Die Schulz-Story von Markus Feldenkirchen – ich habe den Fehler gemacht, sie als Hörbuch zu kaufen und gemerkt, dass das einfach nicht mein präferierter Wahrnehmungskanal ist, aber das ist eine andere Geschichte – also: die Schulz-Story ist ein beeindruckendes Stück Journalismus, bis hin zu den wie nebenbei in den Text eingestreuten Erläuterungen zu Fachbegriffen und politischen Situationen. Sie lässt sich auf drei Ebenen lesen: als Text über die Person Martin Schulz, als Text über den Zustand der SPD, und als Text über einige Dysfunktionalitäten unseres politischen Systems.
Kurz: Phantomregierung
Vorneweg: Ich habe mir den Koalitionsvertrag der möglichen IV. Regierung Merkel noch nicht angeschaut, und es mag auch die eine oder andere positive Botschaft auf den 170 Seiten enthalten sein. Trotzdem war es heute nicht zu ignorieren, dass die Verhandlungsgruppen aus CDU, CSU und SPD zu einem Ergebnis gekommen sind. Jetzt steht noch die Hürde SPD-Mitgliederabstimmung im Raum, aber bis Mitte März sollte die auch durch sein – ich tippe auf 55 bis 60 Prozent Zustimmung. Und dann ist, rund ein halbes Jahr nach der Bundestagswahl, eine neue Bundesregierung im Amt, der dann noch gut drei Jahre bleiben, um zu regieren. Bis dahin regieren Phantome.
Was mich etwas gewundert hat, ist das Durchsickern von Informationen. Eine erste Rohfassung des Vertrags mit letzten kritischen Stellen kursierte schon gestern, heute dann der finale Vertragsentwurf samt Liste der Ressorts und ihrer Zuschnitte. Und nach und nach fielen neben einzelnen Projekten und Textausschnitten dann auch Namen. Welche Minister*innen gehen, welche bleiben, wer vermutlich was wird. Aber irgendwie passt das zu der Lustlosigkeit, die dieses ganze Unternehmen ausstrahlt. Die möglicherweise letzte große Koalition ist keine Wunschkoalition.
Merkel bleibt Kanzlerin. Seehofer wird Innen‑, Heimat- und Bauminister, wobei „Heimat“ zwar für den meisten Trubel sorgte, ein CSU-Hardliner für „Innen“ mir aber die größeren Bauchschmerzen bereitet. Die SPD wechselt mal wieder ihren Parteivorsitz aus – Nahles scheint mir da gut für geeignet zu sein, und Schulz als Außenminister – naja. Im Bildungsbereich verdichten sich die Zeichen, dass Gröhe, bisher Gesundheit, jetzt für Bildung, Wissenschaft und Forschung zuständig sein wird. Ob das ohne Fachkompetenz in diesem doch etwas komplizierten Feld, mit divergierenden Länderinteressen und starken institutionellen Playern mit jeweils nochmals eigenen Eigenheiten gut gehen wird, werden wir sehen. Naheliegend ist diese Lösung nicht. Klöckner macht jetzt in Landwirtschaft, Weinbau und Wolfsjagd. Bär wird nicht Digitalministerin, nein, Digitales bleibt verstreut und Annex von Verkehr (also: Geld für Breitband und Straßen vorrangig nach Bayern?), sondern vielleicht für Entwicklungshilfe zuständig. Auch das passen Person und Portfolio nicht so wirklich zusammen. Auf SPD-Seite wenig überraschendes; ein Wechsel von Scholz hatte sich angedeutet, und dass er Finanzen übernehmen könnte, hat eine gewisse Logik. Insgesamt: wenig Charisma, kein Innovationsgeist, oder, etwas böser: auch hier eher eine Regierung von Geistern aus der Vergangenheit. So richtig wichtig erscheint das alles nicht. Phantomregierung, auch hier.
Wahlnachtgedanken
Es wird noch munter ausgezählt, aber der eine oder andere Trend bei der Bundestagswahl 2017 zeichnet sich doch ab. Aktuell – 23:30 – ist noch nicht klar, ob LINKE oder GRÜNE zweitkleinste Fraktion vor der CSU werden, aber insgesamt scheint das Ergebnis doch halbwegs stabil: Massive Verluste für die Union, die nur noch bei rund 33 Prozent landet, eine SPD mit einem miserablen Ergebnis knapp über 20 Prozent, die AfD als drittstärkste Partei mit – deutlich besser als in den meisten Umfragen – rund 13 Prozent, stark durch die Verluste der Union gespeist, die FDP bei etwa 10,5 Prozent und GRÜNE und LINKE jeweils etwa bei 9 Prozent.
Ein Stimmungsbild (im Herbst)
Draußen ist es Spätsommer. Mal wieder ein Wetterumschwung – vor ein paar Tagen waren es noch über 35 °C, jetzt regnet es im Herbstmodus. Aber ich will nicht über das Wetter schreiben, sondern über die Bundestagswahl, und dieses Land.
Eigentlich wollte ich diesen Text anders beginnen, ich hatte ihn auch schon halb fertig. Mit einem Blick auf die möglichen Koalitionen nach der Wahl, mit einem Blick auf die FDP, die sich derzeit so in der Mittelpunkt rückt, und auch auf die Original-AfD. Auf die Infas-Analyse in der ZEIT eingehen, die zeigt, dass Deutschland doch offener und liberaler ist, als viele denken, und dass die medial so dominanten rechten Hetzer nur eine Minderheit vertreten.
Eine Zahl, zwei Deutungen
Dem aktuellen Deutschlandtrend der ARD lassen sich ein paar interessante Zahlen entnehmen. Als da wären:
- Schulz schwächelt, Merkel schon wieder vorne. Große Koalition am ehesten als Regierungskoalition gewünscht
- Grüne bei acht Prozent in der Sonntagsfrage, Mehrheiten jenseits der Großen Koalition nicht in Sicht
- Macht die Regierung eine gute Arbeit? 73 Prozent der CDU-Anhänger*innen, 60 Prozent der GRÜNEN-Anhänger*innen und 51 Prozent der SPD-Anhänger*innen sagen: ja. Widerspruch gibt’s vor allem von den Freund*innen der AfD (nur 2 Prozent sind zufrieden).
- 47 Prozent der GRÜNEN-Anhänger*innen wollen Merkel, 37 Prozent wollen Schulz
Dazu ließe sich jetzt einiges sagen. Ich picke mal die Aussage heraus, dass die GRÜNEN-Anhänger*innen der Großen Koalition doch recht deutlich eine gute Arbeit unterstellen. Dass 60 Prozent mit der Arbeit der Bundesregierung zufrieden sind (vor einem Monat waren es erst 44 Prozent) ist, wenn sich das so bestätigen sollte – noch ist es eine Momentaufnahme -, durchaus eine dramatische Aussage. Denn warum sollte jemand zur Wahl gehen und grün wählen, wenn insgesamt doch alles ganz gut läuft?
Interpretationsschwierigkeiten löst dabei der Begriff „Parteianhänger“ aus. Ich gehe davon aus, dass damit diejenigen gemeint sind, die in der Umfrage angegeben haben, bei der Bundestagswahl die jeweilige Partei wählen zu wollen. Das wären dann hier, optimistisch gerechnet, maximal 120 Personen (für die Sonntagsfrage wurden 1502 Personen befragt; wie hoch der Anteil derjenigen ist, die die Antwort auf diese Frage verweigerten, erschließt sich mir nicht). Entsprechend ist der „Messfehler“ recht hoch.
Aber gehen wir mal davon aus, dass die 60 Prozent, die angeben, mit der Regierung zufrieden zu sein, real sind. Dann sind aus meiner Sicht zwei Interpretationen möglich, die davon abhängen, was über das Delta zwischen den hier erzielten acht Prozent in der Sonntagsfrage und dem Wählerpotenzial vermutet wird.
Die eine Interpretation würde etwa so lauten: Klar, dass die nur noch acht Prozent Grün-Wähler*innen sich zufrieden mit Merkel und ihrer Regierung zeigen – das sind nämlich überwiegend die, die Schwarz-Grün gut finden, die Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt gut finden, die sich eingerichtet haben und angekommen sind. Weggefallen sind alle potenziellen Wähler*innen, die stärker auf progressive Reformen setzen, die grundlegend unzufrieden sind, und die eben kein Weiter so wollen, sondern sich als Unbequeme sehen. Und wenn mal auf die Fehler der Regierung richtig draufgehauen würde, wenn klare Alternativen aufgezeigt würden, dann würden auch diese Wähler*innen wieder davon überzeugt sein, Grün zu wählen.
Die andere Interpretation kommt zu ganz anderen Ergebnissen, und würde etwa so aussehen: Grüne Parteianhänger*innen sind angekommen und wollen gar keine große Veränderung. Vielmehr sind sie im Großen und Ganzen damit zufrieden, wie es läuft. Es soll nicht alles anders werden, aber wenn manches besser wird, wäre das doch ganz ok. Damit diese auch wirklich zu Wahl gehen, und damit auch diejenigen zur Wahl gehen, die jetzt noch nicht angegeben haben, Grün zu wählen – die aber genauso ticken -, muss der Wahlkampf deutlich machen, wo Grün etwas Positives verändern kann, etwa in der Klimaschutzpolitik, ohne jedoch Negativkampagnen zu fahren und Deutschland und die Bundesregierung schlecht zu reden.
Welche dieser Vermutungen darüber stimmt, was diejenigen denken, die grün wählen könnten, derzeit aber nicht grün wählen, lässt sich nicht aus dem Infratest-Dimap-DeutschlandTrend ablesen. Die beiden auseinanderlaufenden Interpretationen beschreiben aber ganz gut das Dilemma, in dem dieser Wahlkampf steckt: Sich auf eine dieser Seiten schlagen – oder versuchen, einen Weg zu finden, der für potenzielle Wähler*innen, die Merkel und ihre Politik gar nicht so schlecht finden, genauso attraktiv ist wie für diejenigen, die meinen, dass es endlich Zeit sei für eine Rot-Rot-Grüne Koalition? (Wobei die einzigen, die wirklich gar nichts mit der Bundesregierung anfangen können, in dieser Umfrage die Anhänger*innen der AfD sind …)
Warum blogge ich das? Weil ich diese Zahlen doch erstaunlich – und für uns Grüne gefährlich – finde.