Die neuen Eurobasisdemokraten, oder: Zurück in die 1980er?

Moss macro

Eigent­lich gibt es zur Zeit wich­ti­ge­res als das Innen­le­ben der grü­nen Par­tei. Trotz­dem könn­te die 39. Ordent­li­che Bun­des­de­le­gier­ten­kon­fe­renz, die Ende Novem­ber in Hal­le statt­fin­det, inter­es­sant wer­den, lie­gen doch inzwi­schen eini­ge Anträ­ge Unzu­frie­de­ner vor. Ich den­ke dabei ins­be­son­de­re an den Antrag „Die Par­tei stra­te­gisch neu auf­stel­len, Fens­ter und Türen öff­nen!“ von Robert Zion und an den Antrag „Für eine umfas­sen­de Rück­kehr zu basis­de­mo­kra­ti­schen Struk­tu­ren“ von Frank Bro­zow­ski und ande­ren. Ins­ge­samt ste­hen inzwi­schen 146 Per­so­nen unter den Anträ­gen. Wor­um geht es?

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Kurz: Kurs auf 2017

Der­zeit macht eine Pres­se­mit­tei­lung des schles­wig-hol­stei­ni­schen Minis­ter­prä­si­den­ten Albig (SPD) die Run­de, in der er in Fra­ge stellt, ob die SPD ange­sichts der aktu­el­len Umfra­ge­wer­te über­haupt 2017 einen eige­nen Kanz­ler­kan­di­da­ten auf­stel­len soll. Offen­sicht­lich fühlt sich die SPD im Wind­schat­ten der ewi­gen Kanz­le­rin wohl. Und auch Gabri­el hat ja schon anklin­gen las­sen, dass die Wahl 2017 ver­lo­ren gege­ben wer­den könne.

Ich fin­de das vor­ei­lig. Aus grü­ner Per­spek­ti­ve flammt jetzt reflex­haft wie­der eine Debat­te über Rot-Grün-Rot vs. Schwarz-Grün auf. Ich will einen ande­ren Vor­schlag machen, der ange­sichts von 10 Pro­zent in den Umfra­gen viel­leicht ein biss­chen grö­ßen­wahn­sin­nig sein mag, aber über den wir mal dis­ku­tie­ren soll­ten. Wir gehen nicht mit einem Spit­zen­kan­di­da­tIn­nen-Duo in die Wahl 2017, son­dern mit einem Kanz­ler­kan­di­da­ten oder einer Kanz­ler­kan­di­da­tin. Eine Person!

Dazu müss­te früh klar sein, wer das ist – Urwahl, war­um nicht – und dann stün­den Bun­des­tags­frak­ti­on, Par­tei und die­se Per­son vor der Her­aus­for­de­rung, in den dann noch fol­gen­den ein­ein­halb Jah­ren von 10 Pro­zent auf 25 Pro­zent in den Bun­des­um­fra­gen zu klet­tern. Mit einer nicht nur unse­re eige­ne Mit­glie­der­schaft über­zeu­gen­den Per­son, mit Geschlos­sen­heit und mit einem kla­ren Gestal­tungs­an­spruch wäre das zwar sicher immer noch nicht ein­fach, aber eben auch nicht unmög­lich – und wür­de wie kein ande­res Vor­ha­ben den Anspruch grü­ner Eigen­stän­dig­keit unter­strei­chen. Die SPD will nicht Kanz­ler wer­den? Wir schon!

Unser Innenminister!

Vor ein paar Tagen erschien ein Arti­kel von Ulrich Schul­te in der taz, in dem er sich unter der Über­schrift „Ein Poli­ti­kum auf 140 Zei­chen“ damit aus­ein­an­der­setzt, was pas­sier­te, nach­dem Jörg Rupp einen inhalt­lich und sprach­lich dane­ben lie­gen­den Kom­men­tar zur Ham­burg-Wahl get­wit­tert hat­te. Ich will hier kei­ne Debat­te über Mücken und Ele­fan­ten anfan­gen, son­dern sage nur, dass die 15 Minu­ten des Ruh­mes für Jörg inzwi­schen vor­bei sind. Aber er ist ja nicht der ein­zi­ge, der Twit­ter für poli­ti­sche Kom­men­ta­re nutzt. 

Auch SPD-Innen­mi­nis­ter Rein­hold Gall tut das manch­mal:

Reinhold Gall: Ich verzichte gerne auf vermeintliche Freiheitsrechte wenn wir einen Kinderschänder überführen.

Hier bin ich gespannt, was wei­ter pas­siert. Wolf­gang Lue­nen­buer­ger-Rei­den­bach bei­spiels­wei­se for­dert Galls Rück­tritt. Auch der SWR berich­tet bereits über den Tweet. Neben vie­len ande­ren nimmt auch Claus von Wag­ner („Die Anstalt“) den Tweet zum Anlass für bis­si­ge Kom­men­ta­re.

Um auch dies fest­zu­hal­ten: Dass Gall sich – wie die Mehr­heit der Dele­gier­ten des SPD-Par­tei­kon­vents, mög­li­cher­wei­se anders als die Mehr­heit der SPD-Mit­glie­der – für die Vor­rats­da­ten­spei­che­rung („VDS“) aus­spricht, ist bekannt. Das auch öffent­lich zu sagen, wäre kein Skan­dal. Dass der baden-würt­tem­ber­gi­sche Koali­ti­ons­ver­trag in die­sem Punkt sehr schwam­mig ist, ist eben­falls bekannt. Der Innen­mi­nis­ter hat hier eine ande­re Auf­fas­sung, wie der Ver­trag aus­zu­le­gen ist, als bei­spiels­wei­se der grü­ne Koalitionspartner. 

Was Gall ges­tern schrieb, geht aber weit dar­über hin­aus. Und das macht den Shit­s­tor­m­aspekt die­ses Tweets aus. Zum einen legt er (im Kon­text des gest­ri­gen SPD-Par­tei­tags) nahe, dass Vor­rats­da­ten­spei­che­rung dazu bei­tra­gen könn­te, sexua­li­sier­te Gewalt gegen Kin­der auf­zu­klä­ren. Dass hier die VDS mehr Erfolg ver­spricht als her­kömm­li­che poli­zei­li­che Maß­nah­men, ist min­des­tens umstrit­ten.

Noch infa­mer ist aller­dings das Wor­ding „ver­meint­li­che Frei­heits­rech­te“. Auch das wird z.B. von netzpolitik.org auf­ge­grif­fen. Denn Gall legt damit ja nahe, dass die infor­ma­tio­nel­le Selbst­be­stim­mung nur ein ver­meint­li­ches, aber kein ech­tes Frei­heits­recht ist. Zuge­spitzt stellt sich damit die Fra­ge, wel­che Grund­rech­te Gall sonst noch so als „ver­meint­lich“ anse­hen wür­de, und auf wel­che er – als Innen­mi­nis­ter! – ver­zich­ten wür­de, um die Auf­klä­rungs­quo­te bei schwe­ren Ver­bre­chen zu verbessern.

Wenn die SPD meint, sich mehr­heit­lich für die Vor­rats­da­ten­spei­che­rung aus­spre­chen zu müs­sen, und – war­um auch immer – in ihrer inner­par­tei­li­chen Mei­nungs­bil­dung zu die­sem Ergeb­nis kommt, dann ist das zwar bedau­er­lich und durch­aus ein Grund für Empö­rung, letzt­lich aber erst ein­mal hin­zu­neh­men. Es gibt am Wahl­tag eine gan­ze Rei­he von Alter­na­ti­ven, die eine ande­re Posi­ti­on ver­tre­ten. Wenn ein Innen­mi­nis­ter per Twit­ter einen Kon­nex zwi­schen dem Kampf für Frei­heits­rech­te und der Dul­dung von Kin­des­miss­brauch auf­macht, dann fra­ge ich mich doch, was ihn dabei gerit­ten hat. Bekann­ter­ma­ßen gehö­ren zu den Par­tei­en, die in die­ser Sache eine ande­re Posi­ti­on als die SPD ver­tre­ten, auch Bünd­nis 90/Die Grü­nen. Ich wür­de ja ger­ne wis­sen, was Innen­mi­nis­ter Gall glaubt, was wir als Koali­ti­ons­part­ner der SPD in Baden-Würt­tem­berg tun, wenn wir für Bür­ger­rech­te kämpfen.

War­um blog­ge ich das? Zum einen, weil ich mich inhalt­lich der Empö­rung über die­sen Tweet durch­aus anschlie­ßen kann. Zum ande­ren aber auch, weil ich doku­men­tie­ren will, wie Twit­ter zuneh­mend als poli­ti­sches Medi­um (und damit auch als direk­ter Kanal zwi­schen poli­ti­schen Akteu­rIn­nen und den Medi­en) funktioniert.

P.S., 22.06.15: Die heu­ti­ge Ent­schul­di­gung über­zeugt nur bedingt:

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Bei der Gele­gen­heit: duden.de defi­niert „ver­meint­lich“ als „(irr­tüm­lich, fälsch­lich) ver­mu­tet, ange­nom­men; scheinbar“.

P.P.S.: Und auf Sascha Lobos wort­rei­che Wort-für-Wort-Ana­ly­se des Gall­schen Tweets muss ich nicht nur aus Voll­stän­dig­keits­grün­den auch noch verlinken.

Die drei Funktionen eines Wahlprogramms

LDK ends VIII

Aus Grün­den mache ich mir gera­de eini­ge Gedan­ken um Wahl­pro­gram­me. Dabei ist mir auf­ge­fal­len, dass ein paar der Schwie­rig­kei­ten, die mit einem Wahl- oder Regie­rungs­pro­gramm ver­bun­den sind, schlicht damit zu tun hat, dass ein sol­ches Pro­gramm meh­re­re, sich teil­wei­se wider­spre­chen­de Funk­tio­nen erfül­len soll. Es steht also immer in einem Span­nungs­ver­hält­nis, das sich nie ganz auf­lö­sen lässt.

Mir sind drei sol­che Funk­tio­nen – also Ant­wor­ten auf die Fra­ge, wozu ein Wahl­pro­gramm eigent­lich gut ist – ein­ge­fal­len. Viel­leicht gibt es noch mehr: 

1. Das Wahl­pro­gramm ist eine Moment­auf­nah­me des andau­ern­den Mei­nungs­bil­dungs­pro­zes­ses inner­halb einer Par­tei. Es hält fest, was die Posi­tio­nen und Hal­tun­gen, die Kom­pro­mis­se und Beschluss­la­gen zum Zeit­punkt X sind. Es ist damit ein iden­ti­täts­stif­ten­des Selbst­ver­ständ­nis in Lang­form (in Abgren­zung zu kon­kur­rie­ren­den Par­tei­en) – und letzt­lich auch ein his­to­ri­sches Doku­ment, das im Ver­gleich zu älte­ren Wahl­pro­gram­men Aus­kunft dar­über geben kann, wie sich Posi­tio­nen und Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten ent­wi­ckelt und ver­scho­ben haben. 

2. Es wäre schön, wenn das mit der zuerst genann­ten Funk­ti­on in eins fal­len wür­de, dem ist aber nicht so: Das Wahl­pro­gramm ist ein Regie­rungs­pro­gramm, eine Blau­pau­se und Bau­stel­le für mög­li­che Koali­ti­ons­ver­trä­ge und das dar­auf auf­bau­en­de Regie­rungs­han­deln. Der Fokus liegt hier stär­ker als in der ers­ten Per­spek­ti­ve auf dem, was auch tat­säch­lich umsetz­bar ist, auf dem inner­halb einer Legis­la­tur­pe­ri­ode mach­ba­ren – und stär­ker auf kon­kre­ten Pro­jek­ten als auf all­ge­mei­nen Posi­tio­nen. (Und da, wo es kon­kret wird, wird’s dann ger­ne ganz kon­kret und schnell sehr, sehr fachlich …)

3. Und schließ­lich ist ein Wahl­pro­gramm auch ein werb­li­cher Text. Es soll von poten­zi­el­len Wäh­le­rin­nen und Wäh­lern nicht nur ver­stan­den wer­den, son­dern auch als attrak­tiv emp­fun­den wer­den. Es muss zur Kam­pa­gne pas­sen, etwa im Hin­blick auf Schwer­punkt­set­zun­gen. Es dient als Grund­la­ge für Wahl­wer­be­ma­te­ri­al und die Beant­wor­tung von Wahl­prüf­stei­nen. Mit all dem ist die Ver­lo­ckung ver­bun­den, Gro­ßes zu ver­spre­chen – was nicht immer mit Mach­bar­keit koin­zi­diert – und über ande­res eher den Man­tel des Schwei­gens zu hüllen. 

Im Span­nungs­feld zwi­schen Iden­ti­täts­stif­tung, vor­weg genom­me­ner Legi­ti­ma­ti­on zukünf­ti­gen Regie­rungs­han­deln und Wäh­ler­ori­en­tie­rung ist ein Wahl­pro­gramm not­wen­di­ger­wei­se ein viel­schich­ti­ger und facet­ten­rei­cher Text. Auch wenn man­che mei­nen, dass Wahl­pro­gram­me über­haupt nicht not­wen­dig wären, sind – zumin­dest in debat­ten­freu­di­gen Par­tei­en wie den GRÜNEN – Pro­gramm­par­tei­ta­ge auch des­we­gen span­nend, weil hier nicht nur unter­schied­li­che Inter­es­sen inner­halb der oben dar­ge­stell­ten Dimen­sio­nen auf­ein­an­der­pral­len (etwa unter­schied­li­che Schwer­punkt­set­zun­gen unter­schied­li­cher Strö­mun­gen), son­dern, ver­knüpft mit Rol­len und Rol­len­er­war­tun­gen, auch unter­schied­li­che Inter­es­sen dar­an, wel­che Funk­ti­on das Pro­gramm vor allem erfül­len soll. Ein den Wahl­kampf orga­ni­sie­ren­der Vor­stand ver­bin­det mit dem Pro­gramm ande­re Ansprü­che als eine fach­lich ori­en­tier­te Arbeits­grup­pe oder ein Mit­glied einer Regierungsfraktion.

War­um blog­ge ich das? Unter ande­rem mit Blick auf den lau­fen­den Pro­gramm­pro­zess inner­halb der baden-würt­tem­ber­gi­schen Grü­nen im Vor­feld der Land­tags­wahl 2016.