Spurensuche nach Gender-Aspekten in einem Forschungsprogramm

Zoom to the forest floorDie UB Frei­burg hat soeben den Arbeits­wis­sen­schaft­li­chen For­schungs­be­richt Nr. 9 frei­ge­schal­tet: „Gen­der-Aspek­te im For­schungs­pro­gramm ‚Nach­hal­ti­ge Wald­wirt­schaft‘ – eine Spurensuche“. 

In die­sem klei­nen Auf­satz, der ein Neben­pro­dukt mei­ner For­schungs­tä­tig­keit im Pro­jekt wa’­gen dar­stellt, berich­te ich über die Ergeb­nis­se einer klei­nen Befra­gung im For­schungs­pro­gramm Nach­hal­ti­ge Wald­wirt­schaft des BMBF. Ziel der Befra­gung der ein­zel­nen Pro­jek­te in die­sem For­schungs­pro­gramm war es, her­aus­zu­fin­den, wie das Quer­schnitts­the­ma Geschlecht in die­sem Pro­gramm inhalt­lich umge­setzt wur­de, und wel­che Rol­le Gen­der Main­strea­ming und Frau­en­för­de­rung als erklär­te Zie­le der For­schungs­po­li­tik struk­tu­rell gespielt haben. 

Die Ergeb­nis­se sind so erwart­bar wie ernüch­tern und unter­strei­chen die Not­wen­dig­keit einer wei­te­ren Beschäf­ti­gung mit der wis­sen­schafts­po­li­ti­schen Fra­ge nach der Bedeu­tung von Geschlecht. Dies betrifft sowohl die inhalt­li­che Ebe­ne wie auch die Fra­ge, wie sich die struk­tu­rell unsi­che­re Pro­jekt­for­schung im For­schungs­all­tag und in den Rah­men­be­din­gun­gen der För­de­rer mit poli­ti­schen Ziel­set­zun­gen wie etwa der Ver­ein­bar­keit von Beruf und Fami­lie oder eben auch der klas­si­schen Gleich­stel­lungs­po­li­tik zusam­men­brin­gen las­sen kann. 

Ich bin gespannt, ob sich aus­ge­hend von die­sem Bericht – der tat­säch­lich eher Fra­gen auf­wirft als sie zu beant­wor­ten – eine Debat­te ent­wi­ckelt und wür­de mich über Dis­kus­si­ons­bei­trä­ge und Kri­tik freuen.

War­um blog­ge ich das? Weil ich das The­ma „Geschlecht und Wis­sen­schafts­po­li­tik“ wich­tig finde.

Zwischenstation (Update 2)

Nur kurz ein Lebens­zei­chen (für alle, die mei­nen Micro­blog­ging-Twit­ter-Feed igno­rie­ren): ich war bis gera­de eben auf dem 34. Kon­gress der Deut­schen Gesell­schaft für Sozio­lo­gie im beschau­li­chen Jena, und wer­de dann mor­gen zum grü­nen Lis­ten­auf­stel­lungs­par­tei­tag für Baden-Würt­tem­berg fah­ren (Hen­ning wird wohl live berich­ten). Zur Lis­ten­auf­stel­lung jetzt nichts wei­ter, zum Sozio­lo­gie­kon­gress noch ein paar Eindrücke:

Von der Besu­che­rIn­nen-Zahl her war der Kon­gress (dies­mal unter dem Mot­to „Unsi­che­re Zei­ten“) groß und bunt wie immer. Ins­ge­samt fand ich ihn sehr gelun­gen, vor allem auch die räum­li­che Nähe (fast alles in einem Gebäu­de, ganz anders als in Kas­sel vor zwei Jah­ren). Es gab eine gewis­se Arhyth­mik im Pro­gramm: mor­gens oft nicht so ganz span­nen­de Ple­nen par­al­lel, nach­mit­tags ungfähr 25 Ver­an­stal­tun­gen zur Aus­wahl, und abends ein nichts so ganz über­schnei­dungs­frei­es Programm.

Im Vor­feld habe ich von Leu­ten mit ande­rem Fach­hin­ter­grund gehört, dass ein ganz­wö­chi­ger Kon­gress ja Luxus sei. Aber ich glau­be, genau die­ser Luxus macht viel für die (wie ich immer noch fin­de, sehr star­ke) Fach­iden­ti­tät aus. Nicht nur, dass so ein Kon­gress – er fin­det übri­gens alle zwei Jah­re statt – ein exzel­len­ter Gene­ra­tor für zufäl­li­ge Begeg­nun­gen (und den Über­blick über das sozio­lo­gi­sche Publi­ka­ti­ons­we­sen) ist. Er trägt auch stark dazu bei, sich zu ver­ge­wis­sern, dass es da – bei allen Schu­len­bil­dun­gen und hef­ti­gen Hahnen‑, Hen­nen- und Kücken­kämp­fen – eine weit geteil­te gemein­sa­me Grund­stim­mung gibt. Er nor­ma­li­siert den Modus der Ver­un­si­che­rungs­er­war­tung und ver­stärkt die Wahr­neh­mung, dass es eben doch noch ziem­lich vie­le ande­re gibt, die ähn­li­che Welt­be­ob­ach­tun­gen anstel­len. Also: Gemein­schafts­bil­dung (beson­ders gut sicht­bar in der Abschluss­ver­an­stal­tung, in der unter dem Mot­to „Män­ner auf ver­lo­re­nem Pos­ten“ eine Sozio­lo­gin und ein (sehr sozi­al­wis­sen­schaft­li­cher) His­to­ri­ker sowie 1000 Sozio­lo­gIn­nen mit einer pro­vo­kant-bio­lo­gis­ti­schen Medi­zi­ne­rin und Gerichts­gut­ach­te­rin dis­ku­tier­ten. Soll­te inter­dis­zi­pli­när sein, mach­te aber noch­mal klar, dass es sehr, sehr vie­le Men­schen gibt, die die Selbst­ver­ständ­lich­keit einer sozia­len Kon­struk­ti­on von Geschlech­ter­rol­len tei­len und mit so Kon­struk­ten wie der „natür­li­chen müt­ter­li­chen Für­sor­ge“ und dem „beschüt­zen­den Mann“ nichts anfan­gen kön­nen. Inso­fern span­nend, und ein schö­nes Mit­tel zum ima­gi­ned com­mu­ni­ty buil­ding).

Was habe ich selbst auf dem Kon­gress gemacht? 

1. Mir eini­ge Sachen ange­hört – u.a. Ire­ne Döl­ling, die noch mal sehr schön deut­lich gemacht hat, wie post­for­dis­ti­sche Ent­gren­zun­gen und die Auf­he­bung der Insti­tu­tio­nen im Beck­schen Indi­vi­dua­lis­mus letzt­lich natür­lich auch sowas wie Geschlech­ter­ar­ran­ge­ments irri­tie­ren und ver­än­dern. Und die Debat­te neben Nan­cy Fraser und Axel Hon­neth, die so mit­tel­span­nend war. Und noch ein paar Vor­trä­ge da und dort.

2. An den Ver­an­stal­tun­gen der Sek­ti­on Umwelt­so­zio­lo­gie teil­ge­nom­men (die Ple­nar­ver­an­stal­tung gemein­sam mit der Wis­sen­schafts- und Tech­nik­so­zio­lo­gie et al. hat mir gut gefal­len, die „Neue Trends“-Sektion war etwas schräg, da hät­te ich mir mehr erwar­tet, und die von mir mit­or­ga­ni­sier­te und mode­rier­te Sektions+Nachwuchsgruppensitzung heu­te hat mei­ne eige­nen Erwar­tun­gen trotz eini­ger tech­ni­scher Pro­ble­me zu Beginn deut­lich über­trof­fen – dort gab es vier Vor­trä­ge zum Kli­ma­wan­del, die, so mein viel­leicht etwas vor­ein­ge­nom­me­ner Ein­druck, ins­ge­samt ein sehr run­des Bild der sozio­lo­gi­schen Kli­ma­wan­delsde­bat­te gege­ben haben, und gezeigt haben, was Umwelt­so­zio­lo­gie alles machen kann. Von der Wis­sen­schafts­de­kon­struk­ti­on bis zu All­tags­prak­ti­ken und Fra­gen der (miss­lun­ge­nen) Verhaltenssteuerung).

3. Sek­tio­na­les Net­wor­king (Mit­glie­der­ver­samm­lung der Sek­ti­on, Mit­tags­tref­fen der Nach­wuchs­grup­pe Umwelt­so­zio­lo­gie in einem schön alter­na­ti­ven Gast­haus). Und natür­lich vie­le Gesprä­che mit vie­len Leuten.

4. Mich amü­siert, ins­be­son­de­re mit „DIE STERNE“ auf dem Kon­gress­kon­zert (gute Idee). ((Anek­do­te: Ein­lass nur mit Stem­pel auf der Ein­tritts­kar­te, der nach­weist, dass die Extra­ge­bühr gezahlt wur­de. Wuss­te ich nicht, bei mir ist kein Stem­pel, Momen­te der Ver­un­si­che­rung, dann fällt mir ein, dass im Namens­schild noch so ein Stück Papier steck­te, das den Stem­pel ver­deckt hat.))

5. Selbst was vor­ge­tra­gen – zur post­in­dus­tri­el­len Forst­wirt­schaft, in der Sek­ti­ons­sit­zung der Sek­ti­on Land- und Agrar­so­zio­lo­gie. Deren Vor­sit­zen­der, was ich nicht wuss­te, und ande­re wohl auch nicht, u.a. auch Wald besitzt.

6. Beob­ach­tun­gen über Sozio­lo­gIn­nen ange­stellt (z.B. scheint es mir eine Koin­zi­denz zwi­schen phi­lo­so­phie­n­a­hen bzw. stark theo­rie­ori­en­tier­ten Vor­trä­gen, der Ableh­nung von Power­point (Vor­trag heißt „vom Blatt vor­le­sen“) und der Bevor­zu­gung leger-for­ma­len Klei­dung und Haar­schnit­te zu geben).

Und was habe ich nicht gemacht? U.a. nicht in die Ver­an­stal­tun­gen zur Inter­net­so­zio­lo­gie rein­ge­schaut (immer hat­te ich was ande­res par­al­lel). Scha­de, bin gespannt, ob sich da was erfah­ren lässt, wie es da lief (und zwar vor dem für 2010 zu erwar­ten­den Kongressband).

War­um blog­ge ich das? Weil die Ein­drü­cke noch frisch sind. Und als Merk­pos­ten, um recht­zei­tig für den Kon­gress 2010 in Frank­furt die Unter­kunft zu orga­ni­sie­ren. Die war in Jena trotz lan­ge vor­he­ri­ger Buchung näm­lich ziem­lich weit draußen.

Update: (14.10.2008) Einen lesens­wer­ten und etwas wis­sen­schaft­li­che­ren Bericht über die Ereig­nis­se aus der Markt- und Wirt­schafts­so­zio­lo­gie hat Tina Gün­ther über den Kon­gress geschrie­ben (wie wir schon auf dem Bahn­steig in Wei­mar fest­ge­stellt haben, haben wir kom­plett unter­schied­li­che Ver­an­stal­tun­gen besucht). Umso inter­es­san­ter, was dort pas­siert ist, wo ich nicht war.

Update 2: Und hier noch die von mir eben­falls lei­der nicht besuch­te Web 2.0-Ver­an­stal­tung.

Kurz: Naturrecht mal anders (Update)

Jede Men­ge Wah­len und Wahl­fol­gen – Ham­burg mit einem Koh­le­kraft­werk, Hes­sen mit dem Ver­such, das Unwahr­schein­li­che zu wagen, Bay­ern mit einer lei­der unwahr­schein­li­chen Vie­rer­ko­ali­ti­on, Öster­reich mit einem dra­ma­ti­schen Rechts­ruck, Bran­den­burg mit Sta­tis­tik­pro­ble­men, usw. 

Wären die Wah­len anders gelau­fen, wenn die Natur im Sin­ne einer Latou­ria­ni­schen poli­ti­schen Öko­lo­gie hät­te mit­stim­men dür­fen? Wer weiß. Ganz so weit geht Ecua­dor nicht, aber span­nend ist es trotz­dem, was dort gera­de geschieht. Das Natu­re-Blog „The Gre­at Bey­ond“ berich­tet, dass in einer Volks­ab­stim­mung Natur mit eige­nen Rech­ten in die Ver­fas­sung auf­ge­nom­men wurde:

Natu­re or Pacha­ma­ma [the Ande­an earth god­dess], whe­re life is repro­du­ced and exists, has the right to exist, per­sist, main­tain and rege­ne­ra­te its vital cycles, struc­tu­re, func­tions and its pro­ces­ses in evo­lu­ti­on. Every per­son, peo­p­le, com­mu­ni­ty or natio­na­li­ty, will be able to demand the reco­gni­ti­on of rights for natu­re befo­re the public bodies. 

Ich bin gespannt, wie und ob das durch­ge­setzt wird. Aber allein die Mög­lich­keit, stell­ver­tre­tend, jedoch nicht anthro­po­zen­trisch für die Natur Rech­te ein­zu­for­dern, die hier­mit ermög­licht wird, ist schon mal beach­tens­wert und öff­net Türen. Oder stellt pro­vi­so­ri­sche Sit­ze im „Par­la­ment der Din­ge“ bereit, um noch ein­mal Latour (der gera­de den Unseld-Preis bekom­men hat), heranzuziehen.

Update: (1.10.2008) Bei Tele­po­lis fin­det sich ein Über­blicks­ar­ti­kel, in dem die gesam­te neue Ver­fas­sung Ecua­dors vor­ge­stellt wird. Die oben beschrie­be­nen Rech­te wer­den aller­dings nicht erwähnt, dafür kommt „das indi­ge­ne Gesell­schafts­prin­zip auf ‚Sumak Kaw­say‘ “ vor, „was auf Quechua ‚gutes Leben‘ bedeutet“.

Vorurteile zählen beim Schulübergang stärker als Noten (Update)

The school II
Grund­schu­le in Freiburg-Günterstal

Ich habe eini­ge Diens­te des „idw“ abon­niert, einem wis­sen­schaft­li­chen Pres­se­ver­tei­ler. Manch­mal errei­chen dann auch Pres­se­mit­tei­lun­gen mei­ne Inbox, die gar nicht direkt in die von mir ange­ge­be­nen Schwer­punkt­the­men fal­len, aber trotz­dem ziem­lich span­nend sind. 

So hat eine Stu­die des Main­zer Sozio­lo­gen Ste­fan Hra­dil empi­risch unter­füt­tert, dass ins­be­son­de­re der sozia­le Hin­ter­grund bei der Erstel­lung von Schul­über­gangs­emp­feh­lun­gen zählt. 

Was heißt das im Klar­text? Das hier:

Kommt ein Kind aus einer nied­ri­gen sozia­len Schicht, wird es nicht die gleich hohe Bil­dungs­emp­feh­lung für die wei­ter­füh­ren­de Schu­le erhal­ten wie ein Kind aus einer hohen Sozi­al­schicht, selbst wenn die bei­den Kin­der in der Grund­schu­le die glei­chen Noten errei­chen. „Leh­re­rin­nen und Leh­rer an Grund­schu­len ent­schei­den offen­bar nicht nur auf­grund von Schul­leis­tun­gen über die Emp­feh­lung, die sie für die wei­ter­füh­ren­de Schu­le nach der vier­ten Klas­se abge­ben, son­dern auch auf­grund der sozia­len Her­kunft der Kin­der“, teilt Univ.-Prof. Dr. Dr. Ste­fan Hra­dil vom Insti­tut für Sozio­lo­gie der Johan­nes Guten­berg-Uni­ver­si­tät Mainz mit. Dass dabei Kin­der mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund häu­fig eine ungüns­ti­ge­re Bil­dungs­emp­feh­lung erhal­ten, ist nicht auf ihre fremd­län­di­sche Her­kunfts­fa­mi­lie zurück­zu­füh­ren, son­dern auf den durch­schnitt­lich nied­ri­ge­ren Sozi­al­sta­tus von Migranten. 

Oder noch deutlicher:

Die Bil­dungs­emp­feh­lun­gen fal­len dem­entspre­chend aus. Kin­der aus der Ober­schicht erhal­ten zu 81 Pro­zent eine Gym­na­si­al­emp­feh­lung, gegen­über nur 14 Pro­zent der Kin­der aus Unterschichthaushalten. 

Und:

Die Bil­dungs­emp­feh­lun­gen sind selbst dann eine Fra­ge der sozia­len Her­kunft, wenn die Schü­ler und Schü­le­rin­nen die glei­chen Leis­tun­gen brin­gen. Zwar sind die Noten selbst immer noch der wich­tigs­te Ein­fluss­fak­tor dafür, ob die Emp­feh­lung für ein Gym­na­si­um erteilt wird oder nicht. Betrach­tet man aber nur Kin­der bei­spiels­wei­se mit der Durch­schnitts­no­te 2,0, dann bekom­men Kin­der aus der nied­rigs­ten Bil­dungs- und Ein­kom­mens­grup­pe nur mit einer Wahr­schein­lich­keit von 76 Pro­zent eine Gym­na­si­al­emp­feh­lung, wäh­rend in der höchs­ten Bil­dungs- und Ein­kom­mens­grup­pe nahe­zu alle Kin­der, näm­lich 97 Pro­zent, eine Emp­feh­lung für das Gym­na­si­um erhalten. 

Die Ergeb­nis­se bezie­hen sich nur auf Schul­kin­der aus Wies­ba­den (alle, die 2007 in der vier­ten Klas­se waren); aber ich stim­me Hra­dil zu, dass eine Über­trag­bar­keit die­ser Ergeb­nis­se sehr wahr­schein­lich ist – ähn­li­ches zur Abhän­gig­keit von Bil­dungs­kar­rie­ren und sozia­lem Hin­ter­grund haben ja auch schon ande­re Stu­di­en gezeigt. Das heißt aber umge­kehrt, näm­lich hoch­schul­po­li­tisch betrach­tet, auch: einer der ers­ten und stärks­ten Fil­ter für die Fra­ge, ob jemand nach­her zu den rela­tiv weni­gen Stu­die­ren­den aus nicht-aka­de­mi­schen Her­kunfts­fa­mi­li­en gehört, setzt genau hier ein: beim Über­gang von der Grund­schu­le auf die wei­ter­füh­ren­de Schule.

War­um blog­ge ich das? Weil ich die Ergeb­nis­se poli­tisch wich­tig fin­de – und als Bei­spiel dafür, dass auch ernst­haft betrie­be­ne Wis­sen­schaft (da bin ich mir bei Hra­dil sicher!) gro­ße poli­ti­sche Effek­te haben kann. Ich bin jeden­falls recht über­zeugt davon, dass die­se Ergeb­nis­se schnell mas­sen­me­di­al auf­ge­grif­fen werden.

Update: (12.9.2008) Auch hier noch­mal der Hin­weis, dass der Titel ein biß­chen pro­vo­ka­tiv gedacht ist und nicht ganz der Sta­tis­tik der Stu­die ent­spricht. Die mas­sen­me­dia­le Reso­nanz ist inzwi­schen ein­ge­tre­ten – SpOn berich­tet sehr aus­führ­lich, die taz inter­viewt einen an der Stu­die betei­lig­ten Wis­sen­schaft­ler, und auch bei ZEIT ONLINE ist was zu finden.

Zum Überlebensminimum-Unsinn (Update 2: Hartz-IV soziologisch betrachtet)

Zwei Chem­nit­zer Öko­no­men (Prof. Dr. Fried­rich Thie­ßen und ein Dipl.-Kfm. Chris­ti­an Fischer) haben eine Stu­die ver­öf­fent­licht (schein­bar tat­säch­lich in der Zeit­schrift für Wirt­schafts­po­li­tik erschie­nen, wenn dem Doku­ment zu trau­en ist), auf die u.a. taz und Spie­gel Online auf­ge­sprun­gen sind, und die als betriebs­wirt­schaft­li­che Legi­ti­ma­ti­on einer maxi­ma­len Redu­zie­rung der Hartz-IV-Sät­ze ver­stan­den wer­den kann. Zur Erin­ne­rung: der Regel­satz (ohne Wohn­geld) liegt (zum Zeit­punkt der Stu­di­en­ver­fas­sung) bei 345 Euro, der Mini­mal­fall der Stu­die kommt auf 132 Euro (ohne Hei­zung, Strom und Miete). 

Inzwi­schen füh­len die Autoren sich genö­tigt, die Stu­die mit einem recht­fer­ti­gen­den Vor­blatt zu ver­se­hen. Trotz­dem müss­te „Stu­die“ eigent­lich in Anfüh­rungs­zei­chen gesetzt werden. 

Umso inter­es­san­ter ist es, sich anzu­schau­en, wie die Vor­an­nah­men aus­se­hen, die zu solch unsin­ni­gen Ergeb­nis­sen führen.

1. Aus­gangs­punkt ist öko­no­men-typisch ein ratio­nal han­deln­der Mensch, dar­un­ter wird hier nicht nur ver­stan­den, dass in jedem Fall das bil­ligs­te Pro­dukt genom­men wird, son­dern auch, dass mit Geld ver­nünf­tig umge­gan­gen wird, kei­ne Lebens­mit­tel weg­ge­wor­fen wer­den usw. Dar­auf (und nicht auf dem tat­säch­li­chen Ver­hal­ten von Men­schen) zur Ver­fü­gung zu stel­len­de Geld­mit­tel auf­zu­bau­en, ist zynisch.

2. Aus­gangs­punkt ist zwei­tens die Preis­la­ge der bil­ligs­ten Anbie­ter (ger­ne auch kos­ten­lo­ser Second-Hand-Pro­duk­te) in Chem­nitz. Auch wenn in der Stu­die behaup­tet wird, dass das kei­ne Rol­le spielt, kann ich mir z.B. kaum vor­stel­len, dass das ÖPNV-Ticket (Jah­res­netz­kar­te) in Ham­burg, Ber­lin, Chem­nitz, Köln und Frei­burg preis­lich ähn­lich liegt.

3. Drit­tens – und hier geht es ans Ein­ge­mach­te – wird ver­sucht, von einem mehr oder weni­ger selbst defi­nier­ten Ziel­set (ver­wie­sen wird dazu auf ein unver­öf­fent­lich­tes Manu­skript des Ko-Autors Fischer) aus einen monat­li­chen Waren­korb zu defi­nie­ren. Dabei wird ziem­lich kom­plett igno­riert, dass Hartz IV mehr sein soll als eine Über­le­bens­si­che­rung, son­dern als Mini­mal­fall wird tat­säch­lich rein das phy­si­sche Über­le­ben her­an­ge­zo­gen. Selbst die rela­tiv schlich­te, von Öko­no­men ger­ne her­an­ge­zo­ge­ne Maslow­sche Bedürf­nis­py­ra­mi­de macht deut­lich, dass zwi­schen dem phy­si­schen Exis­tenz­mi­ni­mum und mensch­li­chem Über­le­ben Wel­ten liegen.

4. Das Fall­bei­spiel wird anhand eines gesun­den deut­schen Man­nes ohne Behin­de­rung und sons­ti­ge Ein­schrän­kung, aber dafür mit deut­schen Ver­brauchs­ge­wohn­hei­ten berech­net. Über jedes Ein­zel­ne die­ser Attri­bu­te lie­ße sich dis­ku­tie­ren. Kin­der samt deren Extra­kos­ten kom­men nicht vor, eben­so­we­nig dür­fen ratio­na­le Almo­sen­emp­fän­ger (m) irgend­wel­che Hob­bies, Inter­es­sen, sozia­len Kon­tak­te oder Ernäh­rungs­vor­lie­ben haben.

5. Exter­ne Kos­ten (z.B. die Gesund­heits­fol­gen einer auf den bil­ligs­ten Dis­coun­ter­pro­duk­ten basie­ren­den Ernäh­rung) kom­men abso­lut nicht vor. Gesund­heits­kos­ten kom­men über­haupt nicht vor, der deut­sche Mann ist ja auch gesund.

6. Der Fall­bei­spiel­mann ver­zich­tet auf Alko­hol und Tabak (ist irra­tio­nal), ist dafür jedoch rela­tiv viel Wurst und Fleisch (scheint ratio­nal zu sein). Gespart wird über­haupt ins­be­son­de­re am Essen – im Monat rei­chen 9 kg Brot, 9 kg Kar­tof­feln, 10 kg Obst, 10 kg Gemü­se, 7,5 l Milch, 1,8 kg Käse, 1,6 kg Fleisch, 1,8 kg Wurst, 1,3 kg Fisch und 1,2 kg Fett. Gewür­ze sind aller­dings eben­so­we­nig vor­ge­se­hen wie z.B. Süßig­kei­ten. Oder Kaf­fee. Kaf­fee! Genuß gibt’s nicht. Beim Dis­coun­ter kos­tet die­ser Waren­korb (der angeb­lich einem WHO-Stan­dard ent­spre­chen soll) laut Stu­die 68 Euro. Pi mal Dau­men kom­me ich mit den übli­chen Super­markt­prei­sen auf min­des­tens das Dop­pel­te (auch die rea­len Ernäh­rungs­aus­ga­ben im unte­ren Quin­til abzgl. Sozi­al­hil­fe­emp­fän­ger lie­gen die­ser Stu­die zu Fol­ge mit 138 Euro in die­ser Grö­ßen­ord­nung). Eine ratio­na­le – also ver­nünf­ti­ge, gesun­de, und öko­lo­gi­sche – Ernäh­rung wird ver­mut­lich noch­mal etwas teu­rer. Aber die scheint eben nicht vor­ge­se­hen zu sein.

7. Ähn­lich schräg ist es bei All­tags­ge­gen­stän­den und Klei­dung (sol­len gebraucht bzw. umsonst irgend­wo erwor­ben wer­den). Gebraucht wird auch gar nicht viel. Aha.

8. Für „Kom­mu­ni­ka­ti­on, Unter­hal­tung, Ver­kehr“ sind im Mini­mal­fall vor­ge­se­hen: ein bil­li­ger Fern­se­her, die Mit­glied­schaft in der Stadt­bi­blio­thek und 2,38 Euro für Brief­mar­ken (reicht das für die not­wen­di­gen Bewer­bun­gen?). Und ein ÖPNV-Ticket für 23 Euro pro Monat, auf der Sei­te der Chem­nit­zer Ver­kehrs-AG habe ich aller­dings nichts auch nur annä­hernd in die­ser Preis­klas­se gefun­den. Die Stadt­bi­blio­thek darf dann auch gleich das kos­ten­freie Inter­net mit­lie­fern, Tele­fon ist nicht not­wen­dig. Kos­ten ins­ge­samt: 26,78 Euro pro Monat. Über die Effek­te einer der­ar­ti­gen Frei­zeit­zu­wei­sung haben die Autoren aller­dings nicht nach­ge­dacht, jeden­falls machen sie kei­ne Aus­füh­run­gen dazu. Fahr­rad, Kino, Fuß­ball, Urlaub (noch nicht mal das Wochen­end­ti­cket der DB AG), Tele­fon, Knei­pen­kon­sum: sind alle nicht vor­ge­se­hen. Kurz: ein­ge­sperrt in den eige­nen vier Wän­den, in der Zeit, die zwi­schen Arbeits­amt, Dis­coun­ter-Preis­su­che und Stadt­bi­blio­thek mit ÖPNV noch bleibt. Pri­vat­sphä­re in der Kom­mu­ni­ka­ti­on gibt es hier auch nicht.

9. Abschlie­ßend wird dann noch argu­men­tiert, dass auch Men­schen, die mehr Geld haben, unzu­frie­den sind, und dass es des­we­gen nicht wei­ter schlimm wäre, wenn mini­mal­aus­ge­stat­te­te Per­so­nen glau­ben, Män­gel zu leiden.

Zusam­men­ge­fasst: rela­tiv aske­tisch leben­de gesun­de allein­ste­hen­de Män­ner mit deut­schen Ver­zehr­ge­wohn­hei­ten ohne sozia­le Kon­tak­te, ohne Kin­der und ohne Hob­bies kom­men mit 132 Euro im Monat aus. Nor­ma­le Men­schen mit nor­ma­len Prak­ti­ken nicht, Men­schen mit Pro­ble­men nicht, und Fami­li­en erst recht nicht. Es wun­dert mich nur, dass nicht als Berech­nungs­grund­la­ge auch das „Con­tai­nern“ und die Nut­zung öffent­li­cher Infra­struk­tur zur Befrie­di­gung von Wohn­be­dürf­nis­sen her­an­ge­zo­gen wurden.

Die Ergeb­nis­se bestä­ti­gen also letzt­lich vor allem eins – mei­ne Vor­ur­tei­le über ÖkonomInnen.

War­um blog­ge ich das? Im Rah­men der Grund­ein­kom­mens­de­bat­te ging es auch dar­um, wie viel Men­schen zum eini­ger­ma­ßen guten und ent­wick­lungs­för­der­li­chen („Hil­fe zur Selbst­hil­fe“, anyo­ne?) Leben brau­chen, und ob die rela­tiv nied­ri­gen, finan­zier­ba­ren Grund­ein­kom­mens­bei­trä­ge, die wir vor­ge­schla­gen haben, dazu aus­rei­chen wür­den. Wir reden hier über 420 Euro ohne Wohn­kos­ten. Dafür gab’s hef­tig Schel­te, dass die Hartz-IV-Sät­ze bei eini­ger­ma­ßen „nor­ma­len“ All­tags­prak­ti­ken kaum aus­rei­chen, ist all­ge­mein bekannt – und dann schein­bar öko­no­misch begrün­det mal den Ide­al­ty­pus des edlen und spar­sa­men Armen als Regel­fall zu set­zen, was die Stu­die impli­zit macht, kann ein­fach nicht gut gehen. Oder heißt: Wer arm ist, muss lei­den. Und ver­dient die media­le Pole­mik, der ich mich hier­mit anschließe.

Update: (5.9.2008) Soeben haben sich die Grü­nen im Bun­des­tag mit einer Pres­se­mit­tei­lung zu die­ser Stu­die zu Wort gemel­det. Und Mar­kus Kurth macht das rich­tig gut.

PRESSEMITTEILUNG der Bun­des­tags­frak­ti­on Bünd­nis 90/Die Grünen

NR. 0931 – Datum: 8. Sep­tem­ber 2008

Exis­tenz­mi­ni­mums-Stu­die: Wirt­schafts-Pro­fes­sor aus Chem­nitz sei Selbst­er­fah­rung auf Hartz IV-Niveau empfohlen

Anläss­lich der Stu­die der TU Chem­nitz zur Höhe der sozia­len Min­dest­si­che­rung erklärt Mar­kus Kurth, sozi­al­po­li­ti­scher Sprecher:

Die Stu­die zwei­er Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Chem­nitz, unter Lei­tung von Pro­fes­sor Fried­rich Thie­ßen, zur Höhe der sozia­len Min­dest­si­che­rung ist unse­ri­ös und rea­li­täts­fremd. Die erho­be­nen Anga­ben zu den Ver­brauchs­kos­ten, die angeb­lich den Lebens­un­ter­halt sichern sol­len, sind völ­lig frei erfun­den und ent­beh­ren jed­we­der wis­sen­schaft­li­chen Grund­la­ge. Stich­pro­ben­ar­ti­ge, eher zufäl­lig auf­ge­spür­te Schnäpp­chen in Chem­nitz haben mit einer seriö­sen, für bun­des­wei­te Maß­stä­be taug­li­chen Bedarfs­er­he­bung nichts zu tun. Jeder über­prüf­ba­re Beleg fehlt. Die staat­lich besol­de­ten Wis­sen­ser­fin­der soll­ten ein­mal ver­su­chen, einen Monat von Hartz IV zu leben. Das wür­de rei­chen, um der­ar­ti­ge Behaup­tun­gen zum Lebens­not­wen­di­gen zu widerlegen.

Teil­ha­be am gesell­schaft­li­chen Leben und die Inte­gra­ti­on am Arbeits­markt haben für den pro­fes­so­ra­len Schnäpp­chen­jä­ger Thie­ßen offen­bar kei­ne Bedeu­tung. So ist es völ­lig welt­fremd, zu glau­ben, man kön­ne ohne Tele­fon am kom­mu­ni­ka­ti­ven Leben teil­neh­men und sich in einer 12-Euro-Hose auf ein Vor­stel­lungs­ge­spräch zu begeben. 

Update 2: Par­al­lel zur Debat­te um die Chem­nitz-Stu­die gibt es bei Tina Gün­ther eine aus­führ­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit Medi­en­het­ze und Hartz-IV-Wirk­lich­keit, wie immer im soz­log sozio­lo­gisch unter­füt­tert. Lesens­wer­te Ergänzung.