Leseprotokoll September – Oktober 2017

Neben Mal­te Spitzs Sach­buch Daten – das Öl des 21. Jahr­hun­derts? Nach­hal­tig­keit im digi­ta­len Zeit­al­ter habe ich auch im Herbst 2017 in Buch­form vor allem Sci­ence Fic­tion und Fan­ta­sy gele­sen (und begon­nen, The Expan­se und Star Trek: Dis­co­very anzuschauen).

Das mit dem „gele­sen“ trifft nicht ganz zu auf Simon Sta­len­hågs Buch Tales from the Loop, das ich trotz­dem heiß emp­feh­len kann: Sta­len­håg malt Bil­der, in denen v.a. skan­di­na­vi­sche Land­schaft sich mit tris­ten Robo­tern, den neu­es­ten Tech­no­lo­gien der 1980er Jah­re einer Alter­na­tiv­welt und nicht ganz ech­ten schwe­di­schen Staats­kon­zer­nen mischen. Mit den Tales from the Loop ist eine wun­der­ba­re Geschich­ten­samm­lung zu die­sen Bil­dern her­aus­ge­kom­men, die so etwas wie eine Retro­cy­ber­punk­kind­heit aus der skan­di­na­vi­schen Pro­vinz zusam­men­bin­det. Wer mag, kann auch an Bla­derun­ner [2049] nahe am Polar­kreis den­ken. Kos­ten­pro­ben von Sta­len­hågs Stil gibt es auf sei­ner Web­site.

Auch Syl­vain Neu­vels Buch Waking Gods – die Fort­set­zung von Slee­ping Giants hat etwas mit über­gro­ßen Robo­tern zu tun. In die­sem Fall: außer­ir­di­schen Ursprungs und auf der Erde gefun­den. Die Macht­spie­le aus dem ers­ten Band haben ein vor­läu­fi­ges Ende gefun­den, doch plötz­lich tau­chen wei­te­re Robo­ter auf, und erwei­sen sich als unfreund­lich. Wie reagieren?

Gele­sen habe ich N.K. Jemi­sins The Stone Sky, eben­falls eine Fort­set­zung und nach The Fifth Sea­son und The Obe­lisk Gate der drit­te (und fina­le?) Teil von Jemi­sins Bro­ken-Earth-Serie. Wei­ter­hin sind die Oro­ge­ne Essun und ihre eben­falls oro­ge­nisch begab­te Toch­ter Nas­sun der Fokus­punkt der Geschich­te. Im drit­ten Band wird nach und nach deut­lich, wie es zu der ers­ten glo­ba­len Kata­stro­phe („fifth sea­son“) kam, und wie die magisch erschei­nen­den Fähig­kei­ten der Oro­ge­nen und der Stein­es­ser eigent­lich funk­tio­nie­ren. Auch hier gilt, dass hoch genug ent­wi­ckel­te Tech­no­lo­gie wie Zau­be­rei erschei­nen kann. Essun und Nas­sun ent­wi­ckeln (auf ihren unab­hän­gig von­ein­an­der statt­fin­den­den Ques­ten) unter­schied­li­che Vor­stel­lun­gen davon, was die rich­ti­ge Ant­wort auf die Kon­flik­te zwi­schen „Nor­ma­len“, Oro­ge­nen und Stein­es­sern sein könn­te, und wie mit dem aus der Bahn gera­te­nen Mond der Erde umzu­ge­hen ist. Erst im Fina­le begeg­nen sie sich – und zer­ren in unter­schied­li­che Rich­tun­gen. Mehr sei hier nicht ver­ra­ten, The Stone Sky ist jeden­falls ein ful­mi­nan­ter Abschluss einer ganz ande­ren Art von Sci­ence Fiction/Fantasy.

Kei­ne Fort­set­zung, auch wenn der Roman im sel­ben Uni­ver­sum wie ihre vor­he­ri­gen Bücher spielt, ist Ann Leckies Pro­ven­an­ce. Dadurch, dass dies­mal nicht die sehr anders wir­ken­den Rad­ch und deren AI im Mit­tel­punkt ste­hen (auch wenn die­se eben­so wie die kom­plett außer­ir­di­schen Geck am Ran­de auf­tau­chen), son­dern die für uns nähe­ren Bewohner*innen von Hwae, fand ich es ein­fa­cher, eine Bezie­hung zu den Haupt­per­so­nen auf­zu­bau­en. Es geht in Pro­ven­an­ce vor­der­grün­dig um Aben­teu­er mit Raum­schif­fen und auf unter­schied­li­chen Pla­ne­ten, mit­tel­grün­dig um poli­ti­sche Ver­wick­lun­gen und Macht­spie­le, und letzt­lich dar­um, wie Ingray Aughskold trotz des Drucks ihrer berühm­ten Adop­tiv­mut­ter Net­a­no Aughskold einen eige­nen Weg fin­det, sowas wie late coming of age also. In der Mischung sehr lesenswert.

Ganz anders Nico­la Grif­fiths Hild: ein his­to­ri­scher, sehr umfang­rei­cher Roman, der zur Zeit der Chris­tia­ni­sie­rung des angel­säch­si­schen Eng­lands spielt. Die Haupt­per­son Hild leb­te – so Grif­fith – tat­säch­lich, und wur­de ca. 614 als Toch­ter des Königs Here­ric von Dei­ra gebo­ren. Aus ihrem ech­ten Leben ken­nen wir nur Bruch­stü­cke – 627 wur­de sie getauft, 647 tritt sie in East Anglia eine Schiffs­rei­se nach Gal­li­en an. Grif­fiths Roman ist eine fik­ti­ve Bio­gra­phie von Hild, die der Fra­ge nach geht, wie aus den klei­nen, zer­strit­te­nen angel­säch­si­schen König­rei­chen tat­säch­li­che Staa­ten wur­den. Sie zeich­net Hilds Weg von ihrer Kind­heit über ihre „Ent­de­ckung“ als heid­ni­sche Sehe­rin und enge Bera­te­rin des Königs an einem der klei­nen Königs­hö­fe bis zum Auf­bau eines eige­nen Haus­halts am Ende vie­ler Schlach­ten (und nicht, wie in der Rea­li­tät, als Äbtis­sin eines Klos­ters). Das alles wohl rela­tiv nah an dem, was über das Leben im 7. Jahr­hun­dert bekannt war – und mit einem, wie mir scheint, dezi­diert femi­nis­ti­schen Blick auf die dama­li­gen Geschlech­ter­rol­len. Ich habe jeden­falls eini­ge gelernt – nicht nur über das begin­nen­de Mit­tel­al­ter, son­dern auch über die Geschich­te der eng­li­schen Spra­che, denn nor­man­ni­sche Lehn­wör­ter gibt es in die­sem Buch noch nicht. 

Eben­falls um klei­ne König­rei­che und eine Reichs­grün­dung geht es in Ken Lius The Grace of Kings – dies­mal aller­dings in einem fik­ti­ven süd­ost­asia­ti­schen Set­ting, dem Insel­reich Dara. Den Auf­stieg des trick­rei­chen Kuni Garus vom rebel­li­schen Tau­ge­nichts zum Kai­ser zu ver­fol­gen, ist durch­aus amü­sant; nicht zuletzt durch die immer wie­der dazwi­schen geschal­te­ten Inter­ven­tio­nen der Göt­ter und Göt­tin­nen Dar­as. Nicht die Chry­san­the­me, son­dern der zähe und viel­fach nütz­li­che Löwen­zahn ist das Leit­mo­tiv von Kuni Garu, und sei­ne Phi­lo­so­phie und sein Han­deln – mit allen Rück­schlä­gen und Erfol­gen – haben etwas von Till Eulen­spie­gel. Am Ende, nach vie­len Intri­gen und Ver­wick­lun­gen, ist Kuni Garu zwar Kai­ser – aber er steht auch vor gro­ßen Zwei­feln und einem Scher­ben­hau­fen sei­ner Inte­gri­tät. Lius Buch ist der ers­te Band einer Tri­lo­gie, aber eigent­lich kann sich im zwei­ten (der bereits erschie­nen ist), nur als Tra­gö­die wie­der­ho­len, was hier mehr oder weni­ger Far­ce war. Inso­fern weiß ich noch nicht, ob ich ihn lesen will.

Intri­gen­rei­che Poli­tik mit Thril­ler­ele­men­ten geht auch ohne König­rei­che, ja sogar ohne Natio­nal­staa­ten. Wenn es das Gen­re des „poli­ti­cal sci­ence fic­tion“ gäbe, wäre Mal­ka Older des­sen Haupt­ver­tre­te­rin. Sie hat jetzt mit Null Sta­tes die Fort­set­zung von Info­mo­cra­cy vor­ge­legt. Wäh­rend Info­mo­cra­cy sich auf das Innen­le­ben der Mikro­de­mo­kra­tie – eine in „Cen­tenals“, also jeweils 100.000 Wahl­be­rech­tig­te in einem geo­gra­fi­schen Bezirk, orga­ni­sier­te Welt – kon­zen­trier­te, wei­tet sich in Null Sta­tes der Blick – auf die Tran­si­ti­on von einer Super­mehr­heit zur ande­ren, die ganz und gar nicht rei­bungs­los ver­läuft, auf den Über­gang von Staa­ten und Frei­heits­be­we­gun­gen zu Cen­tenals – hier: im Sudan, im Kau­ka­sus – und vor allem auf die wei­ter bestehen­den, in ihrem Ein­fluss geschrumpf­ten Natio­nal­staa­ten, den weit­ge­hend ohne die all­ge­gen­wär­ti­ge Trans­pa­renz (und Über­wa­chung) durch die trans­na­tio­na­le Orga­ni­sa­ti­on „Infor­ma­ti­on“ aus­kom­men, „null sta­tes“ also. Ein Krieg zwi­schen Kir­gi­si­stan und Kasach­stan droht auf die angren­zen­den Cen­tenals über­zu­grei­fen, aber auch die Res­te Chi­nas und der Schweiz wer­den zum Teil des Plots. Glo­ba­li­sier­te poli­ti­sche Sci­ence Fic­tion mit viel Hin­ter­grund­wis­sen über das Innen­le­ben inter­na­tio­na­ler Orga­ni­sa­tio­nen – auf jeden Fall empfehlenswert!

Last but not least habe ich zur Abwechs­lung mal ein Buch auf deutsch gele­sen – Marc-Uwe Kling hat mit Qua­li­ty­Land eine bei­ßen­de Sati­re über unse­re zuneh­mend ver­netzt-kom­mer­zia­li­sier­te Gegen­wart geschrie­ben. In der nahen Zukunft ori­en­tiert sich Poli­tik an PR, und das Leben wird durch Likes und Matches bestimmt. Ich habe die „dunk­le Edi­ti­on“ gele­sen, aber auch die „hel­le“ soll emp­feh­lens­wert sein. Ich wür­de fünf von fünf Ster­nen dafür geben, und hof­fe, dass ich damit mein Ran­king erhal­ten kann, und nicht gesell­schaft­lich absinke. 

Kurz: Nachhaltigkeit, ins Digitale übertragen

Der Zusam­men­hang von Digi­ta­li­sie­rung und Nach­hal­tig­keit beschäf­tigt mich immer mal wie­der. Inter­es­siert beob­ach­te ich bei­spiels­wei­se, was die For­schungs­grup­pe Digi­ta­li­sie­rung und sozi­al-öko­lo­gi­sche Trans­for­ma­ti­on des IÖW treibt. 

Das The­ma lässt sich aber auch anders ange­hen. Mal­te Spitz, grü­ner Netz­po­li­ti­ker, hat nun ein Buch her­aus­ge­ge­ben, das den Titel Daten – das Öl des 21. Jahr­hun­derts? Nach­hal­tig­keit im digi­ta­len Zeit­al­ter trägt. Dabei geht es aller­dings nicht in ers­ter Linie um die Fra­ge, ob Digi­ta­li­sie­rung zu öko­lo­gi­scher und sozia­ler Nach­hal­tig­keit bei­tra­gen kann bzw. die­se gefähr­det. Viel­mehr nimmt Mal­te die belieb­te Meta­pher von den Daten als dem Öl des 21. Jahr­hun­derts als Aus­gangs­punkt, um der Fra­ge nach­zu­ge­hen, was sich struk­tu­rell von den Feh­lern und Erfol­gen der Poli­tik des 20. Jahr­hun­derts ler­nen lässt, um im 21. Jahr­hun­dert zu einem gene­ra­ti­ons­über­grei­fend sinn­vol­lem Umgang mit all­ge­gen­wär­ti­gen Daten und Digi­ta­li­sie­rung ins­ge­samt zu kommen.

Wer mehr dazu wis­sen will: Ich habe eine län­ge­re Rezen­si­on dazu geschrie­ben – die­se ist bei CARTA zu fin­den und kann dort gele­sen werden. 

Kurz: Digitalisierung grün gestalten

Die Flücht­lings­po­li­tik über­strahlt der­zeit alle ande­ren Poli­tik­fel­der, und das ist auch gut so. Trotz­dem gibt es noch ande­re wich­ti­ge The­men – bei­spiels­wei­se die Fra­ge, wie wir als Gesell­schaft den lau­fen­den Digi­ta­li­sie­rungs­trend gestal­ten wol­len. „Digi­ta­li­sie­rung“ ist mehr als „Netz­po­li­tik“. Es geht um Arbeit 4.0 und Indus­trie 4.0, um die Ver­än­de­rung der Bil­dung, um Glo­ba­li­sie­rung von Kom­mu­ni­ka­ti­on und Waren­strö­men – und nicht zuletzt auch um die Fra­ge, wie sich Öko­lo­gie, Nach­hal­tig­keit und mög­li­cher­wei­se sogar sowas wie Post­ka­pi­ta­lis­mus mit intel­li­gen­ten, ver­netz­ten und ver­teil­ten Sys­tem ver­bin­den las­sen können.

Des­we­gen war ich sofort begeis­tert, als Mal­te Spitz im Kreis der grü­nen Bun­des­ar­beits­ge­mein­schaf­ten vor einem guten Jahr vor­schlug, einen gemein­sa­men grü­nen Digi­ta­li­sie­rungs­kon­gress zu ver­an­stal­ten. Der fin­det – unter dem schö­nen Titel Wie pro­gram­mie­ren wir Zukunft? heu­te und mor­gen in Bie­le­feld statt. Das Pro­gramm kann sich sehen las­sen, und auch die ein­ge­la­de­nen Refe­ren­tin­nen und Refe­ren­ten ver­spre­chen Impul­se für inter­es­san­te und wich­ti­ge Debat­ten. Des­we­gen bin ich froh, dass die BAG Wis­sen­schaft, Hoch­schu­le, Tech­no­lo­gie­po­li­tik sich dafür ent­schie­den hat, bei die­sem Kon­gress mit­zu­ma­chen (unser Work­shop schaut sich an, wie Ler­nen und Leh­re an Hoch­schu­len sich in Zei­ten der Digi­ta­li­sie­rung ver­än­dern), und dass – nach diver­sen Bespre­chun­gen, Mail­wech­seln und Tele­fon­kon­fe­ren­zen, nach The­men- und Refe­ren­tin­nen­su­che – der #dk15 heu­te nach­mit­tag beginnt. Ich bin selbst­ver­ständ­lich dabei!

Wer nicht in Bie­le­feld sein kann: Es gibt zwar kei­nen Live­stream, aber einen Hash­tag. Zudem soll in den Foren und Work­shops der Debat­ten­ver­lauf per Ether­pad doku­men­tiert wer­den. Und auch mein Twit­terstream wird heu­te sicher­lich den einen oder ande­ren #dk15-Tweet enthalten ;-)

Kurz: Schlachtet das Wahlprogramm

Blood redSeit knapp einer Woche ist er online, der grü­ne Wahl­pro­gramm­ent­wurf. Und jetzt geht das gro­ße Schlach­ten los. BAGen und Par­tei­glie­de­run­gen dis­ku­tie­ren das Pro­gramm und schrei­ben flei­ßig Ände­rungs­an­trä­ge. Dead­line ist Anfang April, vom 26. bis zum 28. April fin­det der gro­ße Pro­gramm­par­tei­tag statt. Dazwi­schen tagt die Antrags­kom­mis­si­on und erstellt Ver­fah­rens­vor­schlä­ge. Der aller­größ­te Teil der beim letz­ten Mal mei­ner Erin­ne­rung nach 1500 Ände­rungs­an­trä­ge wird in die­sen Ver­fah­rens­vor­schlä­gen (modi­fi­ziert) über­nom­men oder für erle­digt erklärt. Nur ein klei­ner Teil kommt zur Abstim­mung auf dem Par­tei­tag. Den­noch sind die etwa 800 Dele­gier­ten drei Tage lang damit beschäf­tigt, das Wahl­pro­gramm zu dis­ku­tie­ren und abzustimmen.

Wir in der BAG Wis­sen­schaft, Hoch­schu­le, Tech­no­lo­gie­po­li­tik wer­den das am Sams­tag auch machen, das Stel­len von Ände­rungs­an­trä­gen. Denn der Antrag BTW-B-01 ist zwar gut, kann aber noch bes­ser werden.

Wer sich an der Schlacht ums Pro­gramm betei­li­gen will, und mit dar­über dis­ku­tie­ren will, was Bünd­nis 90/Die Grü­nen for­dern, und was mit etwas Glück dann auch in einem Koali­ti­ons­ver­trag lan­det, ist herz­lich ein­ge­la­den, Mit­glied zu wer­den. Und nicht zuletzt: Neben der Pro­gramm­de­bat­te wird es – eine Neue­rung in die­sem Jahr – im Som­mer auch eine Art dezen­tra­le Urwahl der Pro­gramm­schwer­punk­te geben.

P.S.: Über den Weg von der Idee ins Pro­gramm habe 2010 mal aus­führ­li­cher geschrie­ben. Dazu pas­sen auch mei­ne Noti­zen zum Dele­gier­ten­prin­zip und zum Zeit­be­darf der Demo­kra­tie.

Und zum aktu­el­len Pro­gramm kann ich noch auf unser Bun­des­vor­stands­mit­glied Mal­te Spitz ver­wei­sen, der in sei­nem Blog mal auf­lis­tet, was alles an Netz­po­li­tik im Pro­gramm­ent­wurf steckt.