Klimastreik und Klimawahl

#AlleFuersKlima Freiburg 24.09.2021

Dass in Deutsch­land mehr als eine hal­be Mil­li­on Men­schen – vie­le jun­ge Men­schen, aber auch vie­le Älte­re – ges­tern auf die Stra­ße gegan­gen sind, ist ermu­ti­gend. Zugleich macht es noch ein­mal deut­lich, das Timing des Kli­ma­streiks war kein Zufall, dass es bei der Wahl mor­gen um etwas geht. Kli­ma ist kein The­ma wie jedes ande­re, son­dern hat eine exis­ten­zi­el­le Dimen­si­on. Akti­en­kur­se, Arbeits­plät­ze oder auch nur der Park­platz fürs Auto: all das hängt an einer Vor­aus­set­zung, die wir Men­schen durch­aus beein­flus­sen kön­nen. Wer den Kli­ma­wan­del nicht ein­dämmt, wer kei­ne Lösung für die Kli­ma­kri­se angeht, zer­stört zukünf­ti­ge Frei­heit. Und jedes Stark­re­gen­er­eig­nis, jeder tro­cke­ne Som­mer macht deut­lich, dass die­se Zukunft schon hier ist, und dass die Kli­ma­kri­se nicht irgend­wo in der räum­li­chen oder zeit­li­chen Fer­ne ablau­fen wird, son­dern in unse­rem Wohnzimmer.

Das inhalt­li­che Spek­trum der Kli­ma­streiks ist weit gefasst. Zwi­schen „sys­tem chan­ge, not cli­ma­te chan­ge“ und „go vegan“ lie­gen Wel­ten. Gemein­sam ist all denen, die ges­tern auf die Stra­ße gegan­gen sind, dass das Han­deln der Poli­tik nicht als aus­rei­chend ange­se­hen wird.

Am Sonn­tag ist Wahl. Inzwi­schen dringt die umwelt­so­zi­al­wis­sen­schaft­lich alte Erkennt­nis ins Licht der Öffent­lich­keit, dass nach­hal­ti­ge Kon­sum­entschei­dun­gen, gar ein öko­lo­gisch ori­en­tier­ter Lebens­stil zwar indi­vi­du­ell erfreu­en mögen, und mit dem Gefühl ver­bun­den sind, etwas Gutes zu tun, aber dass der eigent­li­che Hebel eben nicht die Konsument*innen sind, son­dern die Infra­struk­tu­ren und Rah­men­be­din­gun­gen, unter denen wir leben, wirt­schaf­ten und arbei­ten. Der grö­ße­re Teil des „indi­vi­du­el­len Fuß­ab­drucks“ hängt davon ab, wie ein Land sei­ne Ver­kehrs- und Ener­gie­po­li­tik gestal­tet, wel­che Art von Wohn­raum ange­bo­ten wird, ob emis­si­ons­freie Mobi­li­tät ange­bo­ten wird und wie genau in der Land­wirt­schaft auf Treib­haus­gas­emis­sio­nen geach­tet wird.

Viel wich­ti­ger, ob der eige­ne Lebens­stil aus Steaks und Las­ten­rä­dern oder aus vege­ta­ri­schen Genüs­sen bei voll aus­ge­stat­te­ter 24/7‑Heimelektronik besteht, ist des­we­gen die Ent­schei­dung, die mor­gen ansteht. Denn wenn die Flos­kel von der Macht der Verbraucher*innen wahr ist, dann am Wahl­tag. Wer im Ange­sichts der exis­ten­zi­el­len Kli­ma­kri­se bes­ser regiert wer­den will, kann dafür mor­gen sei­ne Stim­me abge­ben und damit beein­flus­sen, wie die Infra­struk­tu­ren und poli­ti­schen Rah­men­be­din­gun­gen in Deutsch­land in den ent­schei­den­den nächs­ten Jah­ren aus­se­hen werden. 

Vie­le haben das schon getan. Wer noch unschlüs­sig ist, dem emp­feh­le ich, grün zu wäh­len. Nicht, weil unser Kli­ma­pro­gramm per­fekt ist, son­dern weil es – das jeden­falls das Ergeb­nis einer Stu­die des DIW im Auf­trag der Stif­tung Kli­ma­neu­tra­li­tät – am nächs­ten an das her­an­kommt, was not­wen­dig wäre, um auf den 1,5‑Grad-Pfad zu kom­men. Des­we­gen ist es wich­tig, dass der nächs­ten Bun­des­re­gie­rung star­ke Grü­ne ange­hö­ren. Und des­we­gen ist es wich­tig, kei­ne Kleinst­par­tei zu wäh­len und sich auch nicht auf tak­ti­sche Ver­äs­te­lun­gen ein­zu­las­sen. Wer Kli­ma­schutz, wer star­ke Grü­ne in der Regie­rung haben möch­te, muss grün wählen.

Gleich­zei­tig ist schon jetzt klar, dass das nicht rei­chen wird. Auch wenn das grü­ne Kli­ma­schutz­so­fort­pro­gramm in mög­li­chen Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen zu ein­hun­dert Pro­zent umge­setzt wür­de, reicht das nicht aus. Daher ist es umso wich­ti­ger, dass ges­tern noch ein­mal deut­lich gemacht wur­de, dass die jun­ge Gene­ra­ti­on – vie­le, die noch nicht wahl­be­rech­tigt sind – nicht auf­hö­ren wer­den, ein­zu­for­dern, dass der Kampf gegen die Kli­ma­kri­se höchs­te Prio­ri­tät bekommt. Die­ser Druck wird wei­ter not­wen­dig sein, um Rah­men­be­din­gun­gen zu schaf­fen, in denen ein gutes Leben in Zukunft mög­lich sein wird.

Kurz: Ein Land, noch nicht bereit

Ges­tern dann also das zwei­te „Tri­ell“ zwi­schen Baer­bock, Scholz und Laschet. Habe viel dazu get­wit­tert. Auf­fäl­lig: schlecht vor­be­rei­te­te und schlecht abge­stimm­te Mode­ra­ti­on, die kein gutes Bild auf „Nach­rich­ten“ als Kern­kom­pe­tenz der öffent­lich-recht­li­chen Sen­der wirft. Eine hal­be Stun­de mit unsin­ni­gen Koali­ti­ons­fra­gen ver­bracht. Und die Diskutant:innen? Das Meme, das Laschet und Scholz als Lori­ots Bade­wan­nen-Her­ren zeigt, passt. Anna­le­na Baer­bock dazwi­schen – kom­pe­tent, sach­lich, auf den Punkt, empa­thisch und lebens­nah. Was dann aber lei­der zu oft unter­ging zwi­schen „Las­sen Sie sofort das Bade­was­ser ab!“ und „An ihrer Fra­ge merkt man, wie sehr sie unehr­lich sind!“. 

Am Schluss kopie­ren Laschet und Scholz Baer­bocks Move und tre­ten vor das Rede­pult. Bei den Inhal­ten sieht’s dage­gen düs­ter aus. Laschet will Ver­trau­en ver­kör­pern. Scholz steht für den mode­ra­ten Weg, also bloß kei­ne Ver­än­de­rung. Baer­bock bringt es dage­gen auf den Punkt: „Unse­re Kin­der und Enkel sol­len uns nicht fra­gen: War­um habt ihr nichts getan? Son­dern: Wie habt ihr das geschafft?“

Soweit mal als kur­zer Ein­druck. Zum Mis­match zwi­schen Kom­pe­tenz und Kom­pe­tenz­zu­schrei­bung und auch zu der einen oder ande­ren Ungleich­be­hand­lung durch die Moderator:innen wür­de ich gern eine Gen­der-Stu­dies-Abhand­lung lesen. Mein Ein­druck: in zu vie­len Köp­fen weckt „älte­rer Herr mit Anzug und Kra­wat­te“ noch eine Kom­pe­tenz­zu­schrei­bung, die fak­tisch gar nicht erfüllt wer­den muss, um zu wir­ken. Dage­gen und gegen ein in den letz­ten Mona­ten ver­fes­tig­tes Bild muss­te Anna­le­na Baer­bock ankämp­fen. Bei der Alters­grup­pe bis Mit­te 30, Anfang 40 klappt das. Bei den älte­ren Jahr­gän­gen wird’s schwie­rig. Inter­es­sant dazu auch die­ser Bericht der BZ (hin­ter der Paywall).

Für alles wei­te­re emp­feh­le ich Ulrich Schul­te in der taz, der das glei­che Tri­ell gese­hen hat wie ich. Und deut­lich dar­auf hin­weist, dass Deutsch­land Mode­ra­ti­on und Aus­hand­lung super fin­det, dass das der Phy­sik aber egal ist.

Kurz: Politik des Existenziellen

Vor ein paar Tagen hat jemand auf Twit­ter ele­gant zwi­schen den­je­ni­gen unter­schie­den, für die die Kli­ma­kri­se eine exis­ten­zi­el­le Fra­ge ist, und den­je­ni­gen, die dar­in ein The­ma unter vie­len sehen. Jetzt fin­de ich den Tweet nicht mehr, sonst wür­de ich ihn hier zitie­ren. Denn die­se Unter­schei­dung erscheint mir sehr sinn­voll zu sein – gera­de auch im Hin­blick auf die Bun­des­tags­wahl. Und die Bil­der aus Stutt­gart, Tübin­gen und Reut­lin­gen – und jetzt, noch ein­mal hef­ti­ger, aus Rhein­land-Pfalz und Nord­rhein-West­fa­len, machen sehr deut­lich, was Kli­ma­kri­se als exis­ten­zi­el­le Fra­ge bedeu­tet. Mal ganz zu schwei­gen von Rekord­tem­pe­ra­tu­ren und Wald­brän­den in ande­ren Tei­len der Welt.

Und mög­li­cher­wei­se ist das tat­säch­lich, wenn sich jetzt nicht noch ein Sin­nes­wan­del bei der Uni­on und der FDP ein­stellt, das zen­tra­le Unter­schei­dungs­merk­mal für die Wahl­ent­schei­dung bei die­ser Bun­des­tags­wahl. Wer nicht ver­steht, war­um „Kli­ma plötz­lich ein The­ma ist“, wer glaubt, alles kön­ne so blei­ben, der wählt Uni­on oder FDP, und wird dann bit­ter über­rascht wer­den. Wer Kli­ma als Exis­tenz­fra­ge begreift, als Kri­se, bei der zu Han­deln nicht „nice to have“ ist, son­dern im Wort­sin­ne über­le­bens­wich­tig, der wählt ver­mut­lich Grün.

Damit will ich nicht sagen, dass das grü­ne Wahl­pro­gramm eine kom­plet­te Ant­wort auf die­se exis­ten­zi­el­le Fra­ge ent­hält – wohl aber Tei­le der Lösung, ein­zel­ne Puz­zle­stü­cke – und vor allem eben das über­grei­fen­de Ver­ständ­nis dafür, dass es hier um eine Über­le­bens­fra­ge geht, bei der jetzt gehan­delt wer­den muss. Jetzt, nicht irgend­wann, oder wenn es gera­de passt, oder wenn es nicht zu teu­er oder zu unbe­quem ist. Viel­leicht ist es gera­de das Merk­mal einer Kri­se, dass Ent­schei­dun­gen und poli­ti­sche Maß­nah­men not­wen­dig und den­noch unbe­quem und zumu­tend sind. Und dar­um geht es bei die­ser Wahl. 

Wellenbewegungen

Was ich immer wie­der fas­zi­nie­rend fin­de, ist das Pen­del der öffent­li­chen Auf­merk­sam­keit. Das erzeugt näm­lich durch sein Hin- und Her­schwin­gen eine Wel­len­be­we­gung (sie­he auch „Nach­rich­ten­zy­klus“ oder – in einem ande­ren Zeit­maß­stab – „Gart­ner-Hype-Zyklus“). Irgend­et­was ist neu und inter­es­sant, dann bekannt und nicht mehr span­nend, jetzt ist das Gegen­teil oder die pro­ble­ma­ti­sche Sei­te dar­an neu und inter­es­sant, auch das Inter­es­se dar­an ist irgend­wann gesät­tigt usw. Die­ses Hin- und Her­schwin­gen ergibt kei­ne schö­ne Sinus­wel­le, son­dern etwas chao­ti­sche­res, vor allem auch des­we­gen, weil sich Wel­len ver­schie­de­ner Fre­quenz über­la­gern und weil es ja auch lang­fris­ti­ge Ent­wick­lun­gen gibt. Aber so als Bild passt es ganz gut.

Bei­spiel 1: beim pol­ly­tix-Wahl­trend auf einen Zeit­raum von zehn Jah­ren auf­blen­den, ergibt fol­gen­des Bild:

Mit etwas Fan­ta­sie ist hier das Auf und Ab der Wel­len­käm­me und Wel­len­tä­ler etwa der grü­nen Umfra­ge­wer­te zu sehen. Aktu­ell ist es neu und inter­es­sant, gegen das als vor­herr­schend ange­nom­me­ne Bild „Anna­le­na Baer­bock ist ein fri­sches Ange­bot – sie könn­te tat­säch­lich Kanz­le­rin wer­den“ anzu­schrei­ben. Ich ver­mu­te: nicht ein­mal unbe­dingt aus einer poli­ti­schen Agen­da her­aus (und sicher­lich auch nicht ohne den einen oder ande­ren eige­nen Fett­napf der Par­tei), son­dern schlicht, weil das etwas ist, was nicht auf eine gesät­tig­te Auf­merk­sam­keit trifft.

Bei­spiel 2: Auch das Inter­es­se etwa am The­ma Kli­ma­schutz folgt einer – län­ger­fris­ti­gen Wel­len­be­we­gung. Schön zu sehen ist das in den Google-Trends:

Im März 2007 war das (mit dem Indi­ka­tor „Goog­le-Such­an­fra­gen“) gemes­se­ne Inter­es­se an „Kli­ma­wan­del“ schon ein­mal fast so hoch wie im Sep­tem­ber 2019. 2019: Gre­ta Thun­berg, Fri­days for Future. Klei­ne Aus­schlä­ge gibt es Ende 2009 und Ende 2015. 2015 ist das Pari­ser Kli­ma­ab­kom­men, und auch die ande­ren klei­ne­ren Aus­schlä­ge dürf­ten mit Kli­ma­kon­fe­ren­zen zu tun haben. Im Febru­ar 2007 erschien ein Welt­kli­ma­be­richt, der (eben­falls in Paris) vor­ge­stellt und medi­al breit auf­ge­nom­men wurde.

Ich befürch­te, dass sich auch in den Jahr­zehn­ten davor immer wie­der ähn­li­che Aus­schlä­ge fin­den las­sen wür­den – 1992 Rio, 1997 Kyo­to, bei­spiels­wei­se. (Und schon 1989 gab es ein Taschen­buch aus dem Öko-Insti­tut, Ozon­loch und Treib­haus­ef­fekt

Das lässt sich auch empi­risch über­prü­fen – Goog­le Ngram durch­sucht Bücher. Und da ergibt sich bei der Suche nach „Kli­ma­wan­del“ und „Kli­ma­schutz“ fol­gen­des Bild:

Ein ers­ter klei­ner Wel­len­kamm 1960, dann 1990, 1994, 1998, 2002 … (also immer mit etwas Zeit­ver­zug hin­ter den Konferenzen …). 

Bei­spiel 3: Blei­ben wir bei Goog­le Ngram – und fügen noch „Umwelt­schutz“, „Natur­schutz“ und „Nach­hal­tig­keit“ hin­zu. Auch hier las­sen sich deut­li­che Wel­len sehen. Das Inter­es­se an Umwelt­schutz oder an Nach­hal­tig­keit scheint eben­falls einer Auf­merk­sam­keits­kur­ve zu fol­gen, bzw. sta­bi­li­siert sich dann nach Hype und Rück­gang auf einem höhe­ren Niveau. 

(Ich habe mir das vor eini­ger Zeit auch mal für die umwelt­so­zio­lo­gi­sche Fach­li­te­ra­tur ange­schaut, bezo­gen auf alle sozio­lo­gi­schen Ver­öf­fent­li­chun­gen in einer der Fach­da­ten­ban­ken, und auch das ergibt ein ähn­li­ches Bild mit kla­ren „Moden“ – irgend­wann ist das The­ma Umwelt neu und span­nend, und irgend­wann dann sozio­lo­gisch nicht mehr inter­es­sant, bis mit Nach­hal­tig­keit ein neu­er Aspekt dazukommt …).

Pro­blem bei die­sen Auf­merk­sam­keits­wel­len: die Kli­ma­kri­se (oder auch ande­re Umwelt­pro­ble­me) gehen nicht weg, wenn sie unin­ter­es­sant gewor­den sind. Aber sie sind auch nicht dafür geeig­net, stän­dig neu­es Inter­es­se und stän­dig neue Auf­merk­sam­keit zu pro­du­zie­ren, bzw. wenn sie anfan­gen, das zu tun, ist es zu spät. Die gro­ße Fra­ge ist also, wie die­se exis­ten­zi­el­len The­men oben auf der Agen­da blei­ben kön­nen, auch wenn sie immer mal wie­der aus dem Blick­punkt der Öffent­lich­keit weg­rut­schen (und dann immer wie­der neu erklärt wer­den muss, war­um das Pro­blem immer noch da ist …). Eine wirk­lich gute Ant­wort dar­auf habe ich nicht – aber den vor­sich­ti­gen Opti­mis­mus, dass es sich eben nicht um Sinus­wel­len han­delt, die gleich­mä­ßig hin- und her­schwap­pen. Viel­mehr nimmt die Höhe der Wel­len­tä­ler zu – die Abwärts­be­we­gun­gen gehen nicht bis Null, es kommt zu einer Art Pla­teau­bil­dung. Und dar­auf lässt sich dann aufbauen.

… sich zu radikalisieren

Anläs­se, sich zu radi­ka­li­sie­ren, gäbe es einige. 

Die Kli­ma­kri­se ist eine exis­ten­zi­el­le Bedro­hung. Ganz ähn­lich sieht es mit dem Arten­ster­ben aus. Hier weit­rei­chen­de For­de­run­gen zu erhe­ben und wenig Spiel­raum für Kom­pro­mis­se zu sehen – so wür­de ich eine radi­ka­le poli­ti­sche Hal­tung im Sin­ne Habecks „radi­kal und rea­lis­tisch“ beschrei­ben – erscheint mir sehr nach­voll­zieh­bar. (Und natür­lich lässt sich das her­un­ter­bre­chen auf loka­le Anläs­se, Wäl­der, die abge­holzt wer­den sol­len und der­glei­chen mehr.)
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