Kurz: Dreizehenspecht, MdL

Wilder See IEs wäre über­trie­ben, zu behaup­ten, ich hät­te Bru­no Latours Das Par­la­ment der Din­ge. Für eine poli­ti­sche Öko­lo­gie (2001) tat­säch­lich ver­stan­den. Manch­mal wür­de ich sogar bezwei­feln, dass die­ser Text, der davon lebt, eine Viel­zahl an Begrif­fen neu zu defi­nie­ren, über­haupt im Gan­zen ver­ständ­lich ist. Ein zen­tra­les Ele­ment des Tex­tes ist die Fra­ge nach dem Rede­recht und der Reprä­sen­ta­ti­on nicht-mensch­li­cher Wesen im (hier dann doch eher meta­pho­ri­schen) Par­la­ment der Din­ge, der neu­en Ver­fas­sung der Welt. 

Falls es jemand gibt, der oder die sich inten­si­ver mit die­sen Ideen aus­ein­an­der­ge­setzt hat, und noch nach einem Bei­spiel jen­seits des von Latour ange­führ­ten Rin­der­wahn­sinns sucht, um die Phi­lo­so­phie der poli­ti­schen Öko­lo­gie zu kon­kre­ti­sie­ren, dann wür­de ich dem oder der die Debat­ten im baden-würt­tem­ber­gi­schen Land­tag rund um den Natio­nal­park als Mate­ri­al emp­feh­len. Der Natio­nal­park wur­de heu­te im Land­tag beschlos­sen, und sowohl in der Spra­che als auch in Form mit­ge­brach­ter Foto­gra­fien wur­den immer wie­der die Rech­te von Drei­ze­hen­spech­ten, Bart­flech­ten und Auer­hüh­nern ange­spro­chen, ins­be­son­de­re (aber nicht nur) von den Regie­rungs­par­tei­en und den Bewe­gun­gen für den Natio­nal­park. Auf der ande­ren Sei­te kamen dann häu­fig die Rech­te von den in der Natio­nal­park­re­gi­on leben­den Men­schen zur Spra­che, ins­be­son­de­re (aber nicht nur) von der Oppo­si­ti­on und den Natio­nal­park­geg­nern ins Feld geführt. Oder die öffent­li­che Aus­schuss­an­hö­rung: die einen saßen in Form eines Ver­tre­ters der Natio­nal­park­geg­ner im Raum, die ande­ren wur­den ver­tre­ten durch Exper­ten etwa des Naturschutzbundes. 

Viel­leicht lie­ge ich auch falsch, und der Blick auf die Natio­nal­park­de­bat­te mit Latours poli­ti­scher Öko­lo­gie ist ent­we­der lang­wei­lig (weil evi­dent), oder fehl am Platz (weil Natur, Reprä­sen­ta­ti­on und nicht-mensch­li­ches Wesen hier per se eine Rol­le zuge­wie­sen bekom­men) – aber ich glau­be, es wür­de sich loh­nen, die­se Debat­ten, von den par­la­men­ta­ri­schen Reden bis zu den Zei­tungs­be­rich­ten, mal genau­er zu untersuchen. 

2013kretschmannmitbaumpilzP.S.: Sowas wie das hier mei­ne ich: Minis­ter­prä­si­dent Kret­sch­mann spricht in sei­ner Rede hier die „zitro­nen­gel­be Tra­me­te“, einen sel­te­nen Pilz, an – und bringt ihn zumin­dest als Bild gleich mit ans Redepult.

Heute schon eine Effizienzreserve gehoben?

Dancer IV

Die Arbeit in der Poli­tik bringt ihre eige­nen Betriebs­blind­hei­ten mit sich. Man­che davon ver­ste­cken sich hin­ter tech­no­kra­tisch anmu­ten­den Phra­sen. Das „Heben von Effi­zi­enz­re­ser­ven“ ist ein sol­ches Sprach­bild. Es steht in einem engen Zusam­men­hang mit der „Schul­den­brem­se“ und den von den ein­zel­nen Res­sorts erwar­te­ten „Kon­so­li­die­rungs­bei­trä­gen“.

Fak­tisch heißt „Heben von Effi­zi­enz­re­ser­ven“: Es ist nicht genü­gend Geld vor­han­den, um die recht­lich und poli­tisch gewünsch­ten Auf­ga­ben zu erle­di­gen, also sol­len ten­den­zi­ell weni­ger Beschäf­tig­te (in der glei­chen Zeit wie vor­her) die glei­che Arbeit leis­ten. Sie sol­len es nur „effi­zi­en­ter“ tun. Bis zu einem gewis­sen Grad ist das sicher­lich mög­lich, hier Arbeits­ab­läu­fe „zu opti­mie­ren“. Gera­de Ver­wal­tungs­vor­gän­gen hängt ja der Ruf nach, kein Vor­bild für effi­zi­en­te Orga­ni­sa­ti­on zu sein. Ob die­ser schlech­te Ruf stimmt, sei dahingestellt. 

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Kurz: M, F, X – Geschlechterscrabble

Vor ein paar Tagen schrieb Heri­bert Prantl in der Süd­deut­schen über ein Gesetz aus dem Mai 2013, das es bei inter­se­xu­ell gebo­re­nen Kin­dern erlaubt, auf eine Geschlechts­zu­wei­sung im Per­so­nal­aus­weis etc. zu ver­zich­ten. Mit Ver­weis auf die Zeit­schrift für das gesam­te Fami­li­en­recht deu­tet Prantl die­se Neu­re­ge­lung als ers­ten Schritt hin zu einer drit­ten, recht­lich aner­kann­ten Geschlechts­be­stim­mung: neben „männ­lich“ und „weib­lich“ eben auch „unbe­stimmt“ – und fragt sich, was für Aus­wir­kun­gen das dann auf vie­le exis­tie­ren­de, gezielt „Män­ner“ oder „Frau­en“ benen­nen­de gesetz­li­che Rege­lun­gen hat.

Ich fin­de das aus ver­schie­de­nen Grün­den span­nend. So zieht der Gesetz­ge­ber hier zunächst ein­mal den bio­so­zia­len Rea­li­tä­ten nach, wenn ich etwa an die sozi­al­wis­sen­schaft­li­che Debat­te um ein Drit­tes Geschlecht den­ke, ange­legt etwa in der Kri­tik der Zwei­ge­schlecht­lich­keit. Da wird dann aller­dings eher der Ver­zicht auf fes­te Geschlechts­ka­te­go­rien gefor­dert als eine drit­tes Geschlech­ter­ka­te­go­rie. Aber auch anthro­po­lo­gi­sche Ver­wei­se auf Gesell­schaf­ten, die ein drit­tes Geschlecht ken­nen, sind häu­fig, bei­spiels­wei­se die Hijra Süd­asi­ens. Und natür­lich wird in der Sci­ence-Fic­tion-Lite­ra­tur wie­der­holt mit zukünf­ti­gen Gesell­schaf­ten expe­ri­men­tiert, in denen es drei oder mehr Geschlechts­iden­ti­tä­ten gibt (etwa in Greg Egans Roman Distress von 1995). 

Rich­tig inter­es­sant wür­de es aller­dings, wenn mit der Ein­füh­rung einer drit­ten, „unbe­stimm­ten“ Geschlechts­ka­te­go­rie im deut­schen Per­so­nen­stands­recht eine Ent­kopp­lung zwi­schen Bio­lo­gie und sozia­lem Geschlecht ver­bun­den wäre. Eine unbe­stimm­te Geschlechts­ka­te­go­rie für inter­se­xu­el­le Men­schen – also Men­schen mit unein­deu­ti­gen oder dop­pel­ten Geschlechts­merk­ma­len – ein­zu­füh­ren, ist sicher­lich ein sinn­vol­ler Schritt. Aber war­um nicht gleich noch einen Schritt wei­ter­ge­hen, und allen, die kei­ne Lust dazu haben, sich dem einen oder dem ande­ren bio­so­zia­len Geschlecht zuord­nen zu las­sen, die­se Wahl­mög­lich­keit que(e)r zur Zwei­ge­schlecht­lich­keit eben­falls eröffnen?

„Heute bringst du aber mal den Spam runter, Schatz!“

Happy Kreuzberg

Gro­ße Rät­sel kön­nen sich in all­täg­li­chen Klei­nig­kei­ten ver­ber­gen. Das ist einer der Grün­de, war­um mich Sozio­lo­gie und ver­wand­te Wis­sen­schaf­ten schon immer fas­zi­niert haben: War­um machen ande­re das anders? Das ist doch komisch!

Ein Bei­spiel einer sol­chen Pra­xis, die das eige­ne Ver­hal­ten in Fra­ge stellt, sind E‑Mail-Accounts. Für mich ist ein E‑Mail-Account etwas per­sön­li­ches – einer Per­son zuge­ord­net, mög­li­cher­wei­se auch nur einem bestimm­ten Rol­len­aspekt einer Per­son (beruf­lich, pri­vat, Ehren­amt …). Genau­so, wie das eben auch bei Smart­phones, Face­book- und Goog­le-Accounts ist. Die ein­zi­ge Aus­nah­me, die mir ad hoc ein­fällt, sind info@-Accounts von Orga­ni­sa­tio­nen; also Sam­mel­post­fä­cher für eine bestimm­te Art von Anfragen. 

Nun gibt es aber immer wie­der Men­schen, die das anders sehen. 

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Kurz: Was mündige BürgerInnen wissen – und was nicht

S21-Demo in Freiburg 29

Vor ein paar Tagen bin ich über einen Guar­di­an-Bericht zu einer Umfra­ge* dar­über gestol­pert, was die (in die­sem Fall bri­ti­sche) Öffent­lich­keit an sozia­len Pro­blem­la­gen gra­vie­rend falsch ein­schätzt. Bei­spiels­wei­se wird die Zahl der Teen­ager­schwan­ger­schaf­ten um den Fak­tor 25 über­schätzt, die sin­ken­de Kri­mi­na­li­täts­ra­te fälsch­lich als stei­gend bewer­tet und der miss­bräuch­li­che Bezug von Sozi­al­leis­tun­gen sogar um den Fak­tor 34 über­schätzt (Ergeb­nis der Umfra­ge ist die Annah­me, dass ein Vier­tel der Sozi­al­leis­tun­gen miss­bräuch­lich aus­ge­zahlt wird, tat­säch­lich sind es wohl 0,7 Pro­zent). Und so geht es mun­ter wei­ter – Details sind auf der Sei­te des Umfra­ge­insti­tuts nach­les­bar.

Ob das in Deutsch­land genau so aus­se­hen wür­de, weiß ich nicht – ver­mut­lich spie­len der Bil­dungs­grad der Bevöl­ke­rung eben­so wie die Rele­vanz des Bou­le­vard-Jour­na­lis­mus eine wich­ti­ge Rol­le dafür, wie ver­zerrt das öffent­li­che Bild der sozia­len Wirk­lich­keit ist. Ten­den­zi­ell ver­mu­te ich aber, dass hier­zu­lan­de ähn­li­che Fehl­ein­schät­zun­gen nach­zu­wei­sen wären – der berühm­te „Stamm­tisch“ exis­tiert. Aber es ist nicht nur der Stamm­tisch (zumin­dest fehlt auf der Umfra­ge­sei­te eine Auf­schlüse­lung der Abwei­chun­gen nach Klas­se, Bil­dungs­grad oder ähn­li­chen Varia­blen), son­dern eben doch die öffent­li­che Mei­nung, die dann jour­na­lis­tisch wie­der­ge­käut und wei­ter­ver­brei­tet wird. Res­sen­ti­ments und Vor­ur­tei­le fin­den sich eben auch in „bil­dungs­bür­ger­li­chen“ Talk­shows. Und das lässt mich eini­ger­ma­ßen rat­los zurück.**

Denn, wenn dem so ist, dass ein gro­ßer Teil der öffent­li­chen Rele­vanz­set­zung an den tat­säch­li­chen Fak­ten vor­bei­geht, was ist dann davon zu hal­ten? Wahl­recht hängt nicht am Infor­miert­sein, und das ist aus demo­kra­ti­scher Sicht zunächst ein­mal auch gut so. Aber sowohl Wahl­kampf­schwer­punk­te als auch Wahl­er­geb­nis­se bau­en natür­lich auf der­ar­ti­gen ver­fäl­schen Pro­blem­wahr­neh­mun­gen auf – absicht­lich mani­pu­la­tiv, oder des­we­gen, weil eben auch in Par­la­men­ten und Par­tei­en Fehl­ein­schät­zun­gen der rea­len sozia­len Pro­blem­la­gen exis­tie­ren. Poli­tisch gewich­tig ist, was wich­tig scheint. Abge­ord­ne­te, Medi­en und Bür­ge­rIn­nen tra­gen dann oft gemein­sam dazu bei, gefühl­te Pro­blem­la­gen so zu ver­fes­ti­gen, dass der öffent­li­che Dis­kurs plötz­lich das Han­deln in einem Feld als alter­na­tiv­los erschei­nen lässt. Und schon scheint das Boot voll zu sein. 

* Ipsos MORI hat 1015 Per­so­nen zwi­schen 16 und 75 Jah­ren online befragt und die Ergeb­nis­se so gewich­tet, dass sie zum sozio­de­mo­gra­phi­schen Pro­fil der Gesamt­be­völ­ke­rung pas­sen. Nicht wirk­lich eine Reprä­sen­ta­tiv­be­fra­gung, aber auch nicht ganz vom Tisch zu wischen …

** Eige­ne Fehl­wahr­neh­mun­gen natür­lich nicht aus­ge­schlos­sen – was die Sache nicht bes­ser macht