Ende Dezember, frühlingshaftes Wetter, ein Spaziergang durch Gundelfingen und Wildtal. Und erst in Schwarzweiß erschließen sich die Kontraste, die dieses zerfallende Gewächshaus mit seiner Umgebung eingeht.
Mehr so meh
Im Rückblick ist 2023 definitiv kein besonders gelungenes Jahr, „meh“ trifft es ganz gut.
Also, privat war soweit alles ok, ich habe mich nach mehr als einem Jahrzehnt Arbeit in der Fraktion endlich mal drum gekümmert, eine Wohnung in der Nähe von Stuttgart – in Esslingen – zu finden (und bin jetzt auch mit dem ganzen Umziehen, Entrümpeln, Streichen, Wohnungsübergeben fertig). Gleichzeitig bringe ich mich intensiver in die Ortspolitik hier in Gundelfingen ein. Die Kinder gedeihen und werden groß, den Katzen geht’s gut. Das Science-Fiction-Jahr war interessant und unterhaltsam. Corona (nach drei Jahren ohne) hätte mich jetzt nicht erwischen müssen.
Je weiter rausgezoomt wird, desto nerviger erscheint mir 2023. Bürgerentscheid zur Straßenbahn verloren. Meine Partei wird im Land und Bund von allen Seiten angefeindet. Die Ampel-Regierung schlittert mehr so dahin, überzeugt jedenfalls nicht. Die AfD glaubt, sie sei die Wiedergeburt einer nationalen Volkspartei, die Bauern und Bäuerinnen greifen zu Protestformen aus den 1920er Jahren (und imaginieren sich in den Bauernkrieg zurück). Die Bundes-CDU zerschmettert mal eben die Grundlage für Investitionen und will von einer Reform der Schuldenbremse nichts wissen. Und die Landes-CDU wäre eigentlich lieber kraftvolle Opposition statt Regierungspartner (naja, noch lieber würde sie den Ministerpräsidenten stellen …). Alles eher Gegenwind, alles nichts, was Freude bereitet. Und von der Ukraine oder Israel, von der Diktatur in Russland oder der gefährdeten Demokratie in den USA oder von den diesjährigen Klimaextremen rede ich erst gar nicht.
Über diese allgemein schwierige Lage lassen sich dann leicht die Pflanzen der Hoffnung übersehen, die kräftig wachsen. Der Atomausstieg hat nicht zum Kohlerevival geführt, sondern den Weg für Windstrom freigemacht. Die Ausbauziele bei Photovoltaik werden 2023 übererfüllt. Da bewegt sich viel, im Moment wirkt es jedenfalls so, als wäre allein aufgrund der Wirtschaftlichkeit die Weiche gestellt für eine rapide grüner werdende Energie aus erneuerbaren Quellen und mit Batteriespeichern. Und auch das Deutschlandticket ist ein richtig großer Reformschritt (über die Bahn und deren Infrastruktur reden wir jetzt lieber nicht). Oder, international betrachtet: der Sieg der demokratischen Kräfte in Polen – auch das gibt Hoffnung.
Wir haben 2023 gelernt, dass Musk ein fieser Typ ist, dass die Haltung zu Israel und Palästina zwischen der internationalen und der deutschen Linken (inkl. Klimabewegung) sehr unterschiedlich ist, dass Merz zurück in die 1990er, 1980er oder 1950er möchte und dass lineares Fernsehen weitgehend tot ist. Cory Doctorow hat den Begriff „enshitification“ geprägt, um zu erklären, warum Internetplattformen dazu neigen, nach einiger Zeit unbenutzbar zu werden. Wie wir mit sozialen Medien umgehen wollen, wissen wir auch 2023 noch nicht wirklich. Mastodon hat sich als nette, ruhige Ecke und technische Grundlageninfrastruktur entpuppt, die aber genau deswegen nicht hype-tauglich ist. Ach ja: und 2023 war das Jahr, in der die diskursive Leittechnologie „KI“ hieß. Einerseits, weil ChatGPT & Co. tatsächlich eindrucksvoll gezeigt haben, dass sie plausibel wirkende Texte und Bilder generieren können (als ob …), andererseits, weil überall, wo letztes Jahr „Blockchain“ drangeschrieben wurde, jetzt „KI“ dransteht. Und damit ist dann nicht immer ein LLM oder ähnliches gemeint, sondern manchmal ein ganz schlichter Algorithmus.
Prognose für 2024: der KI-Hype wird abflauen, weil das mit dem Geldverdienen nicht so richtig klappt. Vorher aber wird er weiter dazu beitragen, Suchergebnisse unbrauchbar zu machen und die Welt mit den typischen superpositiven Fünfsatzabsätzen zu überfluten. Auch 2024 wird nicht das Jahr, in dem Virtuelle Realität oder autonom fahrende Autos ihren Durchbruch feiern werden (siehe auch: Musk als fieser Typ, siehe auch: schummeln). Die Kommunal- und Europawahl im Juni 2024 wird nicht großartig, aber ok. Die Ampel wird trotz FDP-Mitgliederbefragung weitermachen. Die Landtagswahlen im Osten werden katastrophal ausgehen, wenn nicht vorher noch was passiert. Eine Prognose dazu, wie es in den USA weitergeht, wage ich nicht. Und Viren, der Klimawandel und ähnliche Dinge machen das, was sie auch in den letzten Jahren getan haben: sie folgen Naturgesetzen und nicht diskursiven Hochs und Tiefs. Was leider keine gute Nachricht ist.
Sina Trinkwalder spricht von den Geburtswehen eines neuen Zeitalters. Hoffen wir, dass das eine zutreffende Beschreibung unserer Zeit ist.
Photo of the week: Rebberg, Gundelfingen
Wegen Umzug und diversen Parteisachen komme ich leider gerade überhaupt nicht dazu, mir mal den Fotoapparat zu schnappen und spazieren zu gehen (wobei ehrlicherweise die meisten der letzten Tage auch eher grau und wenig einladend aussahen). Einzige Ausnahme war Sonntag vor einer Woche – beim Abhängen der letzten Plakatreste und weniger noch ganzer Plakate gab es dann auch einen schnellen Blick auf den Gundelfinger Wald im herbstlichen Kleid.
Kurz: Tendenz zum Kulturkampf in Gundelfingen
Ich bin froh, wenn diese Woche vorbei ist. Dann wurde nämlich – am Sonntag – in Gundelfingen über die Frage abgestimmt, ob die Gemeinde sich unverzüglich für eine Wiederaufnahme der Straßenbahnplanungen einsetzen soll oder nicht. Eine simple Sachfrage, eigentlich.
Der Wahlkampf allerdings ist zermürbend. Nachdem sich abzeichnete, dass drei der vier Gemeinderatsfraktionen den Bürgerentscheid, die Straßenbahn und überhaupt alles verhindern wollen – SPD, CDU und anführend die Freien Wähler mit ihrem Chef, Herrn Hornbruch – gründete ein Angestellter von Hornbruchs Pflegedienst flugs eine Gegen-BI. Der Pflegedienst liegt an der Alten Bundesstraße, also direkt an der möglichen Trasse einer Straßenbahnverlängerung durch Gundelfingen. Und dann ging’s los mit Emotionswahlkampf. Die 12.000-Einwohner-Gemeinde Gundelfingen wird in der Propaganda der Nein-Sager zum Dorf, schon im August, lange vor Beginn der offiziell erlaubten Wahlkampfzeit, wird das „Dorf“ mit großen Bannern zugepflastert, die die Straßenbahn düster ausmalen. An Geld scheint es der Nein-Seite dabei nicht zu fehlen. Anzeigen der Freien Wähler und der Pseudo-BI, viele große Plakate, Briefe an Senior*innen (mit Grüßen des Pflegediensts) und Erstwähler*innen („mega, du“). Weniger wichtig: Fakten und Argumente.
Die Straßenbahn würde durch Land und Kreis bezahlt. Die Nein-Seite verspricht statt dessen „E‑Busse“, propagiert diese als billiger und flexibler. Dass der Busfahrplan für Gundelfingen besser werden kann, stimmt, dass es klug wäre, die Dieselbusse – wie im Rest des VAG-Netzes – durch E‑Busse zu ersetzen, auch. Ob die Nein-Sager und vor allem die populistisch auftretenden Freien Wähler nach Sonntag noch etwas von E‑Bussen hören wollen, werden wir dann sehen. Weil: die müsste die Gemeinde selbst zahlen. Und sind ziemlich teuer. Eigentlich wundert es mich nur, dass Nein-Sager-BI nicht gleich Flugtaxis versprochen hat.
Jedenfalls: ein eher unerfreulicher Wahlkampf, mit Populismus, mit abgerissenen und zerstörten Plakaten, mit Fehlinformationen und einer ziemlich zugespitzten Stimmung. Am Sonntag haben wir dann mindestens mal Klarheit, ob die Mehrheit der Gundelfinger*innen möchte, dass der nächste Schritt für den Anschluss ans Straßenbahnnetz gegangen wird.
P.S. (17.11.): Hat leider nicht geklappt – wobei 42% Ja zu 58% Nein zumindest nicht dramatisch schlecht ist. Grüne Stellungnahme zum Ergebnis.