Markus Beckedahl hat fünf Thesen zur Politik 2.0 bzw. zur Nutzung von „social media“ im kommenden Wahlkampf aufgestellt. Finde ich spannenden und habe jeweils dazugeschrieben, was ich davon halte.
Meine These: Wahlkampf im Web wird face-to-face-Kommunikation und entsprechende Events im Wahlkampf nie komplett ersetzen können.
These 1: Dabei sein ist alles!
Jeder halbwegs motivierte Kandidat wird in einem der kommenden Wahlkämpfe einen Account bei Facebook und Twitter haben, dazu ab und an bei Youtube ins Internet sprechen und vielleicht bloggen. Manche werden das auch selbst machen.
Der leicht sarkatische Unterton mag etwas mit dieser Studie zu tun haben. Ich stimme Markus zu, dass derzeit viel Wirbel um Politik 2.0 gemacht wird, und entsprechend viele KandidatInnen darauf angesprochen werden, sich doch in die schöne neue Web-Welt zu begeben. Ich glaube aber weiterhin, dass nicht alle alles mitmachen, und dass es auch hinsichtlich der genannten Plattformen gewisse Unterschiede gibt.
Youtube: sehe ich weniger als direktes KandidatInnen-Medium als vielmehr als Plattform der Parteien (kanal grün und so weiter). Für Listenplatz 9 oder den Direktkandidaten von Hintertupfingen mag es doch etwas aufwändig sein, eigene Videos zu produzieren (wobei mich auch schon einer unserer Ortsverbände angefragt hat, ob nicht kurze Video-Statements der GemeinderatskandidatInnen eine gute Sache wären).
Facebook: Ja, mit der Einschränkung „dominante Plattform“ (s.u.). Interessant ist, was mit *vz, mit XING und mit dem kürzlich von RTL gekauften „Wer kennt wen“ passiert, die meinem Gefühl nach andere Milieus bzw. Zielgruppen ansprechen als Facebook. Außerdem kosten Facebook-Accounts wenig: einmal anlegen, und wie viel dann getan wird, ist eine andere Sache.
Twitter: Politik mit direktem und nahezu synchronem Rückkanal – für mich eine der spannendsten Entwicklungen, aber auch eine Plattform mit deutlicher Infoflut-Tendenz. Prognose: wenn’s um die tatsächliche bidirektionale Nutzung geht, wird es nur eine Handvoll KandidatInnen geben, die wirklich dabei sind.
Blogs: Sehe ich nicht. Eher Web 2.0‑Elemente in klassischen Web 1.0‑KandidatInnen-Websites. Die dann aber wirklich jede und jeder KandidatIn haben wird.
Nicht angesprochen sind hier dezidierte Third-Party-Wahlkampfplattformen (abgeordnetenwatch.de) und Nischenplattformen. Wahlkampf bei Gayromeo, Utopia oder in der ZEIT- oder Freitag-Community?
These 2: Politik 2.0 auch leben?
Einige Politiker werden sich von der Masse absetzen, indem sie nach den Wahlkämpfen immer noch diese Werkzeuge nutzen und sie in ihren Alltag integrieren.
Schön böse formuliert. Hinzuzufügen wäre vielleicht: einige PolitikerInnen nutzen diese Plattformen auch jetzt schon, auch jenseits des Wahlkampfs. Hier liegt allerdings der Hype nahe: ist es dramatisch, wenn (Hessen, Thorsten Schäfer-Gümbel) ein Medium wie Twitter z.B. explizit als Wahlkampfmedium verwendet wird? Idealtypisch sollte natürlich jeder und jede immer kommunizieren, PolitikerInnen erst recht. Faktisch sind Wahlkämpfe kommunikationsintensiver als „normale Politik“. Insofern finde ich es verständlich und schon mal die halbe Miete, wenn einE PolitikerIn sich dazu entschließt, „social-media“-Plattformen vorrangig im Wahlkampf zu nutzen.
Nicht zuletzt, weil ich hier auch ein gewisses Skalierungsproblem sehe: wenn allein die 56 oder so grünen Bundestagsabgeordneten alle immer so fleißig wie Volker Beck twittern würden, wäre es selbst für medienaffine Grüne kaum noch möglich, dieser Infoflut zu folgen. D.h., dann müsste letztlich doch wieder technisch gefiltert oder sozial selegiert werden (nicht allen twitternden PolitikerInnen folgen, nicht allen Grünen folgen, sondern nur den zwei persönlich Bekannten, der Wahlkreisabgeordneten und der Fraktionsspitze und dem einen Fachabgeordneten). Oder so. Hier scheint mir die Etablierung sozialer Praktiken und technischer Werkzeuge der massenhaften Nutzung von „social media“ noch deutlich hinterherzuhinken. (P.S.: NY Times zum Thema „A Beginners Guide for Twitter“ geht schon deutlich in diese Richtung).
These 3: Remix Politics.
Willkommen im Kontrollverlust: Die spannenden und unerwarteten Entwicklungen werden aus der Zivilgesellschaft kommen.
Erstmal: Define Zivilgesellschaft.
Ich würde diese These etwas anders zuspitzen: spannend wird es da, wo eher unpolitische Web2.0‑MedialistInnen (BloggerInnen, Twitter-Junkies, semiprofessionelle, aber nicht berufliche VerlinkerInnen) über diese technischen Schnittstellen mit der Sphäre der Politik zusammenstoßen. Beispiel: Berichterstattung der eingebetteten BloggerInnen vom grünen Parteitag.
Spannend wird es auch da, wo PolitikerInnen kapieren, dass „social media“ einen wahnsinnigen und ganz anders als klassische Medien beeinflussbaren (allerdings nicht kontrollierbaren) Resonanzraum schaffen können. Beispiel: Howard Dean, und natürlich Barack Obama.
Die Piratenpartei wird es allerdings trotzdem nicht ins Parlament schaffen, und der CCC mutiert in Richtung Netzlobby.
These 4: Internet wird nicht dominieren.
Auch wenn jetzt alle zu den USA blicken und von Obama’s Internetkampagne träumen: Fernsehen bleibt 2009 das Leitmedium. Den ersten richtigen Internet-Wahlkampf werden wir 2013 erleben.
Ich sehe eher eine funktionale Ausdifferenzierung als eine Ablöse-Sequenz. Themen werden weiterhin durch klassische „Leitmedien“ gesetzt – je nach Sphäre kann das BILD sein, das Fernsehprogramm (allerdings findet dort ja Politik jenseits von Unterhaltung kaum noch statt, höchstens die Agenda-Setting-Funktion von „Tatort“ und „DSDS“ wäre zu nennen) oder eben auch die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Mobilisierung findet dagegen dort statt, wo viele Menschen direkt erreicht und zum Mitmachen überzeugt werden können. Für die Großparteien sind das vielleicht die eigenen Mitglieder und eher konventionelle Kommunikationskanäle. Für die Kleinparteien ist das Internet der Königsweg der Mobilisierung. Das heißt auch: Die 5‑Mark-Kampagne der Massenmedien würde heute nicht mehr funktionieren, und „Angriffe von unten“ sind mehr denn je möglich. Die Synchronisation der Öffentlichkeit liegt nicht mehr nur beim zentralen Themensetzen der Massenmedien, sondern kann nun – plötzlich, unerwartet und umso gefährlicher – auch dezentral vernetzt geschehen. Und – da gebe ich Markus recht – das wird dann weniger aus den Parteien heraus kommen, sondern eher über Multiplikationsplattformen und technisch vernetzte soziale Netzwerke geschehen.
These 5: Es wird dominierende Plattformen geben.
Facebook wird zentrale Social-Network Plattform für den Onlinewahlkampf (trotz nach wie vor überschaubarer deutscher Nutzerzahlen). Der Wille der Parteien zur Nutzung von Youtube ist unübersehbar. Twitter wird den Wahlkampf massiv beschleunigen, bleibt aber vor allem Medienhype.
Youtube ist Fernsehen im Internet, und scheint so schön an die alten massenmedialen Ideen anzuschließen. Aber ernsthaft: ich glaube auch, dass es dominierende Plattformen geben wird. Ob das für alle Parteien die gleichen sein werden, wage ich zu bezweifeln. Offen bleibt, welche Rolle hier die Mitgliedernetze der Parteien spielen werden. Eine technische Wildcard könnte darin liegen, dass Cross-Plattform-Technologien etabliert werden (wenn ich meine XING-Kontakte auch bei Facebook sehe, ist es egal, auf welcher Plattform ich agiere).
Die Einschätzung, dass Twitter Medienhype bleiben wird, teile ich nicht. Twitter ist derzeit medial gehypt, das ist richtig, und dieser Hype wird auch wieder abflauen. Es wird aber weiterhin Menschen geben, die Twitter und kompatible Plattformen nutzen wollen, um schnelle vernetzte Direktkommunikation ohne Langzeitspeicherung zu haben (übrigens: spannenderweise mehr Frauen als Männer, wenn die Statistiken dazu stimmen). JournalistInnen werden dort mitlesen, insofern werden Debatten ihren Weg aus Twitter in die klassischen Massenmedien finden. Twitter funktioniert für die dort vernetzten auch, wenn die Netzwerke nicht allumfassend sind. Die kritische Größe, die Relevanz garantiert, scheint mir jetzt schon überschritten zu sein. Eher stellt sich die bereits erwähnte Frage nach den technischen und sozialen Praktiken, die ein auf einen relevanten Anteil der Gesamtbevölkerung und der „MeinungsträgerInnen“ skaliertes Twitter handhabbar werden lassen. Zusammengenommen heißt dass dann aber wiederum auch, dass es unwahrscheinlich ist, dass jede mit jedem bei Twitter vernetzt sein wird. Möglicherweise kommt es auch da zu funktionalen Differenzierungen im Wahlkampf- bzw. Politikkommunikationsapparat der Parteien: wer „bespielt“ das „social-media“-Netzwerk, und wer pflegt die klassischen Kaminzimmerkontakte – und wer macht relativ wenig Kommunikationsarbeit und trotzdem Politik?
Warum ich das blogge? Weil ich es einfacher finde, in dieser Form auf diese Thesen zu reagieren als mit einem Kommentar bei Markus.