Eigentlich ist die Koalitionssituation nach dieser Wahl so offen wie noch lange nicht. Aber die Welt spielt verrückt: Konservative Sozialdemokraten fordern zu Schwarz-Grün auf. Führende Realos und Realas sagen, dafür sei die Zeit noch nicht reif. Die dominierenden Figuren des linken Lagers bei uns halten dagegen die LINKE nicht für regierungsfähig – es sei deswegen nicht sinnvoll, die rechnerische Option Rot-Rot-Grün zu sondieren. Die LINKE wiederum scheint nicht ernsthaft an Koalitionsgesprächen Interesse zu haben. Neuwahlen wären auch eine Option – wenn jemand aus der Stimmenmehrheit von CDU/CSU, AFD und FDP auch eine Sitzmehrheit machen will. Aber alle zusammen gehen sie davon aus, dass es am Schluss selbstverständlich eine 80%-Koalition aus CDU/CSU und SPD geben wird, SPD-Basisvotum hin oder her. Wenn überhaupt, ist 2017 im Blick. Was insgesamt schade ist – weil fast alles andere, inklusive eine Minderheitsregierung Merkel, mehr bewegen würde als eine Große Koalition.
Parteitagshangover
Die Programm-BDK ist vorbei, ich sitze im Zug nach Hause, und noch hält das gute Gefühl an: Wir haben ein realistisches, links akzentuiertes Programm beschlossen. Bei einer Enthaltung, das ist fast noch besser als ein Durchwinken mit 100 Prozent. Wir könnten morgen anfangen, das umzusetzen, und das Land würde ein besseres werden. Deutschland erneuern: ja, genau dafür haben wir jetzt eine richtig gute Blaupause. Und Claudia, Winfried, Katrin, Jürgen und Steffi haben uns ebenso wie die gelungene Schlussinszenierung mitgegeben, dass es sich lohnt, zu kämpfen.
Das Glatteis der Mitregierung
Wie immer vor wichtigen Wahlen diskutieren wir Grüne heftig darüber, ob bestimmte Koalitionen ausgeschlossen werden dürfen oder nicht. Ein Argument hier finde ich spannend, weil es ziemlich rutschig ist. Das bringt hier Konstantin von Notz in die Debatte – aber er ist nicht der einzige:
Klingt erstmal plausibel. Es gibt eine Menge der möglichen Koalitionen K = {k1, k2, …}, und ein optimales Wahlergebnis für Grüne ist erreicht, wenn die Koalition aus der Menge K realisiert wird, die den größten „Nutzen“ fgrün(k) aufweist. fPartei(k) könnte daran gemessen werden, wie viele Vorhaben aus dem Wahlprogramm einer Partei sich im vermuteten Koalitionsvertrag wiederfinden. Klar:
fgrün(kCDU+GRÜNE) > fgrün(kCDU+SPD)
Fies daran ist: Aus dieser Perspektive ist höchstwahrscheinlich jede Koalition mit grüner Beteiligung besser als irgendeine mögliche Koalition ohne grüne Beteiligung – es sei denn, eine große Koalition oder rot-rot oder schwarz-gelb würde mehr grüne Projekte umsetzen als eine mögliche Koalition mit grüner Beteiligung.
Nun ist es allerding so, dass die ProponentInnenen der generellen Koalitionsoffenheit meistens keine Lust haben, fgrün(kGRÜNE+SPD+LINKE) zu berücksichtigen. Obwohl doch auch dort der Nutzen aus grüner Sicht höchstwahrscheinlich größer wäre als für z.B. fgrün(kCDU+FDP). Warum ist das so?
Vielleicht allein schon deswegen, weil die Nutzenfunktion f ziemlich naiv ist (und weil Politik nur begrenzt rational funktioniert, aber das ist eine andere Debatte). Eine nicht naive Nutzenfunktion müsste z.B. auch berücksichtigen, wie groß der Glaubwürdigkeits- oder Grundwertsverstoßfaktor ggrün(k) ist. Und für einige wäre eine Regierungsbeteiligung der Linkspartei hier ein großer negativer Effekt.
Anders gesagt: Zieht eine Koalition, die zunächst einmal positive Effekte bringt, auf der anderen Seite Konsequenzen nach sich, die ganz und gar nicht gewollt sind?
Selbst die kGRÜN+SPD hier in Baden-Württemberg schneidet beim Blick auf ggrün(kGRÜN+SPD) nicht nur positiv ab – schließlich gehört auch die Innenpolitik des SPD-Innenministers Gall und die Verkehrspolitik der SPD-Fraktionsvorsitzenden Schmiedel zum Gesamttableau. Und dann, da wird mir die Mathematik aber zu kompliziert, gibt es noch Effekte zweiter Ordnung mit mittel- bis langfristigen Folgen. Wählerbindung, Stärkung oder Schwächung der Konkurrenz, Nutzenfunktionen anderer Parteien, die diese wiederum in ihre strategischen Überlegungen einbeziehen, …
Letztlich ist der Nutzen einer Koalition damit eher …
ugrün(k) = a*fgrün(k) + b*ggrün(k) + c*zgrün(fgrün, fSPD, fCDU, … ggrün, … zSPD( …), … x, y )
… und danach sollten wir die Menge K bewerten, nicht alleine nach Schema f.
Warum blogge ich das? Ich bin überhaupt nicht davon überzeugt, dass der Nutzen bestimmter Koalitionen sich mathematisch fassen lässt. Insofern keine Sorge, ganz ernst ist dieser Blogbeitrag nicht gemeint. Ernst ist es mir allerdings damit, dass wir mögliche Koalitionen nicht nur danach beurteilen sollten, ob wir Grüne etwas positives verändern können, sondern auch danach, was eine Koalition langfristig mit uns macht, und welchen Nutzen andere davon haben.
Die Selbstblockade verhindern – aber richtig
Die Bundestagswahl 2009 steht kurz bevor. Jedenfalls ist es ein leichtes, diesen Eindruck zu gewinnen, auch wenn’s noch über ein Jahr hin ist bis zum Wahltag.
Was allerdings jetzt schon heftig geschieht, ist das Modifizieren des Optionsraums für die Zeit nach der Wahl. Und zwar sowohl personell (SPD) als auch rhetorisch. Ein besonders interessantes Beispiel für letzteres ist der Kommentar von Altstaatsmann Fischer in der ZEIT ONLINE. Er macht das zwar um einiges besser als Altstaatsmann Schmidt mit seinem Nazivergleich (oder Kretschmann, der unheimliche Konservative), aber trotzdem – das einzige, was an diesem Kommentar 100%-ig stimmt, ist die Überschrift. Die ich mir mal entliehen habe. Die heißt nämlich „Die Selbstblockade verhindern“.
Was versteht Joschka Fischer darunter?
Beide Parteien [SPD und CDU] werden 2009 ohne eine verbindliche Koalitionsaussage antreten und stattdessen nur noch Prioritäten beschließen: Rot-Grün und Schwarz-Gelb. Diese Optionen werden zwar immer unwahrscheinlicher, ersparen den Parteiführungen jedoch gefährliche Richtungsdebatten zur Unzeit. Die Koalitionsoptionen Nr. 2 sind bisher auf Bundesebene unbekannte Dreierkonstellationen: Ampel, Jamaika oder Rot-Rot-Grün.
Diese drei Dreierkonstellationen reduziert Fischer dann Schritt für Schritt. Erst wird Rot-Rot-Grün eliminiert (dazu gleich noch mehr), dann entfällt mit Verweis auf die „Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat“ als Hauptargument die rot-grün-gelbe Ampel, und so bleibt schließlich nur noch „Jamaika“, als schwarz-gelb-grün. Aus Fischers Perspektive heißt „Die Selbstblockade verhindern“ also: sich auf eine Minderheitenrolle in einer konservativ-wirtschaftsliberalen Koalitionen vorbereiten. Oder zumindest, eine intensive Zusammenarbeit mit der FDP vorzubereiten, wie sie Guido Westerwelle gerade abgelehnt hat.
Die Idee, dass in einem Fünfparteiensystem die Alternative zur großen Koalition nicht einfach rot-grün heißen kann, und dass es möglich sein muss, bei Vorliegen einer genügend großen Schnittmenge auch über Koalitionen mit demokratischen Parteien des konservativ-wirtschaftsliberalen Spektrums nachzudenken, ist ja so blöd nicht. Insofern stimmt ich Fischer zu, dass es richtig ist, den Möglichkeitsraum nach der Wahl jetzt so zu gestalten, dass nicht durch selbstgesetzte Zwänge sinnvolle Politikoptionen verschwinden. Das beste Beispiel dafür ist allerdings nicht Hamburg (da wurde dann halt schlicht der im Wahlkampf vorgenommene Ausschluss schwarz-grüner Optionen nach der Wahl ignoriert), sondern Hessen und die seltsame Lage, in der sich die eventuelle Ministerpräsidentin Ypsilanti dort befindet.
Wenn ich jetzt nicht noch anderes zu tun hätte, würde ich an dieser Stelle ja noch etwas Böses zur SPD schreiben („Intrigenstadel auf dem Tanker“ oder so), das lasse ich aber. Aus Zeitgründen.
Was jedoch festzuhalten bleibt: das größte Hindernis für eine rot-rot-grüne Option nach der Bundestagswahl in einem Jahr ist derzeit die SPD. Was ja auch so seine Geschichte hat. Kommen wir also zurück zur Frage, wie Joschka Fischer diese Koalitionsoption ausschließt. Er macht das nämlich so:
Letzteres [Rot-Rot-Grün] wird man 2009 wohl ausschließen müssen, da die Linkspartei in entscheidenden inhaltlichen Fragen der Bundespolitik (noch?) nicht regierungsfähig ist.
Hinter diesem schlichten Satz steckt jetzt einiges. Erstens fällt das „man“ auf – nicht Joschka oder die Vorsitzenden der Parteien oder die WählerInnen. Der Ausschluss erfolgt im Stile des Sachzwangs: „man wird wohl ausschließen müssen“. Und warum? Die Linkspartei ist „in entscheidenden inhaltlichen Fragen“ „nicht regierungsfähig“. Wenn ich mir anschaue, wie die Linkspartei in den Ländern agiert, kann damit nicht der fehlende Populismus gemeint sein. Ich vermute, dass sich hinter den Inhalten, die Joschka zur Selbstblockade Richtung links zwingen, eher Themen verbergen wie der Wunsch nach einer sinnvollen sozialen Absicherung statt Hartz-IV, möglicherweise auch gewerkschaftlich favorisierte Beschäftigungsprogramme, die Rücknahme von Privatisierungen (wann folgt die Ex-Bundesbahn der Bundesdruckerei) und natürlich vor allem die Außenpolitik, die in der Linkspartei wohl noch mehrheitsfähig nicht militärisch stattfindet.
Wenn meine Vermutung stimmt, dass dies die Themen sind, mit denen Joschka eine Rot-Rot-Grüne Koalitionsoption inhaltlich ausschließt, dann steckt hinter diesem schlichten Satz noch etwas anderes: nämlich die Einschätzung, dass ein Drittel bis die Hälfte der Grünen-Mitglieder (und der WählerInnen von Bündnis 90/Die Grünen) ebenfalls nicht regierungsfähig sind: eine große Minderheit will ein Grundeinkommen, eine geschätzte Mehrheit hält nicht viel vom fortgesetzten Abbau des Sozialstaats, selbst offizielle Fraktionssprecher haben sich gegen Privatisierungen ausgesprochen, und Krieg und Frieden ist noch immer das heiße Thema jeder grünen Mitgliederversammlung und jeder zweiten BDK.
Das also sind die Punkte, die Fischer – und mit ihm wohl auch andere Realos und Realas – in den Raum stellen, wenn sie Rot-Rot-Grün unmöglich reden wollen. Die Atompolitik der CDU, die Wirtschaftsvergötterung der FDP, die Kohlepolitik der SPD – all das spielt dann keine Rolle. Ein derartiger Ansatz kann aber m.E. nur zur Selbstblockade führen, nämlich zum Ausschluss jeglicher Koalitionsoption. Besser finde ich es da schon, zu sagen, was wir inhaltlich wollen, wie es der letzte Länderrat getan hat, und dann abzuwarten, welches Bündnis sich als inhaltlich passend erweist.
Optimistisch bin ich allerdings dennoch nicht. Weniger wegen der fehlenden inhaltlichen Übereinstimmungen, sondern eher deswegen, weil, wie einleitend bemerkt, interessierte Kräfte jetzt schon alles tun, um den Möglichkeitsraum einzuschränken. Wenn es tatsächlich für Rot-Grün keine eigene Mehrheit gibt (was wahrscheinlich ist), dann wird es vermutlich keine Dreierkonstellation geben, die nicht schon vor der Wahl ausgeschlossen worden ist. Westerwelles FDP will keine Ampel, die SPD hat große Angst vor dem Scheinriesen Linkspartei, und weigert sich, dem ehemaligen SPD-Politiker Lafontaine auch nur den kleinen Finger zu reichen (ob er, wenn er mit den selben Positionen in der SPD geblieben wäre, ebenso schwarz gemalt würde?), die CDU kann nur Montags mit den Grünen, und wir selbst sind derzeit vor allem eins: in alle Richtungen wenig wagemutig.
Die Wahrscheinlichkeit einer Fortsetzung der großen Koalition unter Kanzlerin Merkel (mit Vizekanzlerkandidat Steinmeier) ist damit, bei Lichte betrachtet, hoch. Es sei denn, es wird jetzt an sehr vielen Stellen damit angefangen, über Schatten zu springen – aber bitte nicht nur nach rechts!
Warum blogge ich das? Ab und zu muss ein Blick auf Koalitionsoptionen sein, um dem Anspruch gerecht zu werden, ein politisches Blog zu sein, oder?
Kurzeintrag: Hessenwahl
Hessen bleibt spannend, aber aus links-grüner Perspektive stellt sich doch vor allem die Frage, „Wie lange will sich die Sozialdemokratie noch in einer Koalition mit den Christdemokraten quälen, wenn es doch eine Mehrheit für eine progressive Politik gibt?“. Nachdem die FDP offensichtlich nicht regieren will, frage ich mich das auch, und meine: gerade im ja doch grün gesehen sehr realpolitischen Hessen wäre rot-rot-grün ein interessantes Experiment. Von mir aus auch – vgl. Geschichte der Grünen – als Lafontaine-Cohn-Benditsche Duldung.