Halbe Testläufe, Quasi-Experimente, provokative Rückzüge und das Sommerloch (Update)

Das Som­mer­loch scheint eine Zeit poli­ti­scher Unbe­stimm­heit zu sein. Und man­che mei­nen, dass es eine Zeit ist, um im Feld der Anti-Bür­ger­rechts­po­li­tik Test­bal­lons stei­gen zu lassen.

Fall 1: Mat­thi­as Güld­ner ist der Frak­ti­ons­vor­sit­zen­de der Grü­nen in Bre­men. Unter gro­ßer Anteil­nah­me der Netz­ge­mein­de äußer­te er eine Rei­he kru­der The­sen zum The­ma „Inter­net­sper­ren“ in der WELT online. Für Stel­lung­nah­men war er nicht erreich­bar. Am Sonn­tag kam dann die Auf­lö­sung des Rät­sels – und hin­ter­lässt einen fast rat­lo­ser als zuvor.

Güld­ner erklärt sei­ne Äuße­rung zur geplan­ten Provokation:

„Vie­le haben sich pro­vo­ziert und belei­digt gefühlt. Das mit der Pro­vo­ka­ti­on, das hat jedeR gemerkt, war beab­sich­tigt. Die Belei­di­gung nicht. […] Vie­le haben geglaubt, es han­de­le sich um eine spon­ta­ne und unüber­leg­te Äuße­rung. Dem war nicht so.“ 

Inhalt­lich sei er zwar wei­ter­hin der Auf­fas­sung, dass die Netz­sper­ren rich­tig sein. Er füh­le sich aber durch­aus der grü­nen Bür­ger­rechts­tra­di­ti­on ver­pflicht und habe mit sei­ner „Pro­vo­ka­ti­on“ vor allem dazu bei­tra­gen wol­len, eine Dis­kus­si­on über Bür­ger­rech­te und digi­ta­le Spal­tung anzufangen.

Mein ers­ter Ein­druck war sowas wie „inter­es­san­tes Vor­ge­hen, wür­de mir sowas durch­aus auch zutrau­en“ – also die Pro­vo­ka­ti­on, um eine Debat­te anzu­fan­gen. Mein zwei­ter Ein­druck: als rela­tiv pro­mi­nen­ter Grü­ner mit­ten im begin­nen­den Wahl­kampf in einer der­zeit von allen Par­tei­en stark umstrit­te­nen neu­en Wäh­ler­schicht so etwas zu machen, heißt auch, die damit ver­bun­de­nen Kol­la­te­ral­schä­den – Par­tei­aus­trit­te, Ver­lus­te an Stim­men, viel wich­ti­ger noch: Ver­lus­te an Glaub­wür­dig­keit und Repu­ta­ti­on – ent­we­der nicht ver­mu­tet oder in Kauf genom­men zu haben.

Die drit­te Über­le­gung dann: war’s als Expe­ri­ment mit offe­nem Aus­gang ange­legt? Hat­te Mat­thi­as Güld­ner ein­fach mal die Reak­tio­nen sehen wol­len, mal aus­tes­ten wol­len, ob sich zum Bei­spiel ein Keil zwi­schen „klas­si­sche“ Demo­kra­tie- und Rechts­po­li­ti­ke­rIn­nen und die Netz­po­li­ti­ke­rIn­nen trei­ben lie­ße – und hat dann nach Aus­blei­ben grö­ße­rer Men­gen an par­tei­in­ter­ner Soli­da­ri­tät zu Plan B gegrif­fen, das gan­ze als bewuss­te, letzt­lich bene­vo­len­te Pro­vo­ka­ti­on zu verkaufen?

Ich weiss es nicht. Ein Kom­men­tar bei netzpolitik.org macht deut­lich, dass Aus­sa­ge, plus hal­ber Rück­zug und Dis­kus­si­ons­er­klä­rung letzt­lich jede kla­re Posi­tio­nie­rung aus­löscht. So ein biß­chen die­ses Gefühl habe ich inzwi­schen auch. Vor allem auch des­halb, weil ich Mat­thi­as Güld­ner auch in sei­nem zwei­ten Text inhalt­lich eigent­lich nicht recht geben kann: 

„Netz­po­li­tik ist mei­nes Erach­tens nicht nur Ein­satz für eine bestimm­te Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ebe­ne. Als Meta­ebe­ne betrifft und beein­flusst sie unglaub­lich vie­le ande­re Berei­che der Poli­tik und des All­tags. Netzpolitik.org hat das Ziel, „über poli­ti­sche, gesell­schaft­li­che, tech­ni­sche und kul­tu­rel­le Fra­ge­stel­lun­gen auf dem Weg in eine Digi­ta­le Gesell­schaft zu schrei­ben“. Im Kern geht es also auch um eine kri­ti­sche Ver­stän­di­gung über sozia­le, öko­lo­gi­sche, recht­li­che, öko­no­mi­sche, gen­der Aspek­te in der Fol­ge der Digi­ta­li­sie­rung. Wer­den bestimm­te Grup­pen von Men­schen in die­sem Pro­zess bes­ser und ande­re schlech­ter gestellt? Hat die gro­ße Chan­ce der Ver­brei­te­rung und Ver­tie­fung von Demo­kra­tie auch Ver­lie­rer, zum Bei­spiel bei Men­schen, die sich aus unter­schied­li­chen Grün­den nicht im Netz bewe­gen (kön­nen), und die sich in Zukunft (noch) weni­ger als bis­her in Mei­nungs­bil­dungs­pro­zes­se ein­klin­ken kön­nen? Die­se und vie­le ande­re Fra­gen kön­nen nur gemein­sam beant­wor­tet werden.

In die­sem Sin­ne geht es zunächst vor allem um die Über­win­dung der Sprach­lo­sig­keit. Die lau­fen­de inten­si­ve Dis­kus­si­on der Exper­tIn­nen in Wis­sen­schaft, Netz­ge­mein­de und Poli­tik bie­tet da vie­le Anknüp­fungs­punk­te. Aller­dings scheint eine Ver­brei­te­rung der Dis­kus­si­on drin­gend nötig zu sein.“ 

Das klingt ja erst­mal sehr lobens­wert. Es igno­riert aber m.E., dass es die­se Dis­kus­sio­nen durch­aus gibt. Dass auch die pro­gres­si­ve Netz­com­mu­ni­ty über sozia­le und öko­lo­gi­sche Fol­gen inten­si­ver Ver­net­zung dis­ku­tiert. Über die gesell­schaft­li­chen Effek­te einer (im übri­gen deut­lich abneh­men­den) Kluft zwi­schen Digi­tal und Drau­ßen. Und so wei­ter. Bei aller Sym­pa­thie erweckt auch die zwei­te Stel­lung­nah­me bei mir doch den Ein­druck, dass da einer inten­siv in den stark tech­nik­kri­ti­schen Daten­schutz­de­bat­ten der 1980er Jah­re mit­ge­macht hat (Fritz Kuhn erklärt, war­um die flä­chen­de­cken­de ISDN-Ver­brei­tung Unmen­gen Arbeits­plät­ze kos­ten wird und über­haupt zur Gene­ral­über­wa­chung führt) – und jetzt plötz­lich aus einem the­men­spe­zi­fi­schen Win­ter­schlaf auf­wacht und sich zwi­schen netz­af­fi­nen Bür­ger­tech­nik­freaks nicht mehr zurecht findet.

Fall 2: John Phil­ipp Thurn kippt mit sei­ner Kla­ge zwei Poli­zei­ver­ord­nun­gen der Stadt Frei­burg – unter dem grü­nen OB Die­ter Salo­mon – zum The­ma Alko­hol­ver­bot im öffent­li­chen Raum / bei Rand­grup­pen. Bür­ger­rechts­af­fi­ne Grü­ne freu­en sich – und wer­den mit einer Pres­se­mit­tei­lung der Land­tags­frak­ti­on kon­fron­tiert, in der Bri­git­te Lösch erklärt,

„Die Grü­nen haben sich bei ihrer heu­ti­gen Frak­ti­ons­sit­zung ein­stim­mig dafür aus­ge­spro­chen, im Land­tag so bald wie mög­lich eine gesetz­li­che Grund­la­ge zu ver­ab­schie­den, damit Kom­mu­nen in Brenn­punk­ten die Mög­lich­keit haben, gegen Alko­hol­kon­su­mex­zes­se und ihren Begleit­erschei­nun­gen vor­ge­hen zu kön­nen. Hin­ter­grund die­ser Ankün­di­gung ist das Urteil des Ver­wal­tungs­ge­richts­hofs Mann­heim zum Alko­hol­ver­bot in Frei­burg. Das Gericht hat­te ent­spre­chen­de Poli­zei­ver­ord­nun­gen der Kom­mu­ne auf­ge­ho­ben mit dem Hin­weis unzu­rei­chen­der gesetz­li­cher Regelungen.“ 

Nach hef­ti­gem Hin und Her, Haue von der poli­ti­schen Kon­kur­renz, der Wan­de­rung vom „Online­b­log“ in die Badi­sche Zei­tung etc. kommt dann die Korrektur:

Noch ein­mal Bri­git­te Lösch:

„da ist in den letz­ten tagen eini­ges durch­ein­an­der gegan­gen, in der tat ist da auch unse­rer Pm vom letz­ten Diens­tag ungenau.
Die Dis­kus­si­on ging eigent­lich um das Alko­hol­ver­kaufs­ver­bot zwi­schen 22 und 5 Uhr, das wir als Frak­ti­on auch ableh­nen wol­len, da mit dem vor­lie­gen­den Gesetz­ent­wurf das Geset­zes­ziel eben nicht erreicht wird. Das zwei­te ist einen Ände­rung des Poli­zei­ge­set­zes um eine Gene­ral­er­mäch­ti­gung für Pau­schal­ver­bo­te zu bekom­men. Dar­über haben wir in der frak­ti­on noch nicht dis­ku­tiert – in der Ple­nar­de­bat­te war mei­ne Aus­füh­rung dazu, dass die VGH-Ent­schei­dung bei der Ver­ab­schie­dung des Alko­hol­ver­kaufs­ver­bots mit­be­rück­sich­tigt wer­den muß.“ 

In die glei­che Rich­tung geht ein Blog-Bei­trag ihres Land­tag­kol­le­gens Uli Sckerl:

„Rich­tig ist, dass Kom­mu­nen die Mög­lich­keit haben müs­sen, gegen kon­kret statt­fin­den­de Sauf­ex­zes­se und Gewalt auf öffent­li­chen Plät­zen – und die gibt es halt – vor­zu­ge­hen. Da muss in Kennt­nis der schrift­li­chen Urteils­grün­de des VGH sehr sorg­fäl­tig geprüft wer­den, ob das vor­han­de­ne Instru­men­ta­ri­um aus­reicht. Auf Anhieb spricht vie­les dafür“ 

Klingt gleich ganz anders. War­um nicht gleich so? Ich fin­de es ja gut, dass die Ver­nunft sich hier ent­we­der durch­ge­setzt hat oder von Anfang an da war. Aber war­um eine äußerst unglück­lich for­mu­lier­te Pres­se­mit­tei­lung, die erst übers Wochen­en­de so halb wie­der zurück­ge­nom­men wird?

Auch hier wer­de ich den Ver­dacht nicht los, dass es sich um ein Aus­tes­ten han­del­te, wie weit grü­nes „law and order“ gehen darf, ob die Unter­stüt­zung von OB Salo­mon wich­ti­ger ist oder das Bei­be­hal­ten der – auch vom Lan­des­vor­stand – unter­stüt­zen Bür­ger­rechts­po­li­tik mit äußerst kri­ti­schem Blick auf Ver­bots­ver­fü­gun­gen und Polizeibefugnisse.

Was haben nun Fall 1 und Fall 2 mit­ein­an­der zu tun? Zum einen hof­fe ich, dass ange­sichts der Neben­wir­kun­gen bis zur Bun­des­tags­wahl wei­te­re der­ar­ti­ge Expe­ri­men­te unter­blei­ben – so sehr ich sie auch aus sozi­al­wis­sen­schaft­li­chem Blick­win­kel inter­es­sant fin­de. Zum ande­ren glau­be ich, dass Mat­thi­as Güld­ner in einem Punkt recht hat, bzw. durch sei­ne bei­den State­ments auf einen Punkt hin­weist: der links­li­be­ra­le Geist der Grü­nen erschrickt leicht, und weicht dann davon – und erscheint man­chen, viel­leicht zu vie­len, in der Par­tei eher als Gespenst. Gute Pro­gram­me und eine vom Stel­len­wert von Bür­ger­rech­ten in einer auf­ge­klär­ten und eman­zi­pa­ti­ven Gesell­schaft über­zeug­te Spit­ze rei­chen nicht aus. Umso wich­ti­ger ist es, auch jen­seits der Wahl­kampf­ge­schlos­sen­heit wei­ter dar­an zu arbei­ten, den Vor­rang von Bür­ger­rech­ten – egal wel­che Medi­en und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ka­nä­le invol­viert sind – im Wur­zel­werk der Par­tei zu verankern.

War­um blog­ge ich das? Weil ich die Par­al­le­len zwi­schen bei­den Fäl­len inter­es­sant fin­de – ins­be­son­de­re auch hin­sicht­lich der instanta­nen Wahlkampfreaktionen.

P.S. aus gege­be­nem Anlass: mein letz­ter Satz mit den Wahl­kampf­re­ak­tio­nen bezieht sich auf den poli­ti­schen Geg­ner, der bei­de Fäl­le schnell auf­ge­grif­fen hat – nicht auf den inner­par­tei­li­chen Umgang damit.

Update: (5.8.2009) Wie sich zwi­schen­zeit­lich klärt, war die grü­ne Land­tags­frak­ti­on in Sachen PM schlicht schlam­pig – es waren wohl kurz vor der Som­mer­pau­se eini­ge nicht da, dann soll­te schnell was raus zum Alko­hol­ver­kaufs­ver­bot, und dann kam das VGH-Urteil irgend­wie noch mit rein. Ergeb­nis: die hier als „Fall 2“ beschrie­be­ne schlech­te PR. Inhalt­lich sind es aber – kann ich inzwi­schen sagen – mit Fug und Recht wei­ter­hin die Grü­nen, die die Fah­ne der Bür­ger­rech­te hoch hal­ten. Gut so. Bei der SPD gab’s dage­gen ein Eigen­tor – Chris­ti­an Söder hat zwar im SPD-Blog eif­rig auf die Grü­nen ein­ge­schla­gen, aber nicht nach­ge­schaut, was die SPD eigent­lich macht. Und die hat tat­säch­lich noch schnell vor der Som­mer­pau­se einen „einen Antrag ein­ge­bracht, mit dem die Lan­des­re­gie­rung zur Ergän­zung des Poli­zei­ge­set­zes auf­ge­for­dert wird“, wie es in einer PM des poli­zei­po­li­ti­schen Spre­chers die­ser Par­tei heißt. Bleibt fest­zu­hal­ten: alle, für die Bür­ger­rech­te wich­tig sind, sind bei uns Grü­nen um eini­ges bes­ser auf­ge­ho­ben als in der SPD.

Kurz: Es ist alles schon gesagt

Ziem­lich ent­setzt krieg ich heu­te einen Link: Herr Güld­ner aus Bre­men schafft es, in einem klei­nen Kom­men­tar deut­lich zu machen, dass er ers­tens kei­ne Ahnung vom Inter­net hat, ihm das zwei­tens völ­lig egal ist, er drit­tens Pro­ble­me mit Demo­kra­tie und poli­ti­scher Betei­li­gung der Bür­ger hat, und dass er vier­tens ziem­lich gut dar­in ist, Wäh­ler zu belei­di­gen. Man kann natür­lich eine ande­re Mei­nung zu den Plä­nen der Bun­des­re­gie­rung haben eine umfas­sen­de Sperr­in­fra­struk­tur auf­zu­bau­en, die­se aber in die­ser Form und beson­ders in die­sem Ton vor­zu­tra­gen, geht mei­ner Mei­nung nach nicht. Zwei Din­ge aber sor­gen dafür, dass ich dar­über nicht ein­fach zur Tages­ord­nung über­ge­he: (1) die­ser Text ist auch als Kom­men­tar bei Welt.de erschie­nen und seit­her viel zitiert und noch mehr ver­linkt wor­den – (2) die­ser Mensch ist nicht irgend­ein Bür­ger­schafts­ab­ge­ord­ne­ter, son­dern Frak­ti­ons­vor­sit­zen­der von Bünd­nis 90/Die Grü­nen. Dass pro­mi­nen­te Ver­tre­te­rIn­nen unse­rer Par­tei sich in so ver­kürz­ter und popu­lis­ti­scher Art und Wei­se gegen die eige­nen Par­tei­tags­be­schlüs­se stel­len, […] macht es uns in den nächs­ten Mona­ten nicht leich­ter.

Der Bei­trag von Mat­thi­as Güld­ner vom 27. Juli 2009 in der WELT wider­spricht des­halb nicht nur unse­rer grü­nen Pro­gramm­la­ge, son­dern schlägt gegen­über den­je­ni­gen, die sich für ein frei­es Inter­net enga­gie­ren, einen aus unse­rer Sicht nicht akzep­ta­blen Ton an.

Don’t feed the trolls.

Kontrovers: Sind Grüne wissenschaftsfeindlich? (Update: Facebook-Gruppe)

Egal, ob Homöo­pa­thie, Mobil­funk oder aktu­ell die von Peter Hett­lichs taz-Bei­trag los­ge­tre­te­ne Debat­te um die bemann­te Raum­fahrt – bei sci­ence­b­logs bekom­me ich immer wie­der, gera­de von Natur­wis­sen­schaft­le­rIn­nen, zu hören, dass Bünd­nis 90/Die Grü­nen ja eigent­lich schon inter­es­sant wären, wäre da nicht die „laten­te Wis­sen­schafts­feind­lich­keit“ und „Irra­tio­na­li­tät“.

Das lie­ße sich jetzt igno­rie­ren, aber gera­de in mei­ner Rol­le als Spre­cher der BAG WHT* ist es mir wich­tig, dem nicht aus­zu­wei­chen. Ich glau­be, es tut uns Grü­nen auch gut, in die­ser Fra­ge offen und ehr­lich zu sein.

Des­we­gen möch­te ich ein­fach mal hier die­se pro­vo­kan­te Fra­ge stel­len – ins­be­son­de­re auch an Mit-Grü­ne: Ist das so? Sind wir eine wis­sen­schafts­feind­li­che Par­tei? Oder ist es manch­mal ein­fach nur schwer ver­mit­tel­bar, wie Ratio­na­li­tät und „Alter­na­tiv­me­di­zin“, For­schungs­för­de­rung und Kri­tik an ein­zel­nen Groß­for­schungs­pro­jek­ten in einer Par­tei zusam­men­ge­hen? Wo sind Grü­ne for­schungs­po­li­tisch rich­tig gut auf­ge­stellt? Wo lie­gen die Schwä­chen ande­rer Par­tei­en? Und wie könn­te es bes­ser werden?

P.S.: Hier die For­schungs-Sei­te der grü­nen Bun­des­tags­frak­ti­on, und hier das Wahl­pro­gramm (ab S. 109 geht’s um Forschung).

Update: Wie unten schon in einem der Kom­men­ta­re geschrie­ben, habe ich als Nukle­us für eine wie auch immer orga­ni­sier­te Ver­net­zung grü­ner Wis­sen­schaft­le­rIn­nen (und Debat­ten über Wahr­heit, Modus 2 und Wis­sen­schaft ;-)) jetzt ein­fach mal eine offe­ne Face­book-Grup­pe „Grü­ne in Hoch­schu­len und For­schungs­ein­rich­tun­gen“ auf­ge­macht. Bin gespannt, ob was dar­aus wird – wer mit­ma­chen möch­te, ist herz­lich dazu ein­ge­la­den, sich dort als Mit­glied ein­zu­tra­gen und zu Wort zu melden.

* Bun­des­ar­beits­ge­mein­schaft Wis­sen­schaft, Hoch­schu­le, Tech­no­lo­gie­po­li­tik von Bünd­nis 90/Die Grü­nen.

Freiburg: Keine Stimme der großen Koalition

Visiting the "Dachswanger Mühle" farm - III

Nach­dem sich Kers­tin And­reae ent­schie­den hat, im Wahl­kreis 281 auch um die Erst­stim­men zu kämp­fen, erreicht das The­ma jetzt auch die Badi­sche Zei­tung. Die Aus­gangs­la­ge: bis­her ging das Direkt­man­dat – als eines von ganz weni­gen in Baden-Würt­tem­berg – klar an die SPD, d.h. an Ger­not Erler. Dies­mal wirbt nicht nur der CDU-Kan­di­dat (heu­er: Dani­el San­der) um Erst­stim­men, son­dern eben auch Kers­tin And­reae, die Frei­bur­ger Abge­ord­ne­te der Grü­nen und lan­des­wei­te Spitzenkandidatin. 

Ich fin­de das gut. Ers­tens, weil Erler bei der letz­ten Wahl mas­siv um grü­ne Stim­men gewor­ben hat, und noch auf der Wahl­par­ty von Kers­tin ver­spro­chen hat­te, kei­nen­falls für die gro­ße Koali­ti­on zu stim­men. Ein paar Tage spä­ter war er dann Staats­se­kre­tär die­ser Koali­ti­on. Zwei­tens, weil gera­de Frei­burg – selbst inkl. des Umlands – ein Wahl­kreis ist, in dem es über­haupt nicht selbst­ver­ständ­lich ist, dass rot-grü­nes Stim­men­split­ting immer „rote Erst­stim­me“ hei­ßen muss. Und drit­tens, weil es stim­mig ist für einen Wahl­kampf, der dies­mal sehr stark die grü­ne Eigen­stän­dig­keit beto­nen wird und auch die SPD angrei­fen wird.

Blöd­sinn ist es dabei, die Ergeb­nis­se aus 2005 für Pro­gno­sen her­an­zu­zie­hen, wie die Erst­stim­men dies­mal ver­teilt wer­den. Erler hat­te 45 %, die CDU-Kan­di­da­tin 35 %, Kers­tin nur 11 %. Soweit rich­tig – aber damals gab es eine kla­re Erst­stim­men­kam­pa­gne, und damals gab es noch die Hoff­nung, dass rot-grün fort­ge­setzt wird. Das sieht 2009 anders aus, des­we­gen sind die Zweit­stim­men­er­geb­nis­se doch um eini­ges auf­schluss­rei­cher. Und zudem ist San­der nicht unbe­dingt der belieb­tes­te aller CDU-Kandidaten. 

Bleibt das von Erler und der SPD wie­der und wie­der ins Feld geführ­te The­ma „Über­hang­man­da­te“. Die haben ja recht, dass die Gefahr besteht, dass die CDU ein nicht aus­ge­gli­che­nes Über­hang­man­dat bekommt, wenn sie den Wahl­kreis gewinnt. Nur: war­um soll­te der logi­sche Schluss sein, wie­der und wie­der für ein SPD-Direkt­man­dat zu kämp­fen, dass nach­her doch eine Stim­me für die gro­ße Koali­ti­on ist, in der die SPD sich ja so wun­der­bar hei­misch fühlt? Genau­so­gut könn­te Erler ja auch dafür wer­ben, dies­mal grün-rot zu stim­men – auch ein grü­nes Direkt­man­dat ver­hin­dert das CDU-Über­hang­man­dat. Für mich ist es des­we­gen klar: dies­mal heißt’s K wie Kers­tin für die Erststimme.

Noch lus­ti­ger übri­gens die Argu­men­ta­ti­on der CDU: Frei­burg wür­de es gut tun, wenn es mit drei statt mit zwei Abge­ord­ne­ten ver­tre­ten wäre (die CDU hat ja kei­ne Chan­ce auf Lis­ten­plät­ze in Baden-Würt­tem­berg). Wenn’s nur um regio­na­le Lob­by­in­ter­es­sen gin­ge, wür­de das stim­men. Aber der Bun­des­tag macht – auch wenn die CDU das viel­leicht nicht weiss – mehr als die Sum­me regio­na­len Lob­by­is­mus. Inso­fern: die­ses Argu­ment zählt defi­ni­tiv nicht. 

War­um blog­ge ich das? Weil ich den­ke, dass es Grün­de dafür gibt, dar­auf zu hof­fen, dass 2009 die ers­te Wahl wird, in der Grü­ne mit drei, vier oder fünf Direkt­man­da­ten in den Bun­des­tag ein­zie­hen. Und auch wenn ich mit Kers­tin nicht immer einer Mei­nung bin: die bes­se­re Direkt­kan­di­da­tin als San­der oder Erler ist sie auf jeden Fall.

Wie die CDU tickt (Update: Was ist ein Parteiprogramm?)

Ich dach­te bis­her immer, die unde­mo­kra­ti­schen Vor­stel­lun­gen des ehe­ma­li­gen Rek­tors der Frei­bur­ger Uni­ver­si­tät (CDU-Mit­glied und Poli­tik­wis­sen­schaft­ler), die ich in diver­sen Unigre­mi­en erle­ben durf­te, sei­en vor allem Aus­fluss sei­ner Per­sön­lich­keit gewesen. 

Twit­ter klärt mich nun dar­über auf, dass ein der­ar­ti­ges Bild von Demo­kra­tie in der CDU ende­misch sein muss. Aus­gangs­punkt: die CDU hat heu­te ihr Wahl­pro­gramm vor­ge­stellt – beschlos­sen vom Par­tei­vor­stand. Ein Par­tei­tag – noch nicht ein­mal ein Akkla­ma­ti­ons­par­tei­tag wie bei der SPD – war nicht not­wen­dig. Nun ist eine Bun­des­tags­wahl nicht ganz unwich­tig, und die Fra­ge, was die Regie­rung machen wird, auch nicht. Inso­fern habe ich fol­gen­des bei Twit­ter geschrie­ben – und es an einen dort akti­ven Christ­de­mo­kra­ten adressiert:

@Stecki Ich bin ja immer noch fas­sungs­los dar­über, dass das Pro­gramm einer Volks­par­tei von deren Vor­stand fest­ge­legt wird – -

Die Reak­ti­on waren nicht wie erwar­tet Recht­fer­ti­gungs­ver­su­che, son­dern gegen­sei­ti­ges Unver­ständ­nis. Auf sei­ner Sei­te: es ist doch völ­lig nor­mal, dass der Par­tei­vor­stand ent­schei­det, schließ­lich sei auch der Bun­des­tag sowas wie der Vor­stand des Lan­des (Gewal­ten­tei­lung, hal­lo?), und auch auf Par­tei­ta­gen sei­en ja schließ­lich nur Dele­gier­te antrags­be­rech­tigt. So sei reprä­sen­ta­ti­ve Demo­kra­tie halt organisiert.

Auf mei­ner Sei­te: ich dach­te bis­her, es sei nor­mal, dass Par­tei­mit­glie­der bestimm­te Rech­te haben (z.B. Antrags­recht auf Par­tei­ta­gen – bei uns sind 20 Unter­schrif­ten dafür not­wen­dig, egal ob dele­giert oder nicht), dass zumin­dest for­mal danach gestrebt wird, Mei­nungs­bil­dungs­pro­zes­se demo­kra­tisch zu orga­ni­sie­ren, dass eine so zen­tra­le Ent­schei­dung wie die über das Regie­rungs­pro­gramm eben nicht vom Vor­stand gewählt wird. 

Klar war mir bewusst, dass das „basis­de­mo­kra­tisch“ im alten Par­tei­slo­gan der Grü­nen was damit zu tun hat­te, dass ande­re Par­tei­en das eben nicht so ernst neh­men. Bewusst habe ich mir dar­über aber bis­her kaum Gedan­ken gemacht. Wenn, war das ein Kampf aus grau­er Vor­zeit. Mir geht’s jetzt also so ähn­lich wie jun­gen Frau­en und Män­nern, die den­ken, dass Femi­nis­mus heu­te – wo doch alle gleich­be­rech­tigt sind – nicht mehr not­wen­dig ist. Und plötz­lich mer­ken, dass das Gegen­teil stimmt.

Noch­mal zurück zum Punkt: die CDU-Mit­glied­schaft – wenn ich jetzt mei­ne Stich­pro­be mit N=1 ver­all­ge­mei­nern darf -, scheint Demo­kra­tie so zu ver­ste­hen, dass ein Vor­stand gewählt wird, der ein Prä­si­di­um wählt, dass eine star­ke Frau oder einen star­ken Mann wählt, der dann sagt, wo’s lang geht. Das Prin­zip, sei­ne poli­ti­schen Rech­te an der Wahl­ur­ne abzu­ge­ben, scheint hier also auch inner­par­tei­lich ver­wirk­licht zu sein. (Bei der SPD ist es anders: da soll ein star­ker Mann vor­ne ste­hen, was aber meis­tens nicht klappt; die Pro­gramm­ar­beit wird dage­gen an einen Arbeits­kreis abge­ge­ben, der tech­no­kra­tisch das rich­ti­ge und fal­sche trennt). Zugleich wird es für nor­mal gehal­ten, dass nur der­je­ni­ge Ein­fluss auf das Pro­gramm hat, der halt die rich­ti­gen infor­mel­len Kon­tak­te hat und auf „Abge­ord­ne­te“ bzw. „Dele­gier­te“ bzw. „Vor­stän­de“ ein­wir­ken kann.

Ist das wirk­lich so? Ich habe mal in die Sat­zung der CDU rein­ge­schaut (Sta­tut der CDU Deutsch­lands) und fest­ge­stellt, dass laut §29 (1) der CDU-Bun­des­sat­zung der Par­tei­tag „über die Grund­li­ni­en der Poli­tik der Christ­lich Demo­kra­ti­schen Uni­on Deutsch­lands und das Par­tei­pro­gramm“ beschließt, die „für die Arbeit der CDU-Frak­tio­nen und die von der CDU geführ­ten Regie­run­gen in Bund und Län­dern ver­bind­lich“ sind. Jetzt mag es sein, dass bei der CDU ein Par­tei­pro­gramm, dass für Regie­run­gen ver­bind­lich ist, etwas ganz ande­res als ein Regie­rungs­pro­gramm ist. Trotz­dem bleibt bei mir der Ein­druck, dass die CDU sich hier über ihre eige­nen Regeln der inner­par­tei­li­chen Demo­kra­tie hin­weg­setzt – und die Mit­glie­der das sogar noch gut finden. 

Übri­gens: dass der Par­tei­tag über das Par­tei­pro­gramm beschließt, steht sogar im Par­tei­en­gesetz. Wäh­rend die SPD sich zumin­dest noch for­mal an die Regeln hält, ist die CDU unter Mer­kel schon einen Schritt wei­ter auf dem Weg zur post­mo­der­nen Füh­rungs­par­tei, die als Mar­ke geführt wird, und in der (viel­leicht) Per­so­nen zäh­len, aber kei­ne Pro­gram­me. Auto­kra­tie a la Ber­lus­co­ni, anyo­ne? Inso­fern ist es auch schon fast egal, was drin steht.

War­um blog­ge ich das? Auch bei uns Grü­nen ist nicht alles Gold, was glänzt, wie ich an ver­schie­de­ner Stel­le in die­sem Blog immer wie­der deut­lich gemacht habe. Trotz­dem gibt es die for­ma­len Regeln und de infor­mel­len Wil­len, Mit­glie­der an der demo­kra­ti­schen Wil­lens­bil­dung zu betei­li­gen. Ja, wir Grü­ne sehen das sogar als Recht an. Ich erle­be nun, dass das in ande­ren Par­tei­en ganz anders gehand­habt wird. Ist einer­seits span­nend, macht aber auch klar, dass jeder halb­wegs an mehr als Reprä­sen­ta­ti­on ori­en­tier­te Mensch die­se nicht wäh­len soll­te. Die CDU müss­te übri­gens, Poin­te zum Schluss, auf den Wahl­zet­teln in Zukunft wohl als _ _ _ geführt wer­den – beson­ders christ­lich ist ihre Poli­tik nicht, wenn ich da Leu­ten, die sich bes­ser damit aus­ken­nen, Glau­ben schen­ken darf. Demo­kra­tisch? Nö. Und Uni­on, also Zusam­men­halt? Selbst das kriegt sie nur bedingt hin.

Update: Nach­dem nun auf Twit­ter und hier in den Kom­men­ta­ren dar­auf hin­ge­wie­sen wur­de: ver­mut­lich ist mit „Par­tei­pro­gramm“ in der Sat­zung der CDU das Grund­satz­pro­gramm gemeint, zuletzt beschlos­sen 2007 in Leip­zig, wenn ich rich­tig infor­miert bin. Zumin­dest der Wiki­pe­dia-Ein­trag zu die­sem Begriff stützt die­se The­se. Das ist inso­fern inter­es­sant, als nähe­res zum Wahl­pro­gramm weder in der Sat­zung der CDU noch im Par­tei­en­gesetz auf­taucht. In sei­ner kon­kre­ten poli­ti­schen Rele­vanz scheint mir letz­te­res – also das Wahl­pro­gramm, ins­be­son­de­re das Bun­des­tags­wahl­pro­gramm – gene­rell jedoch weit­aus ein­fluss­rei­cher zu sein als das Grund­satz­pro­gramm. Und auch der Wiki­pe­dia-Ein­trag zum The­ma „Wahl­pro­gramm“ stützt die Auf­fas­sung, dass es eigent­lich üblich ist, dass ein sol­ches von einem Par­tei­tag beschlos­sen wird. (Neben­bei: lus­tig ist ja auch, dass SPD und CDU jeweils von Regie­rungs­pro­gram­men spre­chen – bis vor kur­zem waren damit die aus­ge­han­del­ten Koali­ti­ons­ver­trä­ge gemeint). 

Noch ein Nach­trag: Sehr schön auf den Punkt bringt die Süd­deut­sche das neue For­mat „Kon­gress“ – also Wahl­par­tei­tag ohne Anträ­ge, Reden, Abstim­mun­gen – mit dem Begriff der „Jubel­per­ser“.