Die Schulz-Story von Markus Feldenkirchen – ich habe den Fehler gemacht, sie als Hörbuch zu kaufen und gemerkt, dass das einfach nicht mein präferierter Wahrnehmungskanal ist, aber das ist eine andere Geschichte – also: die Schulz-Story ist ein beeindruckendes Stück Journalismus, bis hin zu den wie nebenbei in den Text eingestreuten Erläuterungen zu Fachbegriffen und politischen Situationen. Sie lässt sich auf drei Ebenen lesen: als Text über die Person Martin Schulz, als Text über den Zustand der SPD, und als Text über einige Dysfunktionalitäten unseres politischen Systems.
Parteitag im Konjunktiv
Irgendwann fiel mir dann auf, wie oft in den Reden von „hätten“, „würde“ und „wäre“ die Rede war. Klar, nicht ganz verwunderlich – schließlich war der eigentliche Anlass des Parteitags kurz vor Mitternacht am vorherigen Sonntag spontan verschwunden. Und selbstverständlich spielten die Ergebnisse der abgebrochenen Sondierungen und deren Bewertung eine große Rolle – von der Enttäuschung und Trauer über verpasste Chancen, in den Klimaschutz einzusteigen, und weitere Einschränkungen beim Familiennachzug zu verhindern, bis zur halbwegs unverhohlenen Freude darüber, die Zumutung Jamaika nicht auf sich nehmen zu müssen.
Und klar, dass sich diese Emotionalität vor allem in Richtung FDP entlud. Cem Özdemir stellte klar, dass eine nach rechts und ins populistische abrutschende FDP nicht länger den Anspruch auf Liberalität vertreten könne. Katrin Göring-Eckardt fand die angeblich so mutigen und innovativen Freidemokraten als Kleingeister und Bedenkenträger wieder, als es darum ging, ob Deutschland den Sprung Richtung Energiewende schaffen würde.
Für all das gab es großen Beifall; noch größer nur der Applaus für das Lob für das Sondierungsteam mit seinen vierzehn so verschiedenen Mitgliedern. Gerade darin, und in der kleinteiligen inhaltlichen Vorbereitung im Programmprozess, in der Bundestagsfraktion, aber auch in den Bundesarbeitsgemeinschaften lag ein Grund für das Standing und die begründete Hartnäckigkeit der grünen Sondierer*innen. Wenn wir es schaffen, diese selbstbewusste, inhaltlich fundierte Gemeinsamkeit, diesen Teamgeist in die weitere Zukunft der Partei mitzunehmen, haben wir einiges gewonnen.
Oh, wie schön war Jamaika
Ich war dann doch vernünftig genug, gestern Abend vor Mitternacht ins Bett zu gehen. Da sah es noch so aus, als würde es eine Einigung in den Jamaika-Sondierungsverhandlungen geben können. Irritierende Tweets von Nicola Beer, dass wieder alles offen sei, mal beiseite. Jedenfalls wurde klar, wo die grünen Schmerzgrenzen liegen. Ein CSU-Hinterbänkler verkündete Einigungen bei sicheren Herkunftsländern, in meiner Timeline folgte fast schon ritualisierte Empörung, bis dessen 15 Minuten vorbei waren, und das Ganze sich als Gerücht entpuppte.
Dass die Verhandlungen sich so lange hinzogen, hätte irritieren können. Am frühen Abend lag für mein Gefühl, was ich so las und wahrnahm, der Abbruch schon in der Luft. Ich schrieb, dass hier ein Paar verhandelt, dessen Beziehung gescheitert ist, dass sich das Ende aber nicht eingestehen möchte. Als sich die Gespräche dann doch weiter in den Abend hinzogen, war meine Interpretation ein „jetzt haben sie’s“, der Punkt des Scheiterns schien überwunden, der letzte Kompromiss gefunden, der Knoten durchgehauen.
Wie weit unser grünes Sondierungsteam dabei tatsächlich gegangen ist, und wie weit die Partei dem gefolgt wäre, werden wir nun allerdings nicht erfahren. Denn zur Abstimmung über die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen wird es nicht kommen.
Kurz: Klimaschutzkoalition
Ironie der Geschichte: parallel zu den Jamaika-Koalitionsverhandlungen, äh, Sondierungen findet in Bonn der Klimagipfel statt und macht drei Dinge überdeutlich:
1. Das Zeitfenster, politisch zu handeln und noch etwas dagegen zu unternehmen, dass der Klimawandel katastrophale Folgen zeitigt, ist jetzt – und es schließt sich zunehmend. Auch wie gehandelt werden müsste, ist doch recht klar.
2. Es gibt eine große Koalition der Willigen – Staaten und Staatenbündnisse, Kommunen und Regionen, Wirtschaftsakteure, die viel beschworene Zivilgesellschaft, aber auch z.B. die Mehrheit der Bürger*innen in Deutschland.
3. Die abgewählte Regierung mit Kohleminister Gabriel hat nur wenig bis nichts erreicht – und es sieht nicht so aus, als ob die Bundeskanzlerin hier vorangehen möchte.
Für mich unterstreicht das, dass es eine ordentliche Klimapolitik auf Bundesebene – mit entsprechender internationaler Strahlkraft – nur mit starken Grünen an entscheidenden Stellen geben kann. Leider sieht es bisher nicht danach aus, als ob Jamaika eine Koalition der innovativen Klimaschutz-Maßnahmen werden würde. Wenn das so bleibt, sehe ich wenig Sinn darin, dieses lagerübergreifende Bündnis zu formen.
Morgen Nacht soll das Sondierungsergebnis vorliegen, am 25. November entscheidet die grüne BDK, ob Koalitionsverhandlungen aufgenommen werden sollen. Nach derzeitigem Stand fände ich das schwierig – und würde mich als Ersatzdelegierter auch entsprechend einbringen. Für unsere Zukunft auf diesem Planeten wäre es zu hoffen, dass es bis dahin noch überraschend Bewegung in Sachen Jamaika als Klimaschutzbündnis gibt.
Mal aufgelistet: Was ist jetzt mit Jamaika?
Weil einige danach fragen, was ich von Jamaika halte:
1. Wir sind in diesen Wahlkampf mit Eigenständigkeit gezogen. Das war ernst gemeint.
2. Auf die Ergebnisse – wie viel grüne Inhalte lassen sich durchsetzen, wie viele rechte „Kröten“ sind dabei – kommt es an. Verhandlungen können auch scheitern.
3. So richtig viele Alternativen gibt es im Moment nicht. Ich habe das mal aufgeschrieben:
A. SPD lässt sich überreden, doch nochmal GroKo zu machen. Am Ende der Legislatur ist sie bei 12 %. Grüne stehen als Hasenfüße da, die nach 2013 zum zweiten Mal eine Option ausgeschlagen haben.
B. Jamaika wird erfolgreich verhandelt (d.h. für uns: es tauchen gute und viele grüne Inhalte in uns wichtigen Themen auf), und Jamaika regiert …
B.1 … erfolgreich: Dann dürfte das einen Baden-Württemberg-Effekt haben, wir werden dauerhaft zweistellig und können entsprechend viel umsetzen.
B.2 … weniger erfolgreich: Dann ist das für uns ein existenzielles Risiko (wie Habeck schreibt). Vermutlich würde die Koalition dann irgendwann scheitern. Folgen – unklar.C. Neuwahlen, unabsehbare Konsequenzen, nochmal ein halbes Jahr Wahlkampf, am Schluss vielleicht eine 25-Prozent-AFD oder ein Kanzler Seehofer.
D. Grüne dulden schwarz-gelbe Minderheitenregierung – warum sollten wir, bringt die Risiken von B.2 mit, ohne auch nur den geringsten Einfluss.
E. FDP duldet schwarz-grüne Minderheitenregierung. Etwas wahrscheinlicher als D., weil die FDP nach 2009/2013 vorsichtig ist. Aber ich halte es für unwahrscheinlich.
F. Rot-gelb-rot-grün: Wäre inhaltlich und politisch meine Lieblingsfarbkombi, aber real scheint’s mir völlig unrealistisch. Wagenknecht und Lindner an einem Kabinettstisch?
G. Schwarz-gelb-hellblau -> da würde ich dann übers Auswandern nachdenken.
Mehr fiel mir an Optionen nicht ein. Auch deswegen finde ich es mehr als ok, wenn wir schauen, ob Jamaika inhaltlich möglich ist. Danach wird dann entschieden.
Ich hatte das zuerst auf Facebook gepostet, aufgrund des regen Interesses dort auch noch einmal im Blog. Dort gab es in den Kommentaren auch noch den Hinweis auf einige weitere Möglichkeiten, die ich doch nennen will.
H. Echte Minderheitenregierung nach skandinavischem Vorbild: CDU/CSU stellt die Kanzlerin und das Kabinett, für Vorhaben müssen jeweils Mehrheiten im Parlament gesucht werden. Hätte anders als bei D/E den Vorteil, dass es nicht „echte“ und „unechte“ Mitregierende gibt. Nachteil: die AfD wäre die „einzig wahre Opposition“.
I. Von der CDU geduldete Ampel. Sozusagen die Kombination aus H und einem Kanzlerwechsel. Halte ich für extrem unwahrscheinlich und politisch weit, weit weg von allem, was Deutschland bisher kennt.
J. Konkordanzregierung nach Schweizer Vorbild. Generell clasht das aus meiner Sicht mit der Richtlinienkompetenz der Kanzlerin.
J.1 Ohne AfD, sprich: im Kabinett sitzen Minister*innen von CDU, CSU, SPD, FDP, GRÜNEN und LINKEN. Im Parlament werden jeweils Mehrheiten gesucht. Allerdings wäre die AfD dann die einzige „echte“ Oppositionspartei. Zudem müsste nach Schweizer Vorbild die Kanzlerschaft rotieren – passt nicht zu Deutschland, leider.
J.2 Ohne AfD und ohne LINKE (weil die Union nur mitmacht, wenn Äquidistanz zu allen „extremen Kräften“ gewahrt wird. Faktisch eine supergroße Koalition (vgl. Sachsen-Anhalt), die dann vermutlich eher verwaltet als zu regieren. Könnte zu Deutschland passen, würde aber gleichzeitig entweder zu einer Lahmlegung des Parlaments oder zu einem Systemwechsel im Parlament führen (wechselnde Mehrheiten).
J.3 Konkordanz mit allen Fraktionen inkl. AfD am Kabinettstisch. (Wobei die Minister*innen nach Schweizer Vorbild trotzdem eine Mehrheit im Parlament bräuchten.). Lieber nicht.