Allmählich werden die Vorwürfe gegen Annalena Baerbock so richtig absurd. Abschreiben aus dem eigenen Wahlprogramm? Stipendium bekommen, aber die Dissertation dann doch abgebrochen? Vielleicht lohnt es sich doch mal etwas genauer hinzuschauen, was skandalisiert wird – und ein Blick in die Seilschaften Nordrhein-Westfalens (gerne durch das Deutschland-Bullauge der Weißwäschewaschmaschine) oder in die Terminkalender des ehemaligen Hamburger Bürgermeisters wäre da erhellend. Anyways: statt über den Wahlkampf zu schreiben, hier lieber ein paar blaue Blumen (ich glaube, Zichorien), wie sie am Rand des Rieselfelds grade massenhaft blühen. Oder, wie mein Kind dazu zu sagen pflegte: Mondblumen.
Photo of the week: Fast flowing river Dreisam
Auch wenn es bei weitem nicht das Ausmaß erreicht hat, das in den letzten Tagen über Stuttgart und Tübingen niedergegangen ist – richtig viel und heftig geregnet hat es auch hier in Freiburg. Was dazu führte, dass die Dreisam ihrem Namen alle Ehre machte, der wohl vom keltischen *tragisamā, „die sehr schnelle Fließende“, kommt.
Twitter: Die gute alte Zeitlinie
Gestern Abend las ich erste Tweets dazu, dass Twitter mal wieder mit der Abschaffung der chronologischen Timeline herumexperimentiert. Das soll erstmal „nur“ die Weboberfläche betreffen, noch nicht die Apps – aber trotzdem: mich hat das aufgeschreckt und fast noch mehr geärgert als die gestrigen Wahlkampfquerelen.
Chrono-was? Alle sozialen Medien, die dem Grundprinzip folgen, dass Nutzer*innen die Beiträge ihrer Kontakte sehen, stehen vor dem Grundproblem, diese irgendwie ordnen zu müssen. Bei Twitter (und vor langen Zeiten auch bei Facebook) war dies lange schlicht die einfachste Ordnung: das neuste oben, das älteste unten. Einfach und schlicht, algorithmisch nicht besonders anspruchsvoll, aber für mich ein zentraler Aspekt dessen, was Twitter ausmacht.
In den letzten Jahren hat Twitter immer mal wieder am Interface rumgeschraubt. Längere Tweets, echte Replys statt seltsamer sozialer Konventionen, schickere Eingabefelder, Herzen statt Sternchen und so weiter. Eingeführt wurde leider auch eine (standardmäßig aktivierte) Ansicht der „besten“ Tweets, die sogenannte Startseite.
Ich verstehe, dass es aus technischer Hinsicht reizvoller ist, einen Algorithmus zu programmieren – vielleicht sogar mit einer Prise maschinelles Lernen, wer weiß – der auswählt, welche Tweets eine Nutzer*in zu sehen kriegt. Ein maschinelles best of – wer träumt nicht davon?
Was dabei verloren geht, sind die Nuancen und Zufälligkeiten. Ich jedenfalls möchte alles sehen – auch die uninteressanten Tweets der Leute, denen ich folge. Ich möchte keine Vorschläge, keine Fußballinformationen, am liebsten auch keine Werbung (aber ja, ich verstehe, dass es welche geben muss), kein „Leute, denen du folgst, fanden auch toll“ und erst recht nicht die Top ten der meistgeklickten Tweets Deutschlands. Danke, nein – ich möchte lesen, was die 1500 oder so Leute schreiben, denen ich folge. Nicht mehr und nicht weniger.
Die vor einigen Jahren eingeführte Startseite lässt sich mit einem Klick auf einen Button oben rechts abschalten bzw. auf „neuste Tweets“ (das ist die chronologische Ansicht aller Tweets) umschalten. Eine Zeit lang stellte sich das hartnäckig dann wieder zurück, in der letzten Zeit aber war diese gewählte Ansicht stabil und ich glücklich.
Wenn die Gerüchte stimmen, dass die chronologische Timeline ganz verschwinden soll, dann ist das zumindest für mich ein großer Tropfen in das Fass, doch mal Mastodon oder ähnliches auszuprobieren. Facebook hat die Verödung gezeigt, die ein Wechsel von „alle“ zu „was der Algorithmus für relevant hält“ mit sich bringt – mal ganz zu schweigen von den Radikalisierungseffekten algorithmischer Empfehlungen, sofern diese vor allem auf Klickzahlen beruhen. Dann kommen am Schluss Sex, Gewalt und Tierbabys raus – oder halt viel geklickte AfD-Propaganda.
P.S.: Wenn das hier kein Rant, sondern ein sachlicher Text wäre, würde ich jetzt noch was zu immer weiter eingeschränkten APIs schreiben, und vielleicht auch zum Pro und Contra von Editierbuttons – das lasse ich jetzt aber mal weg und belasse es bei der vorweggenommenen Melancholie des Nutzers, der sich immer mal wieder mit Veränderungen der Interfaces und Funktionsweisen liebgewonnener digitaler Infrastrukturen konfrontiert sieht.
Photo of the week: Opfinger See
Science Fiction und Fantasy – Mai/Juni 2021
Der Frühling ist mit dieser Woche endgültig vorbei, die Tage werden wieder kürzer, und es wird Zeit, mal zu gucken, was ich im Mai und Juni gelesen habe.
- Ich fange mit zwei „Angeguckt“-Dingen an: zum einen die Netflix-Serie Shadow and Bone, die mir sehr gut gefallen hat. Die Buchvorlage kenne ich nicht, insofern kann ich nichts zur Umsetzung sagen, aber diese in einem Second-World-19.-Jahrhundert mit Russland- und Südostasien-Äquivalenten spielende Geschichte – Magie, ein bisschen Coming of Age, Heists und Großmächte. Leider bisher nur eine Staffel, würde gerne wissen, wie es weitergeht.
- Ebenfalls angeschaut (und noch längst nicht fertig): die Prequel Star Trek: Enterprise. 20 Jahre alt, was den Effekten teilweise anzusehen ist, aber interessanter, als ich das gedacht habe – bisher ist die Serie an mir vorbeigegangen. Schön zu sehen, wie einiges von dem, was Star Trek ausmacht, hier noch nicht oder nur in ersten Kernen und Keimen existiert.
- Dann zu den Büchern: von K. Parker habe ich die Engineer-Trilogie gelesen, und zwar alle drei Bände, obwohl ich hin- und hergerissen war, wie ich das finden soll. Ein detailliert ausgemaltes Spätmittelalter/Frühe-Neuzeit-Setting, bis hin zu Zitaten aus fiktiven Büchern, interessante Konflikte, das übergreifende Thema „Soziotechnik“ – aber doch alles sehr militärisch ausgerichtet, und en passant mit Genozid und Massenmord angereichert. Hm.
- Noch ein Klassiker: ich habe endlich mal Octavia Butlers Xenogenesis-Reihe (gesammelt als Lilith’s Brood erschienen) gelesen: nach dem Ende eines schrecklichen Krieges werden die übriggebliebenen Menschen von biotechnisch extrem fortschrittlichen und extrem fremdartigen Außerirdischen in Empfang genommen, die ein großes Interesse daran haben, das eine oder andere faszinierende Element aus dem menschlichen Genmaterial zu übernehmen – rein biologisch. Beeindruckend, auch wenn dem Text an der einen oder anderen Stelle anzumerken ist, dass der erste Band aus dem Jahr 1987 stammt. Im Subtext geht es um Sexualität und Begehren, Hybridisierung und Unterdrückung. Aufgestoßen ist mir der teilweise harte Biologismus – die Oankali können Gene „lesen“ und verändern, und tun das auch reichlich. Sie lesen aber auch Charaktereigenschaften und Prädispositionen aus dem Genmaterial der Menschen, denen sie begegnen.
- Von Charlie J. Anders habe ich Victories greater than death gelesen. Nett, aber mir zu sehr auf die Zielgruppe young adult hin optimiert. Die Heldin ist (wer kennt das Gefühl nicht …) eigentlich eine Außerirdische – irgendwann in ihren Teenagerjahren wird sie auf das große Raumschiff geholt, das sich mitten in einem galaktischen Krieg zwischen der leicht verkleideten Föderation und einer Abspaltung davon befindet. Aus Gründen kommen noch eine Handvoll weitere Außenseiter-Teenager mit an Bord, neben Weltrettung geht’s auch um deren gegenseitigen Gefühle, Verletzungen und so weiter.
- Everina Maxwell hat mit Winter’s orbit sowas wie empathische Space Opera geschrieben. Das Sternenreich der Iskat wird durch lose Verträge mit den Vasallenplaneten verbunden; so richtig gleichberechtigt sind die verschiedenen Planeten jedoch nicht. Aus galaktischem Blick ist Iskat nur eine Nische, alle paar Jahre wird mal geschaut, ob Artefakte brav abgegeben und ein paar grundlegende demokratische Rechte eingehalten werden. Diese Revision steht kurz bevor. Ein Mittel, um die Planeten aneinander zu binden, sind Zweckehen. Dummerweise ist Prinz Taam vor kurzem bei einem Unfall gestorben, sein Partner Jainan muss nun schnell den Playboy-Prinzen Kiem heiraten, um dieses System der Heiratsverträge aufrecht zu halten. Auf einer Textebene geht es um die langsam wachsende Beziehung zwischen den beiden (mit fast schon slapstickhaft-tragischen Missverständnissen) in der arrangierten Ehe, auf der anderen um den Tod von Prinz Taam, der sich als Kriminalfall mit intergalakatischer Relevanz herausstellt und nur der letzte Tropfen in einem Fass der Intrigen darstellt. Sehr empfehlenswert, hat mir gut gefallen.
- Und nochmal sowas wie Feel-Good-Space-Opera – Becky Chambers hat mit The Galaxy, and the Ground within den vierten und letzten Teil ihrer sehr schönen Wayfarers-Serie vorgelegt. Eine Reihe von ganz unterschiedlichen Wesen stranden in einer Art Motel am Wurmloch; nach und nach lernen wir diese und deren Geschichten und Hintergründe kennen. Erst ein Notfall bringt diese Fremden zusammen. Die große Weltraumpolitik schwingt nur im Hintergrund mit, fast schon ein Kammerspiel. Aber gerade der Blick auf den Alltag (in einer Krisensituation) macht die Stärke dieses Buchs aus. Die Hauptpersonen lernen sich kennen, wir lernen sie kennen und verstehen. Falls sich Bücher mit Computerspielen vergleichen lassen: auch wenn die Geschichte nichts damit zu tun hat, war mein imaginiertes Look and Feel bei diesem Buch das von Stardew Valley. Ein guter Abschluss für die Wayfarer.