wahl aus­ge­schlos­sen wor­den ist. Wes­ter­wel­les FDP will kei­ne Ampel, die SPD hat gro­ße Angst vor dem Schein­rie­sen Links­par­tei, und wei­gert sich, dem ehe­ma­li­gen SPD-Poli­ti­ker Lafon­taine auch nur den klei­nen Fin­ger zu rei­chen (ob er, wenn er mit den sel­ben Posi­tio­nen in der SPD geblie­ben wäre, eben­so schwarz gemalt wür­de?), die CDU kann nur Mon­tags mit den Grü­nen, und wir selbst sind der­zeit vor allem eins: in alle Rich­tun­gen wenig wagemutig. 

Die Wahr­schein­lich­keit einer Fort­set­zung der gro­ßen Koali­ti­on unter Kanz­le­rin Mer­kel (mit Vize­kanz­ler­kan­di­dat Stein­mei­er) ist damit, bei Lich­te betrach­tet, hoch. Es sei denn, es wird jetzt an sehr vie­len Stel­len damit ange­fan­gen, über Schat­ten zu sprin­gen – aber bit­te nicht nur nach rechts!

War­um blog­ge ich das? Ab und zu muss ein Blick auf Koali­ti­ons­op­tio­nen sein, um dem Anspruch gerecht zu wer­den, ein poli­ti­sches Blog zu sein, oder?

Vorurteile zählen beim Schulübergang stärker als Noten (Update)

The school II
Grund­schu­le in Freiburg-Günterstal

Ich habe eini­ge Diens­te des „idw“ abon­niert, einem wis­sen­schaft­li­chen Pres­se­ver­tei­ler. Manch­mal errei­chen dann auch Pres­se­mit­tei­lun­gen mei­ne Inbox, die gar nicht direkt in die von mir ange­ge­be­nen Schwer­punkt­the­men fal­len, aber trotz­dem ziem­lich span­nend sind. 

So hat eine Stu­die des Main­zer Sozio­lo­gen Ste­fan Hra­dil empi­risch unter­füt­tert, dass ins­be­son­de­re der sozia­le Hin­ter­grund bei der Erstel­lung von Schul­über­gangs­emp­feh­lun­gen zählt. 

Was heißt das im Klar­text? Das hier:

Kommt ein Kind aus einer nied­ri­gen sozia­len Schicht, wird es nicht die gleich hohe Bil­dungs­emp­feh­lung für die wei­ter­füh­ren­de Schu­le erhal­ten wie ein Kind aus einer hohen Sozi­al­schicht, selbst wenn die bei­den Kin­der in der Grund­schu­le die glei­chen Noten errei­chen. „Leh­re­rin­nen und Leh­rer an Grund­schu­len ent­schei­den offen­bar nicht nur auf­grund von Schul­leis­tun­gen über die Emp­feh­lung, die sie für die wei­ter­füh­ren­de Schu­le nach der vier­ten Klas­se abge­ben, son­dern auch auf­grund der sozia­len Her­kunft der Kin­der“, teilt Univ.-Prof. Dr. Dr. Ste­fan Hra­dil vom Insti­tut für Sozio­lo­gie der Johan­nes Guten­berg-Uni­ver­si­tät Mainz mit. Dass dabei Kin­der mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund häu­fig eine ungüns­ti­ge­re Bil­dungs­emp­feh­lung erhal­ten, ist nicht auf ihre fremd­län­di­sche Her­kunfts­fa­mi­lie zurück­zu­füh­ren, son­dern auf den durch­schnitt­lich nied­ri­ge­ren Sozi­al­sta­tus von Migranten. 

Oder noch deutlicher:

Die Bil­dungs­emp­feh­lun­gen fal­len dem­entspre­chend aus. Kin­der aus der Ober­schicht erhal­ten zu 81 Pro­zent eine Gym­na­si­al­emp­feh­lung, gegen­über nur 14 Pro­zent der Kin­der aus Unterschichthaushalten. 

Und:

Die Bil­dungs­emp­feh­lun­gen sind selbst dann eine Fra­ge der sozia­len Her­kunft, wenn die Schü­ler und Schü­le­rin­nen die glei­chen Leis­tun­gen brin­gen. Zwar sind die Noten selbst immer noch der wich­tigs­te Ein­fluss­fak­tor dafür, ob die Emp­feh­lung für ein Gym­na­si­um erteilt wird oder nicht. Betrach­tet man aber nur Kin­der bei­spiels­wei­se mit der Durch­schnitts­no­te 2,0, dann bekom­men Kin­der aus der nied­rigs­ten Bil­dungs- und Ein­kom­mens­grup­pe nur mit einer Wahr­schein­lich­keit von 76 Pro­zent eine Gym­na­si­al­emp­feh­lung, wäh­rend in der höchs­ten Bil­dungs- und Ein­kom­mens­grup­pe nahe­zu alle Kin­der, näm­lich 97 Pro­zent, eine Emp­feh­lung für das Gym­na­si­um erhalten. 

Die Ergeb­nis­se bezie­hen sich nur auf Schul­kin­der aus Wies­ba­den (alle, die 2007 in der vier­ten Klas­se waren); aber ich stim­me Hra­dil zu, dass eine Über­trag­bar­keit die­ser Ergeb­nis­se sehr wahr­schein­lich ist – ähn­li­ches zur Abhän­gig­keit von Bil­dungs­kar­rie­ren und sozia­lem Hin­ter­grund haben ja auch schon ande­re Stu­di­en gezeigt. Das heißt aber umge­kehrt, näm­lich hoch­schul­po­li­tisch betrach­tet, auch: einer der ers­ten und stärks­ten Fil­ter für die Fra­ge, ob jemand nach­her zu den rela­tiv weni­gen Stu­die­ren­den aus nicht-aka­de­mi­schen Her­kunfts­fa­mi­li­en gehört, setzt genau hier ein: beim Über­gang von der Grund­schu­le auf die wei­ter­füh­ren­de Schule.

War­um blog­ge ich das? Weil ich die Ergeb­nis­se poli­tisch wich­tig fin­de – und als Bei­spiel dafür, dass auch ernst­haft betrie­be­ne Wis­sen­schaft (da bin ich mir bei Hra­dil sicher!) gro­ße poli­ti­sche Effek­te haben kann. Ich bin jeden­falls recht über­zeugt davon, dass die­se Ergeb­nis­se schnell mas­sen­me­di­al auf­ge­grif­fen werden.

Update: (12.9.2008) Auch hier noch­mal der Hin­weis, dass der Titel ein biß­chen pro­vo­ka­tiv gedacht ist und nicht ganz der Sta­tis­tik der Stu­die ent­spricht. Die mas­sen­me­dia­le Reso­nanz ist inzwi­schen ein­ge­tre­ten – SpOn berich­tet sehr aus­führ­lich, die taz inter­viewt einen an der Stu­die betei­lig­ten Wis­sen­schaft­ler, und auch bei ZEIT ONLINE ist was zu finden.

Kurz: SPD, Blogs und die mediale Aufmerksamkeitslogik

Wie­der zurück vom geheim­nis­vol­len Camp Netz­be­grü­nung in Ber­lin. Mit­ten in unse­re Work­shop-Berich­te platz­te die Nach­richt vom SPD-Intri­gen­sta­del. Mein ers­ter Gedan­ke: da müss­te ich was zu blog­gen. Blöd­sinn. Wenn mein Blog ein klas­si­sches Mas­sen­me­di­um wäre, wäre das so. Oder wenn ich Öffent­lich­keits­ar­beit machen wür­de. Aber nur, weil ein The­ma poli­tisch heiß ist, sich drauf zu stür­zen? Es gibt kei­nen Zwang dazu, auf der vor­ders­ten Wel­le der Auf­merk­sam­keit zu sur­fen. Also: nichts zur SPD, zu Mün­te­fe­ring, Beck und Stein­mei­er, und erst recht kei­ne Spe­ku­la­tio­nen dar­über, ob das jetzt der Lin­ken, der SPD, den Grü­nen, der FDP oder doch vor allem der Kanz­le­rin nützt.

Zum Überlebensminimum-Unsinn (Update 2: Hartz-IV soziologisch betrachtet)

Zwei Chem­nit­zer Öko­no­men (Prof. Dr. Fried­rich Thie­ßen und ein Dipl.-Kfm. Chris­ti­an Fischer) haben eine Stu­die ver­öf­fent­licht (schein­bar tat­säch­lich in der Zeit­schrift für Wirt­schafts­po­li­tik erschie­nen, wenn dem Doku­ment zu trau­en ist), auf die u.a. taz und Spie­gel Online auf­ge­sprun­gen sind, und die als betriebs­wirt­schaft­li­che Legi­ti­ma­ti­on einer maxi­ma­len Redu­zie­rung der Hartz-IV-Sät­ze ver­stan­den wer­den kann. Zur Erin­ne­rung: der Regel­satz (ohne Wohn­geld) liegt (zum Zeit­punkt der Stu­di­en­ver­fas­sung) bei 345 Euro, der Mini­mal­fall der Stu­die kommt auf 132 Euro (ohne Hei­zung, Strom und Miete). 

Inzwi­schen füh­len die Autoren sich genö­tigt, die Stu­die mit einem recht­fer­ti­gen­den Vor­blatt zu ver­se­hen. Trotz­dem müss­te „Stu­die“ eigent­lich in Anfüh­rungs­zei­chen gesetzt werden. 

Umso inter­es­san­ter ist es, sich anzu­schau­en, wie die Vor­an­nah­men aus­se­hen, die zu solch unsin­ni­gen Ergeb­nis­sen führen.

1. Aus­gangs­punkt ist öko­no­men-typisch ein ratio­nal han­deln­der Mensch, dar­un­ter wird hier nicht nur ver­stan­den, dass in jedem Fall das bil­ligs­te Pro­dukt genom­men wird, son­dern auch, dass mit Geld ver­nünf­tig umge­gan­gen wird, kei­ne Lebens­mit­tel weg­ge­wor­fen wer­den usw. Dar­auf (und nicht auf dem tat­säch­li­chen Ver­hal­ten von Men­schen) zur Ver­fü­gung zu stel­len­de Geld­mit­tel auf­zu­bau­en, ist zynisch.

2. Aus­gangs­punkt ist zwei­tens die Preis­la­ge der bil­ligs­ten Anbie­ter (ger­ne auch kos­ten­lo­ser Second-Hand-Pro­duk­te) in Chem­nitz. Auch wenn in der Stu­die behaup­tet wird, dass das kei­ne Rol­le spielt, kann ich mir z.B. kaum vor­stel­len, dass das ÖPNV-Ticket (Jah­res­netz­kar­te) in Ham­burg, Ber­lin, Chem­nitz, Köln und Frei­burg preis­lich ähn­lich liegt.

3. Drit­tens – und hier geht es ans Ein­ge­mach­te – wird ver­sucht, von einem mehr oder weni­ger selbst defi­nier­ten Ziel­set (ver­wie­sen wird dazu auf ein unver­öf­fent­lich­tes Manu­skript des Ko-Autors Fischer) aus einen monat­li­chen Waren­korb zu defi­nie­ren. Dabei wird ziem­lich kom­plett igno­riert, dass Hartz IV mehr sein soll als eine Über­le­bens­si­che­rung, son­dern als Mini­mal­fall wird tat­säch­lich rein das phy­si­sche Über­le­ben her­an­ge­zo­gen. Selbst die rela­tiv schlich­te, von Öko­no­men ger­ne her­an­ge­zo­ge­ne Maslow­sche Bedürf­nis­py­ra­mi­de macht deut­lich, dass zwi­schen dem phy­si­schen Exis­tenz­mi­ni­mum und mensch­li­chem Über­le­ben Wel­ten liegen.

4. Das Fall­bei­spiel wird anhand eines gesun­den deut­schen Man­nes ohne Behin­de­rung und sons­ti­ge Ein­schrän­kung, aber dafür mit deut­schen Ver­brauchs­ge­wohn­hei­ten berech­net. Über jedes Ein­zel­ne die­ser Attri­bu­te lie­ße sich dis­ku­tie­ren. Kin­der samt deren Extra­kos­ten kom­men nicht vor, eben­so­we­nig dür­fen ratio­na­le Almo­sen­emp­fän­ger (m) irgend­wel­che Hob­bies, Inter­es­sen, sozia­len Kon­tak­te oder Ernäh­rungs­vor­lie­ben haben.

5. Exter­ne Kos­ten (z.B. die Gesund­heits­fol­gen einer auf den bil­ligs­ten Dis­coun­ter­pro­duk­ten basie­ren­den Ernäh­rung) kom­men abso­lut nicht vor. Gesund­heits­kos­ten kom­men über­haupt nicht vor, der deut­sche Mann ist ja auch gesund.

6. Der Fall­bei­spiel­mann ver­zich­tet auf Alko­hol und Tabak (ist irra­tio­nal), ist dafür jedoch rela­tiv viel Wurst und Fleisch (scheint ratio­nal zu sein). Gespart wird über­haupt ins­be­son­de­re am Essen – im Monat rei­chen 9 kg Brot, 9 kg Kar­tof­feln, 10 kg Obst, 10 kg Gemü­se, 7,5 l Milch, 1,8 kg Käse, 1,6 kg Fleisch, 1,8 kg Wurst, 1,3 kg Fisch und 1,2 kg Fett. Gewür­ze sind aller­dings eben­so­we­nig vor­ge­se­hen wie z.B. Süßig­kei­ten. Oder Kaf­fee. Kaf­fee! Genuß gibt’s nicht. Beim Dis­coun­ter kos­tet die­ser Waren­korb (der angeb­lich einem WHO-Stan­dard ent­spre­chen soll) laut Stu­die 68 Euro. Pi mal Dau­men kom­me ich mit den übli­chen Super­markt­prei­sen auf min­des­tens das Dop­pel­te (auch die rea­len Ernäh­rungs­aus­ga­ben im unte­ren Quin­til abzgl. Sozi­al­hil­fe­emp­fän­ger lie­gen die­ser Stu­die zu Fol­ge mit 138 Euro in die­ser Grö­ßen­ord­nung). Eine ratio­na­le – also ver­nünf­ti­ge, gesun­de, und öko­lo­gi­sche – Ernäh­rung wird ver­mut­lich noch­mal etwas teu­rer. Aber die scheint eben nicht vor­ge­se­hen zu sein.

7. Ähn­lich schräg ist es bei All­tags­ge­gen­stän­den und Klei­dung (sol­len gebraucht bzw. umsonst irgend­wo erwor­ben wer­den). Gebraucht wird auch gar nicht viel. Aha.

8. Für „Kom­mu­ni­ka­ti­on, Unter­hal­tung, Ver­kehr“ sind im Mini­mal­fall vor­ge­se­hen: ein bil­li­ger Fern­se­her, die Mit­glied­schaft in der Stadt­bi­blio­thek und 2,38 Euro für Brief­mar­ken (reicht das für die not­wen­di­gen Bewer­bun­gen?). Und ein ÖPNV-Ticket für 23 Euro pro Monat, auf der Sei­te der Chem­nit­zer Ver­kehrs-AG habe ich aller­dings nichts auch nur annä­hernd in die­ser Preis­klas­se gefun­den. Die Stadt­bi­blio­thek darf dann auch gleich das kos­ten­freie Inter­net mit­lie­fern, Tele­fon ist nicht not­wen­dig. Kos­ten ins­ge­samt: 26,78 Euro pro Monat. Über die Effek­te einer der­ar­ti­gen Frei­zeit­zu­wei­sung haben die Autoren aller­dings nicht nach­ge­dacht, jeden­falls machen sie kei­ne Aus­füh­run­gen dazu. Fahr­rad, Kino, Fuß­ball, Urlaub (noch nicht mal das Wochen­end­ti­cket der DB AG), Tele­fon, Knei­pen­kon­sum: sind alle nicht vor­ge­se­hen. Kurz: ein­ge­sperrt in den eige­nen vier Wän­den, in der Zeit, die zwi­schen Arbeits­amt, Dis­coun­ter-Preis­su­che und Stadt­bi­blio­thek mit ÖPNV noch bleibt. Pri­vat­sphä­re in der Kom­mu­ni­ka­ti­on gibt es hier auch nicht.

9. Abschlie­ßend wird dann noch argu­men­tiert, dass auch Men­schen, die mehr Geld haben, unzu­frie­den sind, und dass es des­we­gen nicht wei­ter schlimm wäre, wenn mini­mal­aus­ge­stat­te­te Per­so­nen glau­ben, Män­gel zu leiden.

Zusam­men­ge­fasst: rela­tiv aske­tisch leben­de gesun­de allein­ste­hen­de Män­ner mit deut­schen Ver­zehr­ge­wohn­hei­ten ohne sozia­le Kon­tak­te, ohne Kin­der und ohne Hob­bies kom­men mit 132 Euro im Monat aus. Nor­ma­le Men­schen mit nor­ma­len Prak­ti­ken nicht, Men­schen mit Pro­ble­men nicht, und Fami­li­en erst recht nicht. Es wun­dert mich nur, dass nicht als Berech­nungs­grund­la­ge auch das „Con­tai­nern“ und die Nut­zung öffent­li­cher Infra­struk­tur zur Befrie­di­gung von Wohn­be­dürf­nis­sen her­an­ge­zo­gen wurden.

Die Ergeb­nis­se bestä­ti­gen also letzt­lich vor allem eins – mei­ne Vor­ur­tei­le über ÖkonomInnen.

War­um blog­ge ich das? Im Rah­men der Grund­ein­kom­mens­de­bat­te ging es auch dar­um, wie viel Men­schen zum eini­ger­ma­ßen guten und ent­wick­lungs­för­der­li­chen („Hil­fe zur Selbst­hil­fe“, anyo­ne?) Leben brau­chen, und ob die rela­tiv nied­ri­gen, finan­zier­ba­ren Grund­ein­kom­mens­bei­trä­ge, die wir vor­ge­schla­gen haben, dazu aus­rei­chen wür­den. Wir reden hier über 420 Euro ohne Wohn­kos­ten. Dafür gab’s hef­tig Schel­te, dass die Hartz-IV-Sät­ze bei eini­ger­ma­ßen „nor­ma­len“ All­tags­prak­ti­ken kaum aus­rei­chen, ist all­ge­mein bekannt – und dann schein­bar öko­no­misch begrün­det mal den Ide­al­ty­pus des edlen und spar­sa­men Armen als Regel­fall zu set­zen, was die Stu­die impli­zit macht, kann ein­fach nicht gut gehen. Oder heißt: Wer arm ist, muss lei­den. Und ver­dient die media­le Pole­mik, der ich mich hier­mit anschließe.

Update: (5.9.2008) Soeben haben sich die Grü­nen im Bun­des­tag mit einer Pres­se­mit­tei­lung zu die­ser Stu­die zu Wort gemel­det. Und Mar­kus Kurth macht das rich­tig gut.

PRESSEMITTEILUNG der Bun­des­tags­frak­ti­on Bünd­nis 90/Die Grünen

NR. 0931 – Datum: 8. Sep­tem­ber 2008

Exis­tenz­mi­ni­mums-Stu­die: Wirt­schafts-Pro­fes­sor aus Chem­nitz sei Selbst­er­fah­rung auf Hartz IV-Niveau empfohlen

Anläss­lich der Stu­die der TU Chem­nitz zur Höhe der sozia­len Min­dest­si­che­rung erklärt Mar­kus Kurth, sozi­al­po­li­ti­scher Sprecher:

Die Stu­die zwei­er Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Chem­nitz, unter Lei­tung von Pro­fes­sor Fried­rich Thie­ßen, zur Höhe der sozia­len Min­dest­si­che­rung ist unse­ri­ös und rea­li­täts­fremd. Die erho­be­nen Anga­ben zu den Ver­brauchs­kos­ten, die angeb­lich den Lebens­un­ter­halt sichern sol­len, sind völ­lig frei erfun­den und ent­beh­ren jed­we­der wis­sen­schaft­li­chen Grund­la­ge. Stich­pro­ben­ar­ti­ge, eher zufäl­lig auf­ge­spür­te Schnäpp­chen in Chem­nitz haben mit einer seriö­sen, für bun­des­wei­te Maß­stä­be taug­li­chen Bedarfs­er­he­bung nichts zu tun. Jeder über­prüf­ba­re Beleg fehlt. Die staat­lich besol­de­ten Wis­sen­ser­fin­der soll­ten ein­mal ver­su­chen, einen Monat von Hartz IV zu leben. Das wür­de rei­chen, um der­ar­ti­ge Behaup­tun­gen zum Lebens­not­wen­di­gen zu widerlegen.

Teil­ha­be am gesell­schaft­li­chen Leben und die Inte­gra­ti­on am Arbeits­markt haben für den pro­fes­so­ra­len Schnäpp­chen­jä­ger Thie­ßen offen­bar kei­ne Bedeu­tung. So ist es völ­lig welt­fremd, zu glau­ben, man kön­ne ohne Tele­fon am kom­mu­ni­ka­ti­ven Leben teil­neh­men und sich in einer 12-Euro-Hose auf ein Vor­stel­lungs­ge­spräch zu begeben. 

Update 2: Par­al­lel zur Debat­te um die Chem­nitz-Stu­die gibt es bei Tina Gün­ther eine aus­führ­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit Medi­en­het­ze und Hartz-IV-Wirk­lich­keit, wie immer im soz­log sozio­lo­gisch unter­füt­tert. Lesens­wer­te Ergänzung.