Neustart gelungen

Die 50. Bun­des­de­le­gier­ten­kon­fe­renz von Bünd­nis 90/Die Grü­nen – gezählt seit dem Zusam­men­schluss bei­der Par­tei­en 1993 – tag­te an die­sem Wochen­en­de im schmu­cken Rhein Main Con­gress Cen­trum in Wies­ba­den. Ich war als Dele­gier­ter für mei­nen Kreis­ver­band dabei; als ich mich dele­gie­ren ließ, war die Welt noch eine ande­re. Bei der Auf­stel­lung hat­te ich ambi­va­len­te Gefüh­le – Frei­tag bin ich dann schon mit sehr viel mehr Zuver­sicht zum Par­tei­tag gefahren.

Aus­führ­lich lässt sich in Mast­o­don unter dem Hash­tag #bdk24 nach­le­sen, wie die­ser Par­tei­tag gelau­fen ist. Die Zuver­sicht hat sich als berech­tigt erwie­sen; der grü­ne Neu­start ist gelungen.

Im Kern sind es vier Din­ge, die wir auf die­ser BDK gemacht haben:

  • Dank und Wertschätzung
  • Neu­wahl des Bundesvorstands
  • Start in den Wahl­kampf mit dem
  • Beschlüs­se zu aus der Par­tei­ba­sis her­aus gesetz­ten, inhalt­li­chen Themen

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Ampel schaltet auf Notbetrieb

Was für eine Woche, oder eigent­lich: was für ein Tag! Am Mor­gen des 6. Novem­ber 2024 wird klar, dass Donald Trump nicht nur die Prä­si­dent­schafts­wahl klar gewinnt, son­dern auch durch­re­gie­ren kann und eine Mehr­heit der popu­lar vote haben wird. Am Abend des sel­ben Tages dann die Ent­las­sung des Finanz­mi­nis­ters und eine der weni­gen in Erin­ne­rung blei­ben­den Reden des Bun­des­kanz­lers (war­um erst da?). 

Die Ampel schal­tet nun tat­säch­lich in den Not­be­trieb. Das war zwar immer mal wie­der ver­mu­tet wor­den – dass es am Mitt­woch­abend dazu kam, war trotz­dem uner­war­tet. Chris­ti­an Lind­ner hat­te wohl einen etwas ande­ren Zeit­plan im Kopf. Trotz Feh­de­hand­schuh Wirt­schafts­pa­pier wirk­te er über­rascht, dass der Kanz­ler ihn tat­säch­lich vor die Tür setz­te. Und eben­so über­ra­schend folg­ten nur zwei der drei FDP-Minister*innen ihrem Parteichef. 

Umge­hend wur­de nach­be­setzt – für eine rot-grü­ne Min­der­heits­re­gie­rung mit unkla­rem Ablauf­da­tum. Das Gezer­re über den Ter­min der Ver­trau­ens­fra­ge wirkt unwür­dig und so, als sei­en alle Sei­ten nur auf ihren jewei­li­gen Vor­teil bedacht. Am absur­des­ten die Uni­on, die einer­seits mög­lichst sofort wäh­len las­sen möch­te, aber ande­rer­seits noch weit hin­ten dran ist mit Lis­ten­par­tei­ta­gen und Nomi­nie­run­gen. Mit Blick auf das Innen­le­ben von Par­tei­en und Wahl­be­hör­den und mit den ja durch­aus begrün­de­ten Fris­ten ist die von Olaf Scholz vor­ge­schla­ge­ne Wahl Ende März sinnvoll. 

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Die Wahl ist offen – und es kommt auf jede Stimme an

Beim Bun­des­wahl­lei­ter gibt es einen Count­down – dem­nach sind es heu­te noch 38 Tage bis zur Bun­des­tags­wahl. Der Wahl­kampf nimmt all­mäh­lich Fahrt auf. Pla­ka­te hän­gen, die Wahl­be­nach­rich­ti­gun­gen wer­den ver­teilt, und die Spitzenkandidat*innen tou­ren durch die Republik. 

Es lässt sich dar­über strei­ten, wel­chen Bei­trag die Flut­ka­ta­stro­phe, Coro­na samt Del­ta-Wel­le und jetzt das offen­sicht­li­che Unver­mö­gen der Bun­des­re­gie­rung, die mit einem Trup­pen­ab­zug aus Afgha­ni­stan ver­bun­de­nen Fol­gen rich­tig ein­zu­schät­zen haben wer­den – zumin­dest haben sie dazu bei­getra­gen, dass the­ma­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zun­gen jetzt die Agen­da dominieren. 

Gleich­zei­tig ist die Wahl so offen wie wohl sel­ten zu vor. Das Bild oben zeigt den Ver­lauf der Umfra­gen für das letz­te hal­be Jahr (sie­he auch die­sen Bei­trag aus dem Mai). Die aktu­el­len Umfra­ge­er­geb­nis­se las­sen sich so deu­ten, dass wir es im Herbst mit drei gro­ßen Frak­tio­nen (die jeweils etwa 20 Pro­zent der Stim­men +/- 2,5 Pro­zent­punk­te bekom­men haben) und drei klei­ne­ren Frak­tio­nen (mit jeweils etwa 10 Pro­zent +/- 2,5 Pro­zent­punk­te) zu tun haben wer­den. Wei­te­re rund 10 Pro­zent der Stim­men wer­den auf Kleinst­par­tei­en ent­fal­len, die aller Vor­aus­sicht nach nicht im Bun­des­tag ver­tre­ten sein werden. 

Das heißt anders­her­um: aktu­ell haben alle drei Kanzlerkandidat*innen noch ech­te Chan­cen, Kanzler*in zu wer­den. Das hängt bekann­ter­ma­ßen nicht davon ab, wer Sieger*in in Beliebt­heits­um­fra­gen wird oder wer als ers­ter durchs Ziel geht, son­dern ein­zig und allei­ne davon, wer es schafft, auf Grund­la­ge des Wahl­er­geb­nis­ses eine Koali­ti­on auf die Bei­ne zu stel­len, die mehr als die Hälf­te der Sit­ze im Bun­des­tag hin­ter sich bringt und die­je­ni­ge Per­son dann zum Kanz­ler oder zur Kanz­le­rin wählt. 

Anna­le­na Baer­bock und Armin Laschet haben dabei die Ach­ter­bahn­fahrt bereits hin­ter sich – Olaf Scholz galt lan­ge als chan­cen­lo­ser Drit­ter, wit­tert jetzt aber sei­ne Mög­lich­keit, in einer Ampel­ko­ali­ti­on oder gar mit rot-grün Kanz­ler zu wer­den. Das ist natür­lich eine inter­es­san­te Geschich­te, die jetzt flei­ßig erzählt wird. Ob er in einem Monat noch so glänzt, wie das jetzt der Fall ist, wer­den wir dann sehen. Als Vize­kanz­ler einer eher ori­en­tie­rungs­lo­sen Bun­des­re­gie­rung, als jemand, der gro­ße Erin­ne­rungs­lü­cken in Sachen Wire­card hat, und als einer, der Kli­ma­schutz bis­her prak­tisch nicht so wich­tig fand, bie­tet Olaf Scholz jeden­falls genü­gend Stoff, um auch hier nach der Berg- noch eine media­le Tal­fahrt fol­gen zu lassen.

Gleich­zei­tig beginnt in Kür­ze die Brief­wahl, die dies­mal sicher­lich wich­ti­ger wer­den wird als 2017. Inso­fern wer­den die ers­ten Stim­men bald abgegeben. 

Noch ist vie­les offen. Und mehr denn je kommt es auf jede Stim­me an. Bei den Direkt­man­da­ten ent­schei­det sich, ob es einen kom­plett auf­ge­bläh­ten Bun­des­tag geben wird, oder ob Direkt­man­da­te und Anteil am Wahl­er­geb­nis für CDU/CSU, GRÜNE und SPD etwa aus­ge­gli­chen sein wer­den. Und bei den Zweit­stim­men wer­den es am Schluss, wenn sich nicht noch gra­vie­rend etwas ändert, weni­ge Pro­zent­punk­te sein, die dar­über ent­schei­den, wer Kanzler*in wird. Wer jetzt eine der zwei Dut­zend Klein­par­tei­en wählt, ist an die­ser Ent­schei­dung nicht betei­ligt. Wer eine Kanz­le­rin Anna­le­na Baer­bock und grü­ne Richt­li­ni­en­kom­pe­tenz in der nächs­ten Bun­des­re­gie­rung haben möch­te, muss (außer­halb des lei­der ver­murks­ten Saar­lands) grün wäh­len. Wer glaubt, dass Scholz oder gar Laschet das bes­ser kön­nen, muss SPD oder CDU wählen. 

Ob die FDP in eine Ampel­ko­ali­ti­on gehen wird, erscheint zum jet­zi­gen Zeit­punkt als unsi­cher. Und eben­so ist die Regie­rungs­taug­lich­keit und Regie­rungs­wil­lig­keit der LINKEN höchst frag­wür­dig. 2011 in Baden-Würt­tem­berg reich­ten 24,2 bzw. 23,1 Pro­zent für die ers­te grün-rote Koali­ti­on. Vor einem hal­ben Jahr hät­te ich das für völ­lig unwahr­schein­lich gehal­ten, inzwi­schen kann ich es mir aber vor­stel­len, dass GRÜNE und SPD zusam­men die rund 47, 48 Pro­zent auf die Bei­ne stel­len, die für eine sol­che Koali­ti­on not­wen­dig wären – aus mei­ner Sicht natür­lich zehn Jah­re nach Baden-Würt­tem­berg 2011 mit grün vor­ne, und damit mit einer klar auf Kli­ma­schutz und huma­ni­tä­re Außen­po­li­tik fokus­sier­ten Kanzlerin. 

Kurz: Merz statt Merkel?

Die Fra­ge, wie ein mög­li­cher Kanz­ler­kan­di­dat Merz zu bewer­ten sei, führ­te auf mei­nem Face­book-Account zu einer regen Debat­te. Ins Auge ste­chen, auch nach der Pres­se­kon­fe­renz heu­te, vor allem zwei Aspek­te. Par­tei­po­li­tisch wür­de Merz die CDU kla­rer auf der kon­ser­va­ti­ven Sei­te des poli­ti­schen Spek­trums posi­tio­nie­ren. Das könn­te dazu füh­ren, dass die CDU Wähler*innen von der AfD zurück­ge­winnt, es könn­te aber auch dazu füh­ren, dass Men­schen, die eine unter Mer­kel etwas libe­ra­ler und „mit­ti­ger“ gewor­de­ne CDU wähl­bar fan­den, sich dau­er­haft wie­der davon abkeh­ren. Das könn­te den in Bay­ern und Hes­sen zu beob­ach­ten­den Trend einer Wäh­ler­wan­de­rung von der CDU zu Bünd­nis 90/Die Grü­nen stär­ken. Auch im Sin­ne einer kla­ren Unter­scheid­bar­keit poli­ti­scher Ange­bo­te wäre eine Merz-CDU mög­li­cher­wei­se gar nicht so blöd. Ein Neben­ef­fekt könn­te dann der sein, dass Grün dau­er­haft zur zwei­ten Kraft in Deutsch­land wird.

Aber es gibt ja nicht nur eine par­tei­po­li­ti­sche Per­spek­ti­ve. Für das Land wäre ein mög­li­cher Kanz­ler Merz ein deut­li­cher Rück­schritt. Kaum jün­ger als Mer­kel, dafür deut­lich kon­ser­va­ti­ver und „schnit­ti­ger“, ein Mann, eng mit der „Groß­in­dus­trie“, wie das frü­her ein­mal hieß, ver­bun­den. Eher so 1998 als 2018. Und eine Koali­ti­on, womög­lich gar eine Jamai­ka-Koali­ti­on, mit einer rechts­kon­ser­va­ti­ven CDU und einer wirt­schaft­li­be­ra­len FDP – auch das ist schwie­ri­ger vor­stell­bar als in der aktu­el­len Konstellation.

Aber viel­leicht ist es ja die Syn­the­se bei­der Argu­men­te, die wei­ter­hilft: ein Kanz­ler­kan­di­dat Merz – mög­li­cher­wei­se wäre das die Pro­jek­ti­ons­flä­che, um in einer Bun­des­tags­wahl von der bür­ger­lich-libe­ra­len Mit­te bis nach links zu mobi­li­sie­ren und dann eine Mehr­heit jen­seits der CDU/CSU zu fin­den. Oder, wie es Bernd Ulrich von der ZEIT auf Twit­ter ges­tern auf den Punkt brachte: 

„Nur damit hin­ter­her nie­mand sagt, ich hät­te es vor­her sagen sol­len: Wenn #Merz Vor­sit­zen­der wird, wird #Habeck Kanz­ler. #Grü­ne “.

Letzt­lich muss die CDU ent­schei­den, wie sie nach Mer­kels vor­züg­lich in Sze­ne gesetz­tem Aus­stieg wei­ter­ma­chen möchte.

Oh, wie schön war Jamaika

May V

Ich war dann doch ver­nünf­tig genug, ges­tern Abend vor Mit­ter­nacht ins Bett zu gehen. Da sah es noch so aus, als wür­de es eine Eini­gung in den Jamai­ka-Son­die­rungs­ver­hand­lun­gen geben kön­nen. Irri­tie­ren­de Tweets von Nico­la Beer, dass wie­der alles offen sei, mal bei­sei­te. Jeden­falls wur­de klar, wo die grü­nen Schmerz­gren­zen lie­gen. Ein CSU-Hin­ter­bänk­ler ver­kün­de­te Eini­gun­gen bei siche­ren Her­kunfts­län­dern, in mei­ner Time­line folg­te fast schon ritua­li­sier­te Empö­rung, bis des­sen 15 Minu­ten vor­bei waren, und das Gan­ze sich als Gerücht entpuppte. 

Dass die Ver­hand­lun­gen sich so lan­ge hin­zo­gen, hät­te irri­tie­ren kön­nen. Am frü­hen Abend lag für mein Gefühl, was ich so las und wahr­nahm, der Abbruch schon in der Luft. Ich schrieb, dass hier ein Paar ver­han­delt, des­sen Bezie­hung geschei­tert ist, dass sich das Ende aber nicht ein­ge­ste­hen möch­te. Als sich die Gesprä­che dann doch wei­ter in den Abend hin­zo­gen, war mei­ne Inter­pre­ta­ti­on ein „jetzt haben sie’s“, der Punkt des Schei­terns schien über­wun­den, der letz­te Kom­pro­miss gefun­den, der Kno­ten durchgehauen.

Wie weit unser grü­nes Son­die­rungs­team dabei tat­säch­lich gegan­gen ist, und wie weit die Par­tei dem gefolgt wäre, wer­den wir nun aller­dings nicht erfah­ren. Denn zur Abstim­mung über die Auf­nah­me von Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen wird es nicht kommen. 

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