Science Fiction und Fantasy im August 2025

Night photography III

Ich fan­ge mit einem Buch an, das eigent­lich eher ein Sach­buch ist – Mark McCau­gh­re­ans „Rei­se­füh­rer“ 111 places in space that you must not miss (2023). Der Titel beschreibt eigent­lich auch schon ganz gut, was es mit die­sem Buch auf sich hat, das wohl tat­säch­lich in einer Rei­he erschie­nen ist, die auch jeweils 111 „ber­eis­ba­re“ Zie­le anders­wo zusam­men­bringt. Die 111 Orte im Welt­raum sind in drei Abtei­lun­gen unter­teilt, die sich mit dem Son­nen­sys­tem, der Milch­stras­se und dem Rest des Uni­ver­sums befas­sen. Etwas irri­tiert hat­te mich zuerst, dass die Objek­te, die jeweils mit einer Sei­te Text und einem Foto vor­ge­stellt wer­den, inner­halb die­ser drei Abtei­lun­gen alpha­be­tisch sor­tiert sind. Ich hät­te eine Sor­tie­rung nach Ent­fer­nung zur Erde erwar­tet. McCau­gh­re­an beschreibt mit einer leicht iro­ni­schen Note die unter­schied­li­chen Objek­te, die von Mond und ISS bis zu Deep-Field-Auf­nah­men und der kos­mi­schen Hin­ter­grund­strah­lung rei­chen. Inter­es­san­ter­wei­se hat die­ser Rei­se­füh­rer auf mich eher den Effekt, noch ein­mal deut­lich zu machen, wie groß und lebens­feind­lich das Welt­all ist … das wird nicht nur in den Rei­se­zei­ten sicht­bar, die bei den wei­ter ent­fern­ten Objek­ten ger­ne mal bei „Mil­lio­nen Jah­re mit Licht­ge­schwin­dig­keit“ lie­gen, aber selbst im Son­nen­sys­tem wird deut­lich, dass neben dem Mond, Hub­ble und ISS (und bei einer Rei­se­zeit von min­de­tens 9 Mona­ten: dem Mars) selbst z.B. die Jupi­ter­mon­de wohl für ent­spre­chend lan­ge flie­gen­de Son­den, aber eben nicht für mit Men­schen besetz­te Raum­schif­fe erreich­bar sind. Und dass es, dort ein­mal ange­kom­men, ganz schnell zu Pro­ble­men mit Strah­lung kom­men wür­de. Und auch zum Mars schreibt der Autor „will kill you“. Inso­fern: ein gutes Sach­buch über den Stand unse­res Wis­sens über das Son­nen­sys­tem, die Milch­stra­ße und unse­re loka­len Super­struk­tu­ren, aber auch ein Buch, das komi­sche Dimen­sio­nen ver­deut­lich und klar macht, dass die Prä­mis­sen selbst „har­ter“ SF-Seri­en wie The Expan­se weit jen­seits der Rea­li­tät lie­gen. Von Warp-irgend­was gar nicht zu sprechen.

Und wo ich gera­de bei Sach­bü­chern bin: als Ergän­zung zu mei­ner Rei­se nach Kopen­ha­gen habe ich das Buch The Sto­ry of Scan­di­na­via (2023) des Poli­tik­wis­sen­schaft­lers Stein Rin­gen gele­sen. Rin­gen fängt bei den Wikinger*innen an und endet – nach inten­si­ver Aus­ein­an­der­set­zung mit der Ent­ste­hung der König­rei­che und spä­ter einer luthe­ria­nisch ein­ge­färb­ten Sozi­al­de­mo­kra­tie – in den 2020er Jah­ren. Ich fand das Buch auf­schluss­reich für ein Ver­ständ­nis, wie Däne­mark, Nor­we­gen und Schwe­den sich ent­wi­ckelt haben, und wie die drei Län­dern in wech­seln­den Kon­stel­la­tio­nen zusam­men und gegen­ein­an­der gewirkt haben. Im Kon­text SF und Fan­ta­sy rele­vant: Rin­gen macht u.a. deut­lich, dass wir uns die Wikinger*innen wohl am ehes­tens als War­lords vor­stel­len müs­sen, die Bru­ta­li­tät zu einem Mar­ken­zei­chen mach­ten, dass dann euro­pa­weit bekannt und gefürch­tet wur­de (und die nicht zuletzt Skla­ven­han­del betrie­ben). Aus den War­lords wur­den dann ab etwa dem 10. Jahr­hun­dert, Köni­ge (u.a. Harald Blau­zahn und Knud der Gro­ße), die aber – so Rin­gen – nichts blei­ben­des hin­ter­lie­ßen. Und die Beschrei­bun­gen der Intri­gen der unter­schied­li­chen hoch­mit­tel­al­ter­li­chen Herrscher*innen erin­ner­te doch stark an „Game of Thro­nes“ – bis hin Bru­der­mor­den und zu Ein­la­dun­gen aller Wich­ti­gen zu Fest­mäh­lern, die im Blut­bad enden. (Eigent­li­cher Kern des Buchs ist die Fra­ge, wie aus die­sem Cha­os Demo­kra­tien und nach dem 2. Welt­krieg der skan­di­na­vi­sche Wohl­fahrts­staat ent­ste­hen konn­ten – auch das durch­aus inter­es­sant; inter­es­sant auch der Blick auf das Han­deln Däne­marks (weit­ge­hend akzep­tier­te Beset­zung, Kol­la­bo­ra­ti­on), des als Natio­nal­staat jun­gen Nor­we­gens (Beset­zung mit Wider­stand und einer flie­hen­den Exil­re­gie­rung) und Schwe­dens (Neu­tra­li­tät und Waf­fen­ver­käu­fe) in der Nazizeit.) 

An SF gele­sen habe ich die ers­ten bei­den Bän­de der „Kin­dom Tri­lo­gy“ von Betha­ny Jacobs, The­se Bur­ning Stars (2023) und On Vicious Worlds (2024); der drit­te Band wird noch in die­sem Jahr erschei­nen. Die Bücher ver­bin­den Aspek­te aus bei­den Sach­bü­chern: sie spie­len in einem sich über meh­re­re Son­nen­sys­te­me erstre­cken­den Impe­ri­um („The Treb­le“); und stel­len­wei­se wird es sehr blu­tig und bru­tal mit Blick auf Nach­fol­ge­kämp­fe und Rache­ak­te. Ins­be­son­de­re inner­halb und zwi­schen den „First Fami­lies“ und den drei Säu­len des „Kin­dom“ (Priester*innen der poly­the­is­ti­schen Reli­gi­on; Ver­wal­tung und Jus­tiz; und die „bru­tal hand“ mit ihren Killer*innnen). Zusam­men­ge­hal­ten wird „The Treb­le“ von einem ener­gie­rei­chen Mine­ral (Jevi­te bzw. in der syn­the­ti­schen Form Sevi­te), das u.a. Sprün­ge durch „Gates“ erlaubt. Inter­es­san­ter als die diver­sen Kämp­fe (sag­te ich schon, dass es sehr blu­tig und bru­tal wird?) sind die von Jacobs skiz­zier­ten Inter­es­sen­la­gen und orga­ni­sa­to­ri­schen Ver­krus­tun­gen – bei­spiel­wei­se hat die Fami­lie einer der Haupt­per­so­nen das Mono­pol auf die­sen Mine­ral; die in der Ver­ar­bei­tung von Sevi­te beschäf­tig­ten Über­le­ben­den eines Geno­zids – die Jeve­ni – sind mit ihrer Lage nicht zufrie­den usw. Und ziem­lich viel ist anders, als es am Anfang scheint. Gut gefal­len hat mir an die­ser Space Ope­ra auch, dass eini­ge der Trau­ma­ta und sozia­len Ängs­te eini­ger Haupt­per­so­nen klar the­ma­ti­siert wer­den. Egal, wie sehr sie die Held*innen die­ser Geschich­te sind. Ich bin auf den drit­ten Band gespannt – der zwei­te ende­te ziem­lich abrupt mit einer fie­sen Enthüllung.

Auch Space Ope­ra, aber kom­plett anders, ist die online ver­öf­fent­lich­te Novel­le The Epi­pha­ny of Glie­se 581 von Fer­nan­do Bor­ret­ti (2022), die ein biss­chen an Greg Egan erin­nert. Viel spielt hier in dia­mant­ba­sier­ten Com­pu­ter­sub­tra­ten, und Menschen/transhumane Wesen, die sich selbst down­loa­den und per Mate­rie­druck repro­du­zie­ren kön­nen, tun sich ein biss­chen ein­fa­cher damit, ferns­te Son­nen­sys­te­me zu erfor­schen – oder wie hier: auf­zu­klä­ren, wie eine voll­endes trans­hu­ma­ne „Gott­heit“, die den namens­ge­ben­den Stern Glie­se 581 nach eige­nem Bild gestal­tet hat, zu Tode kam. 

Gele­sen habe ich und sehr emp­feh­len kann ich dann noch das gera­de erschie­ne­ne Auto­ma­tic Nood­le (2025) von Anna­lee Newitz. Wäh­rend ich mit ihren Ter­ra­for­mern nicht so viel anfan­gen konn­te, hat mir die­se eher cozy Geschich­te gut gefal­len: im Kern geht es um vier sehr unter­schied­li­che Robo­ter (und einen Men­schen), die übrig blei­ben, als eine Möch­te­gern-Fast­food-Ket­te ihr Geschäft auf­gibt. Das gan­ze spielt in San Fran­cis­co, in einem Kali­for­ni­en, das sich gera­de in einem blu­ti­gen Krieg von Ame­ri­ka abge­spal­tet hat, und das – anders als die Rest-USA – unter bestimm­ten Bedin­gun­gen men­schen­ähn­li­che Robo­ter mit Rech­ten aus­stat­tet – was ande­re nicht davon abhält, Vor­ur­tei­le zu äußern. Mit viel Lie­be zum Detail erzählt Nee­witz, wie aus dem Fast­food-Shop ein auf Biang-Biang-Nudeln spe­zia­li­sier­tes Restau­rant wird (da erin­ner­te mich das eine oder ande­re an Sourdough) – und wie dabei die ganz unter­schied­li­chen Robo­ter-Per­sön­lich­kei­ten mit ihren Stär­ken (und Schwä­chen und Trau­ma­ta) zusam­men­fin­den. (Lesens­wer­tes Inter­view mit Newitz dazu.)

In gewis­ser Wei­se gut dazu gepasst hat der Film Chap­pie (2015, lief auf Net­flix), den ich eher zufäl­lig aus­ge­wählt habe. Hier geht es um auto­no­me Poli­zei­ro­bo­ter in Johan­nis­burg und was pas­siert, als eine*r davon ein Bewusst­sein bekommt und bei einer von „Die Ant­wo­ord“ gespiel­ten Gangs­ter­fa­mi­lie auf­wächst. Regis­seur Neill Blom­kamp legt an man­chen Stel­len zu dick auf, der Film kann sich manch­mal nicht ent­schei­den, ob er jetzt Thril­ler, Hip-Hop-Gangs­ter­ko­mö­die oder Robo­ter-Reflek­ti­on sein möch­te – unter­halt­sam war’s trotz­dem. Ins­be­son­de­re mit dem zum Zeit­punkt die­ses Films noch nicht abseh­ba­ren AI-Hype im Hinterkopf.

Wei­ter­ge­guckt habe ich außer­dem Foun­da­ti­on und Star Trek: Stran­ge New Worlds – wobei ich hier von Fol­ge 6 („The Seh­lat Who Ate Its Tail“) ins­ge­samt eher begeis­tert war, und mit den Fol­gen 7 („What Is Star­fleet?“) und 8 („Four-and-a-Half Vul­cans“) nicht so viel anfan­gen konnte. 

Begon­nen und dann gleich bin­ge­ge­watcht habe ich die ers­te Staf­fel von Silo (Apple TV, 2023), der Ver­fil­mung der Bücher Wool, Shift und Dust von Hugh How­ey. Die Serie spielt (zumin­dest in der ers­ten Staf­fel) fast aus­schließ­lich in einer rie­si­gen Unter­grund­stadt, dem titel­ge­ben­den Silo, das von selt­sa­men Regeln (Trep­pen­stei­gen zwi­schen den 144 Stock­wer­ken!, kei­ne Mikro­sko­pe!) beherrscht wird. Drau­ßen ist böse – jeden­falls ist das die mit gro­ßem Auf­wand auf­recht erhal­te­ne herr­schen­de Mei­nung. Und Arte­fak­te aus der Zeit davor sind eben­falls ver­bo­ten. Durch einen geschick­ten Kniff ver­bin­det die Serie die Gescheh­nis­se im unters­ten Level – hier küm­mern sich Mechaniker*innen dar­um, dass alles läuft – der Mit­tel­schicht und der Eli­te des Silos in den obe­ren Leveln. Die Haupt­per­so­nen und deren Che­mie unter­ein­an­der ist dann auch Grund genug, über das eine oder ande­re Plot­ho­le hin­weg zu sehen (wie kommt eine seit vie­len Jahr­zehn­ten von der Außen­welt abge­schnit­te­ne Stadt mit 10.000 Men­schen an so Din­ge wie Kaf­fee oder Lötzinn?). 

Science Fiction und Fantasy im Juli 2025

August garden: micro biom - III

Erstaun­lich, was alles an Seri­en in den letz­ten Wochen raus­ge­kom­men ist! Na gut, eigent­lich vor allem die drit­te Staf­fel von Foun­da­ti­on (Apple TV), durch­wach­sen – irgend­wie klappt es nicht so gut, Jahr­tau­sen­de in weni­ge Per­so­nen zu packen, aber das war auch schon bei Asi­mov ein Pro­blem – und die lan­ge erwar­te­te drit­te Staf­fel von Star Trek: Stran­ge New Worlds (Para­mount+). Von den fünf Fol­gen, die ich bis­her gese­hen habe, fand ich zwei­ein­halb über­zeu­gend, die ande­ren waren nicht so meins – zu sehr Hor­ror­kli­schees, zu sehr das in der Dun­kel­heit der Dimen­sio­nen ver­bor­ge­ne jahr­tau­send­al­te abso­lu­te Böse. Und ob die Idee, in jeder Fol­ge ein Gen­re zu imi­tie­ren (Hoch­zeits­ko­mö­die, Zom­bie, …) trägt? So ganz über­zeugt bin ich davon noch nicht. Inter­es­sant fand ich Fol­ge 4 – ohne all­zu­viel zu spoi­lern, wur­de es hier sehr meta­tex­tu­ell: eine klas­si­sche Mur­der-Mys­tery im Holo­deck im Rah­men einer Tech­n­obab­b­le-Geschich­te, und in der Mur­der Mys­tery im Stil der 1960er tauch­te dann eine Welt­raum­aben­teu­er­se­rie auf, die sehr an Star Trek: TOS (aus irgend­ei­nem Par­al­lel­uni­ver­sum) erin­ner­te. Wobei TOS ja nach SNW spielt. Was ins­ge­samt die Fra­ge auf­wirft: Gibt es Star Trek (die fik­ti­ve Geschich­te) in der Ver­gan­gen­heit des Star-Trek-Universums? 

Außer­dem habe ich die letz­te Doc­tor-Who-Staf­fel (Fünf­zehn­ter Dok­tor, 2. Staf­fel) ange­schaut und war dann doch sehr ange­tan davon. Ins­be­son­de­re „The Sto­ry & the Engi­ne“ fand ich in ganz ver­schie­de­ner Hin­sicht stark, auch als ein Stück Selbst­re­fle­xi­on über kolo­nia­le Aneig­nung, die Macht des Geschich­ten­er­zäh­lens etc. Und „Inter­stel­lar Song Con­test“ hat­te eben­falls etwas, wobei ich hier doch star­ke Par­al­le­len zu Cat Valen­tes Space Ope­ra gese­hen habe. Und dann noch ein Staf­fel­fi­na­le, bei dem mal wie­der alles auf dem Spiel steht. Auf­fäl­lig gewis­se Par­al­le­li­tä­ten zwi­schen SNW und die­se Doc­tor-Who-Staf­fel – „The Well“, aber eben auch die meta­tex­tu­el­le „The Sto­ry & the Engine“.

Schon lan­ge woll­te ich mal in Sever­ance (Apple TV) rein­schau­en – die ers­ten bei­den Fol­gen waren schon mal viel­ver­spre­chend, wenn auch ein wenig gewöh­nungs­be­dürf­tig. Lost für die 2020er Jahre?

Last but not least zwei Fil­me, jeweils als kleins­ter gemein­sa­mer Nen­ner zwi­schen mir und den Teen­agern: K‑Pop Demon Hun­ters (2025, Net­flix), ein Ani­me-Spiel­film über den seit Jahr­tau­sen­den durch Musik­grup­pen aus­ge­tra­ge­nen Kampf Gut gegen Böse mit ein paar uner­war­te­ten Ambi­va­len­zen und Zwi­schen­tö­nen, und Army of Thie­ves (2021, Net­flix), das wir als Heist-Movie über einen Bank­be­am­ten, der zum Pan­zer­kna­cker wird, und nicht als Zom­bie­film-Pre­quel gese­hen haben – inso­fern waren die ein­ge­blen­de­ten Nach­rich­ten­se­quen­zen über den Aus­bruch einer Zom­bie­pla­ge eher über­ra­schend, aber für die Hand­lung auch nicht wei­ter wich­tig. Der Heist-Teil war ein sehr deut­scher Film (Mat­thi­as Schweig­hö­fer), auch wenn auf eng­lisch gefilmt und ange­schaut. Gut gefal­len haben mir die gen­re­par­odie­ren­den Ele­men­te – so ganz ernst nimmt sich die­ser Film nicht.

Damit zu den Büchern. Whe­re the Axe Is Buried von Ray Nay­ler (2025) fand ich beein­dru­ckend. In der nahen Zukunft bekämp­fen sich die „Fede­ra­ti­on“ (die stark an Russ­land erin­nert, nur das der Prä­si­dent hier sein Bewusst­sein in immer neue Kör­per her­un­ter­lädt) und ein zer­fal­len­der Wes­ten; es geht um Flucht und Auf­stän­de, um Spio­na­ge und Gegen­spio­na­ge und das Leben in einer düs­te­ren, orwell-arti­gen Gesell­schaft, in der Social Scores den Hand­lungs­ra­di­us bestim­men. Inter­es­sant wird die­ses Buch dadurch, dass auf meh­re­ren Ebe­nen sozio­tech­ni­sche Fra­gen dis­ku­tiert wer­den: Ver­spricht es Frei­heit, wenn der Pre­mier­mi­nis­ter durch einen Chat­bot ersetzt wird – und was tun, wenn die Ent­schei­dun­gen nicht mehr nach­voll­zieh­bar sind? Ist Wider­stand in einer tech­nisch-tota­li­tä­ren Gesell­schaft über­haupt mög­lich? Wem kann über­haupt noch ver­traut wer­den, wenn jeder erpress­bar ist? Wie viel Tech­nik ist zu viel? Auch auf­grund der The­ma­tik kei­ne ganz ein­fa­che Lek­tü­re, aber auf jeden Fall eine Emp­feh­lung – und (nach vie­len Büchern, in denen AI und künst­li­che Agen­ten irgend­wie eine Rol­le spie­len) mei­nes Wis­sens nach das ers­te, das sich im Medi­um der SF kon­kret mit Lar­ge Lan­guage Models auseinandersetzt.

Unter­halt­sa­mer und in dem Sin­ne leich­te­re Lek­tü­re – obwohl zwi­schen den Zei­len auch ein biss­chen Tief­gang mit­schwimmt – die drei Bän­de A Mar­vell­ous Light (2021), A Rest­less Truth (2022) und A Power Unbound (2023) von Freya Mar­s­ke. In einem alter­na­ti­ven edwar­dia­ni­schen Eng­land ist Magie real, auch wenn die meis­ten Men­schen davon nichts wis­sen. Wir fol­gen den Geschwis­tern Robin und Maud Bly­th, die uner­war­tet mit der magi­schen Welt in Berüh­rung kom­men. Robin ist ein Baro­net, grö­ße­re Tei­le der Bücher spie­len auf Her­ren­häu­sern (und einem Oze­an­damp­fer) sowie mit den Intri­gen von Lords und Ladys. Zum Gück gibt es als Kon­tra­punkt Alan­zo Ros­si, der sich als Kind einer ita­lie­ni­schen Ein­wan­de­rer­fa­mi­lie recht und schlecht als Jour­na­list durch­schlägt, und so etwas wie einen Klas­sen­stand­punkt in die Geschich­te bringt. Neben einer durch­aus packen­den Geschich­te, die zu den Ursprün­gen der eng­li­schen Magie zurück­führt und im drit­ten Band in einem gro­ßen Fina­le mün­det, sind die Bücher que­e­re Roman­zen. Dass Ros­si neben­her Geld damit ver­dient, unter Pseud­onym schwu­le Por­no­gra­fie zu ver­fas­sen (sor­ry, Spoi­ler zu Band 2), passt auch inso­fern, als alle drei Bän­de immer mal wie­der kon­sen­sua­le, aber sehr expli­zi­te Sex-Sze­nen ent­hal­ten. Die aller­dings durch­aus dazu bei­tra­gen, die Bezie­hun­gen zwi­schen den fünf, sechs han­deln­den Cha­rak­tern und deren Ängs­te und – in die­ser Welt meist heim­li­chen – Begeh­ren ver­ständ­lich zu machen. 

Und dann noch­mal Eng­land und Magie – The Bright Sword (2024) von Lev Gross­man ist des­sen Aus­ein­an­der­set­zung mit der Artus-Saga. Die Haupt­per­son, Collum, kommt aus einer der äußers­ten Ecken des vor-angel­säch­si­schen Eng­lands an den hoch­mit­tel­al­ter­li­chen Hof in Came­lot – nur um zu erfah­ren, dass die Tafel­run­de in Auf­lö­sung befind­lich ist. Mit den weni­gen ver­blie­be­nen Rit­tern (und der Zau­be­rin Nimue), die Gross­man der Artus-Sage ent­nimmt, aber mit Hin­ter­grund­ge­schich­ten aus­schmückt und plau­si­bel macht, begibt Collum sich auf Ques­te, die hin und wie­der auch ins Feen­reich und an ande­re unwirk­li­che Orte führt. Gross­man erzählt das groß­ar­tig, gera­de durch die mino­ri­tä­re Per­spek­ti­ve, die mal nicht einen der klas­si­schen Hel­den in den Mit­tel­punkt stellt, und den Blick auf die Übrig­ge­blie­be­nen am Ende der Tafel­run­de. Lesens­wert auch das Nach­wort, in dem er deut­lich macht, dass die Ursprün­ge des Stoffs im 6. oder 7. Jahr­hun­dert lie­gen, ent­spre­chend vor der angel­säch­si­schen Inva­si­on, in einem nach­rö­mi­schen Bri­tan­ni­en, das von Kelt*innen besie­delt ist – die übli­chen Ver­sio­nen aber die Rit­ter in das höfi­sche Ritu­al des Hoch­mit­tel­al­ters ste­cken, und davon natür­lich auch nicht abge­wi­chen wer­den kann. Inso­fern spielt der Roman in einer so nie exis­tiert haben­den Traum­zeit – da sind dann auch Kür­bis­se in einem Gar­ten, die mich aus der Bahn gewor­fen haben, oder die eben­falls ana­chro­nis­ti­schen Blau­bee­ren ver­zeih­bar, über die Gross­man selbst im Nach­wort schreibt. Inter­es­sant fin­de ich die post-kolo­nia­len Bre­chun­gen – in der Per­spek­ti­ve des mus­li­mi­schen Rit­ters Sir Palo­mi­des, der von den Errun­gen­schaf­ten des isla­mi­schen Zivi­li­sa­ti­on schwärmt, aber auch dar­in, wie die Cha­rak­te­re des Buchs mit dem Ende der römi­schen Kolo­ni­sie­rung umgehen. 

Science Fiction und Fantasy im Juni (und z.T. Juli) 2025

Neckar, Esslingen

Eigent­lich hat­te ich mir vor­ge­nom­men, mir noch wei­te­re Tex­te für den Hugo anzu­gu­cken und einen etwas dif­fe­ren­zier­te­ren Stimm­zet­tel abzu­ge­ben. Her­un­ter­ge­la­den habe ich das Hugo-Voting-Paket schon mal, und bis zur fina­len Abstim­mung am 23. Juli ist eigent­lich auch noch etwas Zeit. We will see. Bei der Gele­gen­heit: ich sehe gera­de, dass Lyne­ham von Nils Wes­ter­boer (ich hat­te im Mai dar­über geschrie­ben) den Phan­tas­tik-Preis der Stadt Wetz­lar bekommt – das scheint mir eine sehr ver­dien­te Wahl zu sein. 

Jetzt aber zu mei­nem SF/F‑Konsum in den letz­ten Wochen. Wir haben Mur­der­bot (Apple TV) wei­ter­ge­schaut, das ist auch wei­ter­hin emp­feh­lens­wert. Die wöchent­li­che Ver­öf­fent­li­chung ver­hin­dert aller­dings Bin­ge-Wat­ching. Das hat Vor- und Nachteile. 

Dann habe ich mit der drit­ten Staf­fel von Wheel of Time (Prime, mit ärger­li­chen Wer­be­un­ter­bre­chun­gen) begon­nen. Die ist wei­ter­hin sehr gut anschau­bar, auch wenn das Geflecht der Hand­lungs­fä­den all­mäh­lich etwas unüber­sicht­lich wird. Und ich mich nicht erin­nern kann, wie jetzt eigent­lich genau die Vor-Vor-Geschich­te lautete.

Schließ­lich haben wir noch den bei Net­flix lau­fen­den Film Thun­der Force ange­guckt. Das gan­ze fir­miert unter der Rubrik „Action­co­me­dy“: zwei ehe­ma­li­ge Schul­freun­din­nen, die eine eher „White Trash“, die ande­re PoC und super­in­tel­li­gent – mit eben­so super­in­tel­li­gen­ter Toch­ter – suchen nach einem Weg, mutier­te Super­bö­se­wich­te zu stop­pen. Dazu müs­sen sie selbst Super­hel­din­nen wer­den. Es gibt fla­che Wit­ze, Krab­ben­fin­ger und den einen oder ande­ren unge­schön­ten Blick in den mit­tel­al­ten All­tag. Kann man angu­cken, aber gro­ßes Kino ist’s eher nicht.

Bei den Büchern star­te ich mal mit The Psy­cho­lo­gy of Time Tra­vel (2018) von Kate Mas­ca­ren­has, das ich sehr gelun­gen fand. Vier Frau­en arbei­ten im Groß­bri­tan­ni­en den 1960ern dar­an, eine Zeit­ma­schi­ne zu ent­wi­ckeln. Das gelingt, und drei davon bau­en die Con­cla­ve auf, die auch in der Gegen­wart und der Zukunft das Mono­pol auf Zeit­rei­sen hat, und zu eui­ner mäch­ti­gen extra­tem­po­ra­le Orga­ni­sa­ti­on wird. Zeit­rei­sen­de haben ihren ganz eige­nen Jar­gon ent­wi­ckelt, und tun das auch. Und das mit der Psy­cho­lo­gie im Titel ist eben­falls ernst gemeint – bis hin zu stan­dar­di­sier­ten Tests im Anhang. Um in der Con­cla­ve erfolg­reich zu sein, braucht es ein ganz eige­nes Mind­set – ohne Angst vor dem (eige­nen) Tod, mit Distanz zu allen Gegen­warts­be­zü­gen, und einem abge­klär­ten Zynis­mus. Auch in der Jetzt­zeit des Romans, 2017 sind die drei Grün­de­rin­nen der Con­cla­ve wei­ter in mäch­ti­gen Posi­tio­nen. Ganz anders die vier­te, Bar­ba­ra, die nach einem öffent­li­chen Ner­ven­zu­sam­men­bruch in den 1960er Jah­ren aus­ge­schlos­sen und ver­steckt wird. Ihre Enke­lin Ruby ver­sucht nun in der Gegen­wart, einen Mord­fall zu lösen, der etwas mit Bar­ba­ra zu tun hat. Dabei kreuzt sich ihr Weg sowohl mit Grace, einer der Grün­de­rin­nen der Con­cla­ve, als auch mit Odet­te, die die Lei­che einer Frau in dem Muse­um fin­det, in dem sie als Frei­wil­li­ge aus­hilft. Die Geschich­te ent­wi­ckelt ihre eige­ne Kau­sa­li­tät durch unter­schied­li­che, mit­ei­an­der ver­wo­be­ne Zeit­ebe­nen hin­durch – und steu­ert auf ein ab einer gewis­sen Stel­le erahn­ba­res letz­tes Puz­zle­stück zu. Ein klei­nes biss­chen Doc­tor Who, der eine oder ande­re nerdi­ge SF-Selbst­be­zug und ins­ge­samt end­lich mal ein über­zeu­gen­der Zeitreiseroman.

Eben­falls sehr anre­gend fand ich The Unra­ve­ling (2021) von Ben­ja­min Rosen­baum. (Ach­tung: unter dem Titel gibt es dut­zen­de Bücher!) Rosen­baum ent­wirft eine meh­re­re zehn­tau­send Jah­re in der Zukunft lie­gen­de Welt. Die Mensch­heit hat sich nach und nach über die Ster­ne aus­ge­brei­tet. Der Ort, an dem die Geschich­te spielt, befin­det sich im Inne­ren eines Pla­ne­ten, des­sen Ober­flä­che ein ein­zi­ger wil­der Wald ist. Mil­li­ar­den Men­schen leben hier. Die Kolo­ni­sie­rung ist längst fer­ne Vor­ge­schich­te, eben­so gibt es „far tech“ (die alten tech­ni­schen Hin­ter­las­sen­schaf­ten, von denen nie­mand so genau weiß, wie sie funk­tio­nie­ren) und „near tech“. Rosen­baum ist ein Meis­ter der Neo­lo­gis­men, vie­le davon uner­klärt, ande­re extrem tref­fend – das hilft, ein Gefühl für die Anders­ar­tig­keit die­ser Welt zu bekom­men, in der Men­schen und Tech­nik sich längst wei­ter­ent­wi­ckelt haben. Bio­lo­gisch, aber auch kul­tu­rell. Es gibt hier zwei Geschlech­ter – staid und vail; staid sind har­mo­nisch, eher intro­ver­tiert, leben für Gelehr­sam­keit und Ruhe – weiß geklei­det; vail sind extro­ver­tiert, kämp­fen ritua­li­siert und tra­gen bun­te Haut­far­ben, Haa­re und Moden. Men­schen haben meh­re­re Kör­per, die durch ein all­ge­gen­wär­ti­ges Netz ver­bun­den sind. Sie wer­den meh­re­re hun­dert Jah­re alt – die ers­ten hun­dert Jah­re gel­ten als Kind­heit. Fami­li­en bestehen aus zehn bis acht­zig Per­so­nen und müs­sen sich bewer­ben, ein Kind bekom­men zu kön­nen. Dar­über ent­schei­den die Heb­am­men – ent­spre­chend mäch­tig ist die­se Klas­se, und die all­ge­gen­wär­ti­ger Trans­pa­renz über den Feed jeder Per­son trägt ihr übri­ges zu einem hohen Maß an sozia­ler Kon­trol­le bei. In die­ser fas­zi­nie­ren­den und ori­gi­nel­len Welt schreibt Rosen­baum eine Coming-of-Age-Geschich­te von Fift, staid, drei Kör­per – und zire unan­ge­mes­se­ne Bezie­hung zu Shria, vail (ve ist angehende*r Genitaldesigner*in). Coming of Age – oder doch die Revo­lu­ti­on, die die­se sta­bi­le Welt aus­ein­an­der­fal­len las­sen wird? 

Von Melis­sa Scott habe ich deren Roman Fin­ders (2018) und die Pre­quel Fal­len (2023) gele­sen. Gut gemach­te Space Ope­ra in einer fer­nen Zukunft nach dem Kampf gegen die Super-AIs, die in den Raum zwi­schen den Uni­ver­sen ver­bannt wur­den (der aller­dings durch­quert wer­den muss, um mit Über­licht­ge­schwin­dig­keit von einem zum nächs­ten Sys­tem zu kom­men). Fin­ders erin­ner­te mich ein biss­chen an Fire­fly; dass die Held*innen ein Poly­cu­le bil­den, trägt mög­li­cher­wei­se auch dazu bei. 

Das Buch A Mas­ter of Djinn von P. Djè­lí Clark (2021) habe ich schon seit gerau­mer Zeit auf mei­nem vir­tu­el­len Lese­sta­pel lie­gen, konn­te mir aber kei­ne rech­te Vor­stel­lung davon machen, ob ich es lesen will. Nach­dem ich mich dazu auf­ge­rafft habe, kann ich es wei­ter­emp­feh­len: Clarks Roman (zu dem es wohl eine Kurz­ge­schich­te und eine Novel­le als Vor­ge­schich­te gibt, deren Ereig­nis­se im Buch refe­ren­ziert wer­den) ist auf einer Ebe­ne eine Kri­mi­nal­ge­schich­te: eine Agen­tin und die ihr gegen ihren Wil­len zuge­wis­se­ne Part­ne­rin ver­su­chen, einen Ritu­al­mord auf­zu­klä­ren. Das Buch dar­auf zu ver­kür­zen, wäre aber irre­füh­rend. Wir sind in Kai­ro, Anfang des 20. Jahr­hun­derts, und Ägyp­ten ist dank der Rück­kehr der Magie zu einer Welt­macht auf­ge­stie­gen. Elek­tri­zi­tät und magi­sche Wer­ke las­sen das Bild einer Steam­punk-Welt ent­ste­hen; eben­so ste­hen neue und alte Reli­gio­nen neben­ein­an­der. Fat­ma, die Agen­tin, ist Mus­li­min aus dem Sudan und trägt mit Vor­lie­be Anzug und Melo­ne in bun­ten Far­ben. Ihre Gelieb­te ver­ehrt die Löwen­göt­tin Sekhmet. Ihre Agen­ten-Part­ne­rin Hadi­da ist tra­di­tio­nel­le Mus­li­min. Die Behör­de, für die bei­de arbei­ten, küm­mert sich um magi­sche Wesen­hei­ten und Ereig­nis­se. Djinn leben und arbei­ten in Kai­ro – eine von vie­len ein­ge­wan­der­ten Popu­la­tio­nen. Was beginnt wie eng­li­sche Aben­teu­er­li­te­ra­tur der Jahr­hun­dert­wen­de, wird schnell zu einem rasan­ten post­ko­lo­nia­len Feu­er­werk. Und aus dem Kri­mi wird die Geschich­te einer magi­schen Kata­stro­phe, die es zu ver­hin­dern gilt. Das Buch ist zu recht mit eini­gen Prei­sen aus­ge­zeich­net worden.

Tho­se Bey­ond the Wall (2024) von Micai­ah John­son ist die Fort­set­zung von The Space Bet­ween Worlds. Die dor­ti­gen Neben­fi­gu­ren aus dem Kampf zwi­schen Ash­town und der von einer glä­ser­nen Wand umge­be­nen Wiley City sind hier die Haupt­per­so­nen, ins­be­son­de­re „Mr. Sca­les“, die (ille­gi­ti­me) Schwes­ter des Ash­town-War­lords und eine der Run­ner, der Rai­der, die Ash­town schüt­zen. Die Zukunft, die John­son ent­wirft, ist eine bru­ta­le – nach einer eska­lier­ten Kli­ma­ka­ta­stro­phe. Die Wüs­te, die Ash­town und Wiley City umgibt, ist lebens­feind­lich. Wiley City wur­de von den Men­schen gebaut, die jetzt in Ash­town leben müs­sen. Ver­spre­chen wur­den gebro­chen. Und die Wand zwi­schen den Mul­ti­ver­sen ist dünn – schaf­fen Ash­town und Wiley City es, sich zusam­men­zu­tun, um eine Inva­si­on aus einer par­al­le­len Welt zu ver­hin­dern? John­son erzählt leb­haft von einer rohen, gewalt­tä­ti­gen und ver­letzt­li­chen Welt, in der es doch so etwas wie Soli­da­ri­tät gibt; und Wut über Unge­rech­tig­kei­ten. Ob wir Mr. Sca­les Glau­ben schen­ken kön­nen, ist eine ande­re Fra­ge. Lesens­wert ist die­ses wüten­de Buch allemal. 

Weni­ger gut gefal­len hat mir The Only Song Worth Sin­ging von Ran­dee Dawn (2025). Eine iri­sche Band wird in den USA Ziel von Über­grif­fen aus dem Feen­reich. Urban Fan­ta­sy, vie­le kel­ti­sche Ein­spreng­sel, viel Musik, viel Band-Leben, ein biss­chen Armut in Irland, aber dann plötz­lich auch Mön­che, gute und böse Feen­we­sen und wel­ten­über­schrei­ten­de Lie­bes­ge­schich­te. Ein biss­chen viel. Aber eigent­lich bin ich schon stut­zig gewor­den, als die Slum-Hüt­te im länd­li­chen Dub­lin von Ter­mi­ten zer­nagt wur­de – da passt irgend­was nicht, selbst in den 1970ern, in denen die­se Sze­ne spielt. 

Science Fiction und Fantasy im April (und Mai) 2025

Firenze, day 3 - Giardini di Boboli, Glasshouse - XI

Nicht zuletzt auf­grund des Ent­schlus­ses, erst ein­mal kei­ne wei­te­ren E‑Books bei Ama­zon zu kau­fen, habe ich im April ins­be­son­de­re Bücher gele­sen, die schon län­ger auf mei­nem Kind­le herumlagen.

Bruce Ster­ling hat die 2014er-Aus­ga­be des MIT-Sci­ence-Fic­tion-Review unter dem Titel Twel­ve Tomor­rows her­aus­ge­ge­ben. Dar­in fin­den sich Kurz­ge­schich­ten von gro­ßen Namen aus dem Cyber­punk-Umfeld. Wil­liam Gib­son mit einer Stu­die zu sei­nen Peri­phe­ral-Roma­nen fand ich ohne deren Kon­text nicht gut ver­ständ­lich, War­ren Ellis vage – umso inter­es­san­ter die Zukunfts­vi­sio­nen von Pat Cadi­gan, Lau­ren Beu­kes, Paul Gra­ham Raven und Ster­ling hims­elf. Allen gemein­sam: gut zehn Jah­re alte Near-Future-SF, die – mehr oder weni­ger cyber­pun­kig – sozio­tech­ni­sche Impli­ka­tio­nen erforscht, wirkt heu­te durch­wach­sen. Vie­les ist recht prä­zi­se extra­po­liert. An ande­ren Stel­len hat die Wirk­lich­keit die SF über­holt. Und die Hoff­nung auf spon­ta­ne, tech­no­lo­gisch ver­mit­tel­te Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on in den Hin­ter­las­sen­schaf­ten der neo­li­be­ra­len Kata­stro­phe wirkt heu­te fast schon naiv. Statt ara­bi­schem Früh­ling gab’s Coro­na und Trump I und II, statt auto­no­men Netz­wer­ken das Meta-Goog­le-Apple-Ama­zon-Quar­tett. Aber gera­de des­we­gen: durch­aus inter­es­sant zu lesen.

In Notes from the Bur­ning Age (2021) von Clai­re North – die mir bis­her kein Begriff war, und wohl eini­ge span­nen­de Sachen geschrie­ben hat – geht es um eine etwas fer­ne­re Zukunft. Nach dem gro­ßen Crash wur­de die Welt in einem bewuss­te­ren und öko­lo­gi­sche­ren Maß­stab neu auf­ge­baut – auch auf­grund der Inter­ven­ti­on der Kakuy, Wesen, die die Natur ver­kör­pern, und um die her­um sich die in der Gegen­wart des Buches herr­schen­de Reli­gi­on ent­wi­ckelt hat. Ven ist ein Kind sei­ner Zeit, war Mönch die­ser Reli­gi­on, und zieht jetzt mit einer Mis­si­on durch die Pro­vin­zen des ehe­ma­li­gen Mit­tel­eu­ro­pas. Was bis hier­hin einen Solar­punk- oder Hope­punk-Roman beschrei­ben könn­te, nimmt eine ganz ande­re Wen­dung, denn wir erle­ben durch Vens Augen den Auf­stieg einer patri­ar­cha­len „Bru­der­schaft“, die zurück zur sagen­um­wo­be­nen fos­sil-faschis­ti­schen Moder­ne will. North beschreibt die sich dar­aus erge­ben­den Aus­ein­an­der­set­zung mit viel Lie­be zum all­täg­li­chen Detail. Gleich­zei­tig erin­nert mich (trotz ganz ande­rem World­buil­ding) Notes from the Bur­ning Age ein wenig an Iain M. Banks „Spe­cial Cir­cum­s­tances“ in sei­ner uto­pi­schen Cul­tu­re (oder an die „Sec­tion 31“ – aber mit Gewis­sens­bis­sen – im uto­pi­schen Star-Trek-Mythos). Lesenswert!

„Sci­ence Fic­tion und Fan­ta­sy im April (und Mai) 2025“ weiterlesen

Science Fiction und Fantasy im März 2025

Freiburg Hbf: Stadtbahnbrücke

Defi­ni­tiv kei­ne Emp­feh­lung: der Film Super­no­va aus dem Jahr 2000. Mehr Trash geht eigent­lich gar nicht – bis hin zu Din­gens mit neundi­men­sio­na­ler Mate­rie, die sich, nach­dem alle mal Sex hat­ten und fast alle umge­bracht wor­den sind, inner­halb von 50 Jah­ren über 3000 Licht­jah­re aus­brei­tet, und so der Gra­vi­ta­ti­on eines blau­en Rie­sens ent­kommt. Da trös­ten dann auch die Sei­ten­we­ge (wie etwa der zukünf­ti­ge Blick auf die arg gewalt­tä­ti­gen Zei­chen­trick­fil­me aus den 1960er Jah­ren, die Love­sto­ry mit der AI oder diver­se Film­zi­ta­te) nicht.

Defi­ni­tiv eine Emp­feh­lung ist dage­gen The Resi­dence (2025, Net­flix) – Cor­de­lia Cupp ist vor allem dar­an inter­es­siert, sel­te­ne Vögel zu betrach­ten, mit Feld­ste­cher und „Birds of the World“ in der Umhän­ge­ta­sche. Neben­bei ist sie auch noch die welt­bes­te Detek­ti­vin – und reicht in nerdi­ger Exzen­trik an Sher­lock Hol­mes oder Doc­tor Who her­an. In die­ser sehr gegen­wär­tig erzähl­ten Serie klärt sie einen Mord im Wei­ßen Haus auf – mit viel Blick hin­ter die Kulis­sen des White House, Lie­be für Details und ver­schro­be­ne Figu­ren, nur am Ran­de vor­kom­men­der Poli­tik und einer gar nicht mal so unplau­si­bel erschei­nen­den Zukunft, in der ein weit­ge­hend unfä­hi­ger Prä­si­dent es sich selbst mit Aus­tra­li­en ver­scherzt hat. Kylie Mino­gue tritt auch auf. (Ja, das ist im enge­ren Sin­ne alles kei­ne Sci­ence Fic­tion, son­dern viel­leicht Mys­tery Come­dy, hat mich dann aber doch sehr gut unter­hal­ten, gera­de in die­sen Tagen …)

Stich­wort „die­ser Tage“ – Lisa Brideau hat mit Adrift (2023) einen als Thril­ler ver­kauf­ten SF-Roman geschrie­ben, der lei­der sehr gegen­wär­tig wirkt. Der Kli­ma­wan­del hat sich in der nahen Zukunft (2039) fort­ge­setzt, Wald­brän­de und hef­tigs­te Stür­me sind lei­der nor­mal. Die Gren­zen Kana­das wer­den streng kon­trol­liert – auch die See­we­ge zu den USA, um Flücht­lin­ge abzu­hal­ten. Wirt­schaft­lich geht es alles den Bach run­ter, auch wenn die Wis­sen­schaft ein biss­chen wei­ter gekom­men ist. In die­sem Sze­na­rio fin­det sich Ess ohne Gedächt­nis auf einem Boot auf dem Meer wie­der. Ess‘ motor skills – wie etwa das Segeln – sind eben­so intakt wie ihr Gedächt­nis für alles, was neu pas­siert – nur die epi­so­dischen Erin­ne­run­gen an alles bis zum Beginn des Buches sind genau­so kom­plett gelöscht wie ihr Wis­sen über sich selbst. Das Boot ist gut aus­ge­rüs­tet, Pil­len gegen das star­ke Kopf­weh gibt es, und irgend­wann fin­det Ess auch einen Brief an sich selbst, der aber nicht wirk­lich irgend­et­was erklärt. Sie beschließt, ihren eige­nen Rat in den Wind zu schla­gen und her­aus­zu­fin­den, was eigent­lich pas­siert ist. Ach ja: neben­bei häu­fen sich Medi­en­be­rich­te über Geflüch­te­te ohne Gedächt­nis. Hat das etwas mit ihr zu tun? – Adrift hat mir gut gefal­len, auch wenn die hier ent­wor­fe­ne Zukunft rea­lis­tisch düs­ter wirkt – und die Sto­ry­line ab und zu an ein Video­spiel erin­nert, in dem das nächs­te Item gefun­den wer­den muss, um weiterzukommen.

Eben­falls sehr rea­lis­tisch (und nur in einem wei­ter gefass­ten Sin­ne als SF zu bezeich­nen) ist Cory Doc­to­rows neus­ter Band sei­ner Mar­ty-Hench-Serie, die mit Red Team Blues star­te­te. In Picks and Sho­vels (2025) sprin­gen wir in die 1980er Jah­re – Mar­tin Hench stu­diert am MIT, jeden­falls ist das der Plan. Dann kommt er in Berüh­rung mit den ers­ten Heim­com­pu­tern, wird Teil eines Com­pu­ter-Clubs und lernt Visi­calc lie­ben. Eine geschei­ter­te Fir­men­grün­dung spä­ter lan­det Hench als foren­sic accoun­tant in San Fran­cis­co, das sich gera­de neu erfin­det. Zwi­schen Dead Ken­ne­dys und PC-Nerd-Nost­al­gie erfah­ren wir nicht nur viel über Henchs bio­gra­fi­sche Ent­wick­lung und Lokal­ko­lo­rit der Ost- wie der West­küs­te. Ganz neben­bei erzählt Doc­to­row mit­rei­ßend wie immer – so selt­sam das klin­gen mag – über Tech­nik-Mono­po­le, schei­tern­de Revol­ten und die Ursprün­ge frei­er Soft­ware. Viel­leicht funk­tio­niert das Buch nur, wenn man selbst die PC-Revo­lu­ti­on (zumin­dest aus der Fer­ne einer Kind­heit in Deutsch­land) mit­be­kom­men hat – aber eigent­lich müss­te es auch ohne Vor­wis­sen und Nost­al­gie­kern lesens­wert sein. 

Chron­lo­gisch wei­ter zurück geht es in den ande­ren drei Roma­nen, die ich im März gele­sen habe. 

Emi­ly Wilde’s Com­pen­di­um of Lost Tales (2025) ist der drit­te Band von Hea­ther Faw­cetts Cozy-Fan­ta­sy-Rei­he rund um Emi­ly Wil­de, die in Cam­bridge die Welt der Feen­rei­che erforscht. In die­sem drit­ten Band, der mit dem Ende des Jah­res 1910 beginnt, folgt sie ihrem Part­ner Wen­dell Bam­ble­by in des­sen Feen-König­reich, Sil­va Lupi. Sein Ziel: den ver­wais­ten Thron ein­neh­men – ihr Ziel: eine Feld­stu­die über die Poli­tik der Feen­rei­che zu ver­fas­sen. Mit Nadel und Faden, enzy­klo­pä­di­schem Wis­sen über Mär­chen und Sagen und einer gehö­ri­gen Por­ti­on Stur­heit gelingt am Ende nicht nur das – auch dank einer Tür, die nach Irland führt. Es emp­fiehlt sich, die ers­ten bei­den Bän­de gele­sen zu haben, nicht zuletzt des­halb, weil eine gan­ze Rei­he Figu­ren wie­der auf­tau­chen. Dann hält das Com­pen­di­um, was es ver­spricht, und Hea­ther Faw­cett ent­führt eine*n in eine detail­rei­che und in sich bei allen Selt­sam­kei­ten kon­sis­ten­te Anders­welt. Die For­sche­rin Emi­ly Wil­de als Hel­din wider Wil­len eig­net sich dabei wun­der­bar als Identifikationsfigur.

Fast die glei­che Zeit, aber eine anders gear­te­te Abwei­chung von unse­rer Ver­gan­gen­heit fin­det sich in The Cau­tious Traveller’s Gui­de to The Was­te­lands (2024) von Sarah Brooks. Die­ser Roman spielt 1899 und zeich­net aus ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven (dem im Zug auf­ge­wach­se­nen Wai­sen­kind – dem Natur­for­scher – der ver­meint­li­chen jun­gen Wit­we) die Rei­se mit der trans­si­bi­ri­schen Eisen­bahn von Bei­jing nach Mos­kau nach – nur das Sibi­ri­en die sorg­sam mit einer Mau­er abge­schot­te­ten Was­te­lands sind, in denen jeff­van­der­meer­sche Trans­for­ma­tio­nen von sich gehen, Far­ben zu sehen sind, die nicht für das mensch­li­che Auge gemacht sind, Wesen inein­an­der über­ge­hen und man bes­ser nicht genau hin­sieht, weil die Was­te­lands zurück­schau­en. Nur der spe­zi­ell gesi­cher­te Zug der Com­pa­ny – mit sei­ner ers­ten und sei­ner drit­ten Klas­se, mit Vor­rä­ten für die lan­ge Rei­se, einer exqui­si­ten Küche und Stahl­bal­ken vor allen Fens­tern – schafft die­se Rei­se. Meis­tens jeden­falls. Brooks‘ Rei­se­be­richt ist zugleich die Geschich­te einer Trans­for­ma­ti­on, an des­sen Ende längst nicht mehr klar ist, was innen und außen ist. 

Und auch T. King­fi­shers What Moves The Dead (2022), noch stär­ker als der Traveller’s Gui­de eher Hor­ror als Fan­ta­sy, spielt in einem 19. Jahr­hun­dert, das da und dort unse­rem gleicht, dann aber doch wie­der ganz anders ist. So ist die erzäh­len­de Haupt­per­son – die einem düs­te­ren Geheim­nis auf die Spur kom­men muss – ein*e nonbinäre*r „sworn sol­dier“ ist, was mit der Tra­di­ti­on des klei­nen Lan­des Gal­la­cia begrün­det wird. Die Novel­le nimmt Moti­ve von Poes The Fall of the House of Usher auf, spielt mit die­sen und fügt eine Men­ge Pilz­kun­de und Natur­ge­schich­te hin­zu. Und Zom­bie-Hasen. Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich die­se Art Buch mag, der Ton­fall der Erzähler*in war jeden­falls stim­mig und mach­te neu­gie­rig auf den Folgeband. 

Noch wei­ter zurück geht es dann in dem rund 700 Sei­ten umfas­sen­den neus­ten Werk von Ada Pal­mer. Inven­ting the Renais­sance: Myths of a Gol­den Age (2025) ist ein Sach­buch, oder viel­leicht auch ein sehr lan­ger Blog­post. Pal­mer schreibt hier (meis­tens) nicht als SF-Autorin, son­dern als Geschichts­pro­fes­so­rin und Exper­tin für die ita­lie­ni­sche Renais­sance. Der Fokus liegt dabei auf Flo­renz. Machia­vel­li tritt in die­sem Buch eben­so auf wie die Medi­cis – und in bei­den Fäl­len, wie auch in vie­len ande­ren in das Werk gefloch­te­nen Bio­gra­fien, legt Pal­mer sich bewusst nicht fest, wie deren Han­deln mora­lisch zu bewer­ten ist. Eigent­lich geht es Pal­mer um Ideen­ge­schich­te – wie ent­stand über­haupt das Pro­jekt Renais­sance, was hat es mit dem Huma­nis­mus auf sich, und wie weit las­sen sich „moder­ne“ Vor­stel­lun­gen im Flo­renz des 15. und 16. Jahr­hun­derts fin­den. Oder ist es über­haupt eine dum­me Idee, in die­ser fremd-ver­trau­ten Kul­tur nach Split­tern und Vor­for­men der Moder­ne zu suchen? Neben­bei wird deut­lich, wie sehr selbst die „Repu­blik“ Flo­renz nicht pro­to-demo­kra­tisch orga­ni­siert war, son­dern anhand von Patro­na­ge-Bezie­hun­gen und der Gunst mäch­ti­ger Per­so­nen – womit sich dann der Kreis zu die­sen Tagen schließt.