Auch im Regen schön.
Klimastreik und Klimawahl
Dass in Deutschland mehr als eine halbe Million Menschen – viele junge Menschen, aber auch viele Ältere – gestern auf die Straße gegangen sind, ist ermutigend. Zugleich macht es noch einmal deutlich, das Timing des Klimastreiks war kein Zufall, dass es bei der Wahl morgen um etwas geht. Klima ist kein Thema wie jedes andere, sondern hat eine existenzielle Dimension. Aktienkurse, Arbeitsplätze oder auch nur der Parkplatz fürs Auto: all das hängt an einer Voraussetzung, die wir Menschen durchaus beeinflussen können. Wer den Klimawandel nicht eindämmt, wer keine Lösung für die Klimakrise angeht, zerstört zukünftige Freiheit. Und jedes Starkregenereignis, jeder trockene Sommer macht deutlich, dass diese Zukunft schon hier ist, und dass die Klimakrise nicht irgendwo in der räumlichen oder zeitlichen Ferne ablaufen wird, sondern in unserem Wohnzimmer.
Das inhaltliche Spektrum der Klimastreiks ist weit gefasst. Zwischen „system change, not climate change“ und „go vegan“ liegen Welten. Gemeinsam ist all denen, die gestern auf die Straße gegangen sind, dass das Handeln der Politik nicht als ausreichend angesehen wird.
Am Sonntag ist Wahl. Inzwischen dringt die umweltsozialwissenschaftlich alte Erkenntnis ins Licht der Öffentlichkeit, dass nachhaltige Konsumentscheidungen, gar ein ökologisch orientierter Lebensstil zwar individuell erfreuen mögen, und mit dem Gefühl verbunden sind, etwas Gutes zu tun, aber dass der eigentliche Hebel eben nicht die Konsument*innen sind, sondern die Infrastrukturen und Rahmenbedingungen, unter denen wir leben, wirtschaften und arbeiten. Der größere Teil des „individuellen Fußabdrucks“ hängt davon ab, wie ein Land seine Verkehrs- und Energiepolitik gestaltet, welche Art von Wohnraum angeboten wird, ob emissionsfreie Mobilität angeboten wird und wie genau in der Landwirtschaft auf Treibhausgasemissionen geachtet wird.
Viel wichtiger, ob der eigene Lebensstil aus Steaks und Lastenrädern oder aus vegetarischen Genüssen bei voll ausgestatteter 24/7‑Heimelektronik besteht, ist deswegen die Entscheidung, die morgen ansteht. Denn wenn die Floskel von der Macht der Verbraucher*innen wahr ist, dann am Wahltag. Wer im Angesichts der existenziellen Klimakrise besser regiert werden will, kann dafür morgen seine Stimme abgeben und damit beeinflussen, wie die Infrastrukturen und politischen Rahmenbedingungen in Deutschland in den entscheidenden nächsten Jahren aussehen werden.
Viele haben das schon getan. Wer noch unschlüssig ist, dem empfehle ich, grün zu wählen. Nicht, weil unser Klimaprogramm perfekt ist, sondern weil es – das jedenfalls das Ergebnis einer Studie des DIW im Auftrag der Stiftung Klimaneutralität – am nächsten an das herankommt, was notwendig wäre, um auf den 1,5‑Grad-Pfad zu kommen. Deswegen ist es wichtig, dass der nächsten Bundesregierung starke Grüne angehören. Und deswegen ist es wichtig, keine Kleinstpartei zu wählen und sich auch nicht auf taktische Verästelungen einzulassen. Wer Klimaschutz, wer starke Grüne in der Regierung haben möchte, muss grün wählen.
Gleichzeitig ist schon jetzt klar, dass das nicht reichen wird. Auch wenn das grüne Klimaschutzsofortprogramm in möglichen Koalitionsverhandlungen zu einhundert Prozent umgesetzt würde, reicht das nicht aus. Daher ist es umso wichtiger, dass gestern noch einmal deutlich gemacht wurde, dass die junge Generation – viele, die noch nicht wahlberechtigt sind – nicht aufhören werden, einzufordern, dass der Kampf gegen die Klimakrise höchste Priorität bekommt. Dieser Druck wird weiter notwendig sein, um Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen ein gutes Leben in Zukunft möglich sein wird.
Die letzte Woche
Ich finde Wahlen wichtig, und ich verfolge nicht nur die baden-württembergischen und die bundesweiten Wahlen, sondern schaue gespannt auch auf die Wahlen in anderen Ländern. Mal mitfiebernd und begeistert, mal eher enttäuscht und entgeistert ob der Entscheidung der Wählenden. Wahlkampf ist dagegen eher ein notwendiges Übel – klar, es ist wichtig, die unterschiedlichen Personen und Positionen bekannt zu machen, einen öffentlichen Diskurs darüber zu entzünden, zu mobilisieren (oder, in Merkels Fall: auch mal zu demobilisieren). Aber Begeisterung lösen Wahlkämpfe bei mir nicht aus.
Dieser Wahlkampf geht jetzt in seine letzte Woche. Am Sonntag hatten FDP und GRÜNE noch einmal Parteitage. Stärker als zu anderen Zeiten sind diese Parteitage Inszenierung. Hier geht es nicht um innerparteiliche Meinungsbildung und auch nicht um interne Vernetzung – sondern schlicht darum, noch einmal Aufmerksamkeit zu bekommen, um auf den letzten Metern Botschaften in die Welt senden zu können. In die Welt draußen, um die letzten noch unentschlossenen Wähler*innen zu erreichen, und in die Welt drinnen, um Geschlossenheit herzustellen, den eigenen Leuten zu danken und diese für den Schlusssprint zu motivieren.
Nebenbei: was ich an meiner Partei mag, ist die Tatsache, dass wir auch im Gegenwind und im Regen solidarisch bleiben. Die Umfragewerte sahen schon mal besser aus, und die Angriffe auf die Person der Kanzlerkandidatin zu Beginn des Wahlkampfs haben die Wahrnehmung von Annalena Baerbock in der Öffentlichkeit nachhaltig beeinträchtigt. Klar gab es eigene Fehler. Aber es fällt doch auf, mit was für unterschiedlichen Maßstäben da teilweise gemessen wird. Und wie immer wieder die selben Geschichten erzählt wurden. Gegen diese vorher gefassten Urteile kommen ihre extrem starken, kompetenten und empathischen Auftritte in den Triellen und auf den Marktplätzen nur schwer an. Das ist ein Wahlkampf mit Gegenwind und Regenschauern. Und genau da finde ich es wichtig, dass wir als Partei Haltung bewahren, dass wir weiter kämpfen und alles dafür geben, zu überzeugen. Nicht als Parteisoldatentum, bei dem schön geredet wird, aber eben auch nicht – da blicke ich auf die Union – als Wegrücken vom eigenen Kandidaten. Und ich jedenfalls erlebe uns als eine Partei, in der Solidarität und Geschlossenheit gelebt werden.
Ich mag Wahlkämpfe nicht, vor allem da nicht, wo sie – notwendiges Übel – in Richtung Show und Werbung abdriften. In meiner naiven Idealvorstellung entscheiden Wählerinnen und Wähler danach, welche politischen Vorhaben und welche Personen sie überzeugen. Wahlkampf erscheint mir all zu oft als ein Versuch, das zu vernebeln. Nicht umsonst erinnern die Plakatwände an die falschen Hausfassaden einer Wildweststadt, die nach Ende des Filmdrehs zusammengeklappt und weggeräumt werden. Natürlich vermitteln Plakate und Auftritte ein Image. Natürlich geht es darum, eine Geschichte zu erzählen und zu hoffen, dass andere mitmachen und diese Geschichte ebenfalls erzählen. Und die Instrumente, die versuchen, Parteiprogramme runterzubrechen, wie etwa der Wahl-o-mat, sind dann schnell unterkomplex. Ganz so einfach ist es mit dem Fokus auf die Inhalte also auch nicht. Trotzdem bin ich überzeugt davon, dass ein kürzerer und fokussierterer Wahlkampf dieser Republik gut tun würde.
Die Legislaturperiode des Bundestags dauert vier Jahre, das sind 48 Monate. Koalitionsverhandlungen und die Bildung einer Regierung nehmen inzwischen gerne ein halbes Jahr ein, bleiben 42 Monate. Die Zeit, in der Politik in Wahlkampf kippt, ist je nach Partei unterschiedlich. Das Parteiprogramm wurde im Juni beschlossen – vier Monate vor der Wahl. Die Entscheidung über die Kanzlerkandidatin fiel im April und der Programmentwurf wurde bereits im März vorgestellt, damit sind wir schon sieben Monate vor der Wahl. Schon davor wurde in den Parteigremien daran gearbeitet, und mit den ersten Überlegungen für Listenkandidaturen sowie dann den ersten Listenwahlen in den Ländern sind wir im Herbst und Winter 2020/2021. Netto bleiben vielleicht 34, 35, 36 Monate, alle übrigen Wahlen und Wahlkämpfe mal außen vor gelassen. So richtig viel Zeit ist das nicht.
Aber vielleicht ist diese Trennung ja auch eine künstliche. Vielleicht würde ein kürzer „echter“ Wahlkampf nur dazu führen, dass die eigentliche parlamentarische Arbeit stärker als jetzt schon zu einem Wahlkampf in Permanenz wird, immer darauf bedacht, viel zu versprechen.
Diese Wahl ist eine andere als frühere Wahlen. Es ist die erste Bundestagswahl, die aufgrund der Corona-Bedingungen und der Erfahrungen bei der Europawahl und bei den Landtagswahlen eine hohe Zahl an Briefwähler*innen mit sich bringen wird. Und es ist, darüber wurde viel geschrieben, eine Wahl, in der die Kanzlerin nicht antritt. Und es ist die erste Wahl, in der die Klimakrise richtig spürbar ist.
Dazu kommen die kontraintuitiven Elemente des Wahlrechts. Möglicherweise wird dieser Bundestag so groß wie nie zuvor, und möglicherweise führt das Zusammenspiel von Direktmandaten und Ausgleich- und Überhangsmandaten gerade bei einem schwächeren grünen Ergebnis zu einer (in absoluten Zahlen) extrem großen grünen Fraktion. Das dürfte die Kandidat*innen auf den hinteren Listenplätzen freuen – zur Arbeitsfähigkeit des Bundestags trägt es nicht bei, und für eine starke grüne Regierungsbeteiligung ist ebenfalls die relative Stärke wichtiger.
Ob unter diesen Bedingungen die alten Weisheiten noch gelten – dass Wählende sich erst kurz vor dem Wahltag entscheiden; all das, was die Politikwissenschaft über die Dynamik von Umfragen und Wahlergebnissen weiß – ist unklar. Ich jedenfalls bin extrem gespannt, was der nächste Sonntag für ein Ergebnis bringen wird, und was die Parteien dann daraus machen werden. Allem Hadern mit „falschen“ Wahlentscheidungen und allen Unzulänglichkeiten des Wahlsystems zum Trotz bin ich froh, in einem Land zu leben, in dem es eine echte Auswahl gibt, in dem Wahlen frei, gleich und geheim sind. Kämpfen wir jetzt mit Überzeugung und schauen dem Sonntag mit Gelassenheit entgegen.
Die Wahl ist offen – und es kommt auf jede Stimme an
Beim Bundeswahlleiter gibt es einen Countdown – demnach sind es heute noch 38 Tage bis zur Bundestagswahl. Der Wahlkampf nimmt allmählich Fahrt auf. Plakate hängen, die Wahlbenachrichtigungen werden verteilt, und die Spitzenkandidat*innen touren durch die Republik.
Es lässt sich darüber streiten, welchen Beitrag die Flutkatastrophe, Corona samt Delta-Welle und jetzt das offensichtliche Unvermögen der Bundesregierung, die mit einem Truppenabzug aus Afghanistan verbundenen Folgen richtig einzuschätzen haben werden – zumindest haben sie dazu beigetragen, dass thematische Auseinandersetzungen jetzt die Agenda dominieren.
Gleichzeitig ist die Wahl so offen wie wohl selten zu vor. Das Bild oben zeigt den Verlauf der Umfragen für das letzte halbe Jahr (siehe auch diesen Beitrag aus dem Mai). Die aktuellen Umfrageergebnisse lassen sich so deuten, dass wir es im Herbst mit drei großen Fraktionen (die jeweils etwa 20 Prozent der Stimmen +/- 2,5 Prozentpunkte bekommen haben) und drei kleineren Fraktionen (mit jeweils etwa 10 Prozent +/- 2,5 Prozentpunkte) zu tun haben werden. Weitere rund 10 Prozent der Stimmen werden auf Kleinstparteien entfallen, die aller Voraussicht nach nicht im Bundestag vertreten sein werden.
Das heißt andersherum: aktuell haben alle drei Kanzlerkandidat*innen noch echte Chancen, Kanzler*in zu werden. Das hängt bekanntermaßen nicht davon ab, wer Sieger*in in Beliebtheitsumfragen wird oder wer als erster durchs Ziel geht, sondern einzig und alleine davon, wer es schafft, auf Grundlage des Wahlergebnisses eine Koalition auf die Beine zu stellen, die mehr als die Hälfte der Sitze im Bundestag hinter sich bringt und diejenige Person dann zum Kanzler oder zur Kanzlerin wählt.
Annalena Baerbock und Armin Laschet haben dabei die Achterbahnfahrt bereits hinter sich – Olaf Scholz galt lange als chancenloser Dritter, wittert jetzt aber seine Möglichkeit, in einer Ampelkoalition oder gar mit rot-grün Kanzler zu werden. Das ist natürlich eine interessante Geschichte, die jetzt fleißig erzählt wird. Ob er in einem Monat noch so glänzt, wie das jetzt der Fall ist, werden wir dann sehen. Als Vizekanzler einer eher orientierungslosen Bundesregierung, als jemand, der große Erinnerungslücken in Sachen Wirecard hat, und als einer, der Klimaschutz bisher praktisch nicht so wichtig fand, bietet Olaf Scholz jedenfalls genügend Stoff, um auch hier nach der Berg- noch eine mediale Talfahrt folgen zu lassen.
Gleichzeitig beginnt in Kürze die Briefwahl, die diesmal sicherlich wichtiger werden wird als 2017. Insofern werden die ersten Stimmen bald abgegeben.
Noch ist vieles offen. Und mehr denn je kommt es auf jede Stimme an. Bei den Direktmandaten entscheidet sich, ob es einen komplett aufgeblähten Bundestag geben wird, oder ob Direktmandate und Anteil am Wahlergebnis für CDU/CSU, GRÜNE und SPD etwa ausgeglichen sein werden. Und bei den Zweitstimmen werden es am Schluss, wenn sich nicht noch gravierend etwas ändert, wenige Prozentpunkte sein, die darüber entscheiden, wer Kanzler*in wird. Wer jetzt eine der zwei Dutzend Kleinparteien wählt, ist an dieser Entscheidung nicht beteiligt. Wer eine Kanzlerin Annalena Baerbock und grüne Richtlinienkompetenz in der nächsten Bundesregierung haben möchte, muss (außerhalb des leider vermurksten Saarlands) grün wählen. Wer glaubt, dass Scholz oder gar Laschet das besser können, muss SPD oder CDU wählen.
Ob die FDP in eine Ampelkoalition gehen wird, erscheint zum jetzigen Zeitpunkt als unsicher. Und ebenso ist die Regierungstauglichkeit und Regierungswilligkeit der LINKEN höchst fragwürdig. 2011 in Baden-Württemberg reichten 24,2 bzw. 23,1 Prozent für die erste grün-rote Koalition. Vor einem halben Jahr hätte ich das für völlig unwahrscheinlich gehalten, inzwischen kann ich es mir aber vorstellen, dass GRÜNE und SPD zusammen die rund 47, 48 Prozent auf die Beine stellen, die für eine solche Koalition notwendig wären – aus meiner Sicht natürlich zehn Jahre nach Baden-Württemberg 2011 mit grün vorne, und damit mit einer klar auf Klimaschutz und humanitäre Außenpolitik fokussierten Kanzlerin.