Nicht nur im Hamburger Koalitonsvertrag war „Moorburg“ das große Thema – also die Frage, ob der Bau eines neuen Kohlekraftwerks genehmigt wird oder nicht. In den Jahren klimaschützerischer Realpolitik, die jetzt auf uns zukommen, ist der Ausstieg aus der Kohle – oder alternativ: die Kohle als „Übergangstechnologie“ – der Punkt, an dem Umweltverbände und Grüne einerseits und die großen Energiekonzerne und die „Volksparteien“ andererseits aufeinanderprallen. Das diesjährige, von einem breiten Bündnis getragene Klimacamp sieht in Kohle (Hamburg: Kohlehafen, Vattenfall, Kraftswerksneubauten und Exporte) einen Kristallisationspunkt. Robin Wood macht Aktionen zu „Moorburg“ und „Karlsruhe“. Der BUND hat ebenfalls eine Kampagne Kohlekraftwerke stoppen. Bei campact gibt’s einen Klima-Appell gegen Kohle. Und die Grünen: die erst recht. Zum Beispiel mit der Beteiligung an der Demo gegen ein Kohlekraftwerk bei Mannheim. Und auch für die umweltpolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion, Sylvia Kotting-Uhl, ist der Umgang mit Kohle und der „Clean-Coal“-Schimäre ein zentrales klimapolitisches Thema. Soweit könnte fast der Eindruck entstehen, dass die Bauplätze der neu geplanten Kohlekraftwerke so etwas wie das Wyhl oder Brunsbüttel unserer Generation werden könnten.
Allerdings scheinen das nicht alle so zu sehen. Der von mir durchaus geschätzte Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer hat zwar erst vor kurzem eine hochwertige Klimaschutz-Kampagne „Tübingen macht blau“ (siehe auch hier) gestartet. Aber jetzt ist er doch aus etwas seltsamen Gründen in die Schlagzeilen geraten, nämlich mit der Beteiligung der Tübinger Stadtwerke an einem Kohlekraftwerksneubau in Brunsbüttel:
Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) verteidigt die Beteiligung seiner Stadt am Bau eines gigantischen Kohlekraftwerks in Schleswig-Holstein: „Wir dürfen neue Kraftwerksprojekte nicht um den Preis verhindern, dass alte ineffizient weiter laufen“, sagt Palmer der ZEIT und stellt sich damit gegen seine Partei, die neue Kohlekraftwerke ablehnt. Tübingen wolle sich von den großen Energieversorgern unabhängig machen, sagt Palmer und fährt fort: „Denn wenn die Stadtwerke sterben, hat man keine Chance, den völlig verkrusteten Strommarkt ökologisch neu auszurichten.“ Allerdings sei es auch sein Ziel, einen „energiepolitischen Rahmen“ zu schaffen, „der alle Kohlekraftwerke überflüssig und unwirtschaftlich macht“.
Damit hat Boris zwar mal wieder bewiesen, dass er es hervorragend schafft, die grüne Partei bei Bedarf als Kontrastfolie zu benutzen, um sich selbst besonders hervorheben zu können. Inhaltlich scheint mir der Schluss von „Stadtwerke müssen überleben“ (richtig) zu „wir beteiligen uns an einem Kohlekraftwerk“ fehlerhaft. EWS und andere machen vor, dass wirtschaftlich erfolgreiche Energieproduktion – selbst ohne komplett regenerativ aufgestellt zu sein – auch ohne Kohle machbar ist. Es gibt Alternativen, und jetzt die falschen energiepolitischen Weichen für die nächsten 30 Jahre zu stellen, muss einfach nicht sein.
Noch dazu hat die Sache insofern einen unschönen Beigeschmack, als die Luftlinienentfernung von Tübingen nach Schleswig-Holstein doch recht groß ist. Wenn Boris mit den Tübinger Stadtwerken unbedingt ein Kohlekraftwerk mitbauen will, dann soll er das halt im Ländle versuchen – aber bitte nicht in Karlsruhe oder Mannheim (s.o.). Noch besser wäre es jedoch, das finanzielle Engagement zukunftsfähiger zu platzieren.
Warum blogge ich das? Weil mich die Argumentation des Tübinger Oberbürgermeisters doch ein bißchen stört. Und der „deutsche Barack Obama“, wie er vielleicht bald genannt werden wird, kann’s eigentlich besser. Was also soll das?
Update: (22.5.2008) Eine besonders interessante Note erhält das ganze dadurch, dass in wenigen Tagen Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein sind – und die Grünen dort u.a., und richtigerweise, einen klaren Antikohle-Schwerpunkt gesetzt haben.
Update 2: Der Konstanzer OB Horst Frank, ebenfalls ein Grüner, setzt sich gegen eine Beteiligung der Konstanzer Stadtwerke an dem in Brunsbüttel geplanten Kraftwerk ein. Die dortigen Stadtwerke sind allerdings ebenfalls dafür. Horst Frank wird in dem Artikel mit folgender Aussage zitiert: „Die Stadtwerke [Konstanz] sollten mit der Südweststrom verhandeln, warum sie nicht auf ein Gaskraftwerk setzt.“ Darum geht es. Die Südweststrom Kraftwerk GmbH&Co KG, die das Kohlekraftwerk in Brunsbüttel bauen will, ist übrigens ein Zusammenschluss von Stadtwerken aus Süddeutschland.
An dieser Stelle vielleicht auch noch eine Klarstellung zu meiner etwas reißerischen Überschrift – natürlich sind es nicht die Stadtwerke Tübingen allein, vielmehr sind diese nur mit einem Anteil von 0,4 % / 2 Mio. Euro beteiligt, und erzeugen (so jedenfalls die Auskunft von Boris) über 90 % ihres Stroms nicht in Kohlekraftwerken.
Update 3: (25.5.2008) Der Vollständigkeit halber hier noch der Verweis auf das Positionspapier der Stadtwerke Tübingen zu diesem Thema.
Update 4: (27.5.2008) Zur Situation in Brunsbüttel – und dem vor Ort fast völlig fehlenden Widerstand – ist dieser ZEIT-Artikel recht lesenswert.
Update 5: (3.6.2008) In einer heute veröffentlichten Pressemitteilung der Tübinger Grünen (leider nicht online) heißt es „Kreisvorstand von Bündnis 90/DIE GRÜNEN, Landesvorstandsmitglied Christian Kühn und Winfried Hermann, MdB gegen Tübinger Einstieg in das Kohlegeschäft“. Damit stellt sich natürlich die Frage, wer außer Boris eigentlich den Einstieg der ökoblauen Stadt in die Kohlestromproduktion möchte. Und ob das die richtigen Bündnispartner für den grünen Oberbürgermeister sind.
Update 6: (26.6.2008) Ob’s stimmt, weiss ich nicht, aber den Link wollte ich doch noch hier unterbringen: heute steht in der Telepolis ein kurzer Artikel, in dem behauptet wird, dass das Kraftwerk in Brunsbüttel eigentlich ein Gaskraftwerk (vielleicht sogar ein GuD-Kraftwerk?) in Wertheim sein sollte, dort aber von einem grün angeführten Bürgerentscheid verhindert wurde. Wenn’s so ist, ist’s schade. Aber vielleicht lässt sich ja auch anderswo ein besseres Kraftwerk als ein Kohlegigant hinstellen.
Update 7: (3.7.2008) Ein paar interessante Hinweise zum globalen Kontext, z.B. zu einem möglicherweise geplanten zweijährigen Moratorium für Kohlekraftwerke in Großbritannien, bei Nature/TheGreatBeyond.
Update 8: (10.8.2008) Spreeblick berichtet anlässlich des Hamburger britischen Klimacamps über Kohle. (Upps, genauer lesen: nicht nur in Hamburg wird klimagecampt).