Wahlen anderswo sind immer wieder spannend. Zum Beispiel habe ich gestern Nacht einige Zeit auf der Website des isländischen Rundfunks RÚV verbracht. Schließlich hatte die internationale Presse darüber berichtet, dass hier die Weltsensation anstehen könne: die hier deutlich weiblicher und linksliberaler als in Deutschland aufgestellten Piraten unter Birgitta Jónsdóttir waren in den Umfragen zeitweise stärkste Kraft, Birgitta wurde schon zur nächsten Premierministerin ausgerufen.
Während es direkt nach Schließung der Wahllokale (Mitternacht unserer Zeit) so aussah, also ob die Piraten zwar nicht stärkste Kraft, aber mit 18 Prozent doch starke Zweite werden würden, und die vier Mitte-Links-Parteien (Pírataflokkurinn, also die Piraten [P]; Vinstrihreyfingin — grænt framboð, die links-grüne Bewegung [V], Mitglied in der Nordischen Grünen Linken; Samfylkingin – die sozialdemokratische Allianz [S] und Björt framtíð [A], zu deutsch: Glänzende Zukunft, eine pro-europäische sozialliberale Partei) gemeinsam knapp eine Mehrheit im isländischen Alþingi (All-Thing) von 32 Sitzen. Die übrigen 31 Sitze verteilten sich auf die weiterhin starken Konservativen (Sjálfstæðisflokkur, Unabhängigkeitspartei [D]), die Progressiven (Framsóknarflokkur, Fortschrittspartei [B]) – die bisherige Regierungskoalition – und die neu gegründete zentristisch-liberale (Wikipedia sagt: grün-liberalen) Erneuerungspartei Viðreisn [C]. Im Lauf des Wahlabends kehrte sich dieses Sitzverhältnis allerdings um. Im Ergebnis liegen Links-Grüne vor den Piraten, und V+P+S+A haben zusammen 27 Sitze, während die bisherige Koalition (D+B) auf 29 Sitze kommt. Damit dürfte Viðreisn entscheiden, welche Koalition die nächste Regierung stellt.
Neben starken Piraten (14,5%) und starken Links-Grünen (die kommen aktuell auf 15,9%, immer noch das zweitbeste Ergebnis dieses Bündnisses nach 2009) sowie den extremen Verlusten der Progressiven (von 24,4% auf 11,5%), die sich dadurch erklären, dass im Rahmen der Panama-Papers auch Finanzgeschäfte des bisherige Premiers Sigmundur Davíð Gunnlaugsson ans Licht getreten sind, die letztlich zu den Neuwahlen führten, finde ich an diesem Ergebnis vor allem das Abschneiden der Sozialdemokraten interessant. Ich kenne die Politik der 300.000-Einwohner-Insel nicht genau genug, um etwas zu den Hintergründen zu sagen – jedenfalls ist die sozialdemokratische Allianz, die aus mehreren kleineren linken Parteien entstanden ist, von um die 30 Prozent von 1999 bis 2009 bei der letzten Wahl auf 12,9 Prozent 2013 und jetzt auf nur noch 5,7 Prozent abzusinken. Island steht hier ja nicht alleine – generell scheint das 21. Jahrhundert bisher nicht gerade das Jahrhundert der Sozialdemokratie zu werden.
P.S.: Siehe auch Wikipedia zu den isländischen Parlamentswahlen 2016.