Was mich zunehmend mehr erschreckt, ist die Bereitschaft zunächst vernünftig wirkender Menschen, abstruse Theorien zu glauben. Das müssen gar nicht die großen Verschwörungstheorien zwischen „Lügenpresse“ und „Chemtrails“ sein.
In eigener Sache: Swap, share, experience
Die Vorträge der Degrowth 2014 sind inzwischen in einem Online-Dokumentationssystem verfügbar.
Dazu gehört auch der Vortrag, den ich im letzten September zusammen mit Jenny Lay zum Thema „Swap, share, experience“ geschrieben und gehalten habe. Genauer gesagt: Sowohl unsere hübsche Powerpoint-Datei (englisch) als auch das (deutschsprachige) Manuskript „Tauschen, teilen, Erfahrungen sammeln: Das transformative Potential sozial-ökologischer Praxisformen“ sind jetzt online abrufbar (beides sind PDF-Dateien).
Inhaltlich geht es darum, mal auszuprobieren, wie weit ein praxistheoretisches Vokabular hilfreich dabei sein kann, sich unterschiedlichen Praxisformen der – im weiteren Sinne – Share Economy – zu nähern, und mit Bezug auf u.a. Elizabeth Shoves Raster aus stuff, images und skills zu untersuchen, wo das transformative Potenzial dieser Praxisformen liegt. Ausprobiert haben wir das an den Beispielen urbaner Gärten und Umsonstläden.
Das ganze ist ein erster Entwurf, aber vielleicht trotzdem interessant für alle, die sich umweltsoziologisch derartigen Phänomenen nähern wollen.
Lay, Jenny; Westermayer, Till (2014): »Swap, share, experience: the transformative potential of socio-ecological forms of practice«, in Fourth International Conference on Degrowth for Ecological Sustainability and Social Equity, Leipzig, 2014, URL: http://degrowth.co-munity.net/conference2014/scientific-papers/3543. (Bzw. persistente URL bei SSOAR: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-420416).
Kurz: Kompass am Fenster
Als Anfang des Jahres die Nachricht des Todes des großen Soziologen Ulrich Beck bekannt wurde, waren es – zumindest in meiner Timeline – auffällig viele Grüne, die sich mit Erinnerungen und Bezügen zu Wort meldeten. Die im Tschernobyljahr 1986 erschienene Risikogesellschaft ist in gewisser Weise auch ein programmatisch grünes Buch, und das betrifft nicht nur die ökologischen Risiken, sondern auch die Individualisierungsthese und den Blick auf eine sich verändernde Arbeitswelt. In diesem Zusammenhang fiel mir dann auch noch einmal auf, dass am Fenster der grünen Fraktionssitzungssaals im Landtag Baden-Württemberg die Worte „Reflexive Modernisierung“ (und „Zuversicht“) kleben. Während der Saal der CDU von einem Kruzifix geschmückt wird, und bei der SPD Ledersessel stehen, hängt bei uns der politische Kompass am Fenster.
Inzwischen habe ich erfahren, dass diese Begriffe ca. 2006 von der damaligen Fraktionsgeschäftsführerin Hedi Christian aufgeklebt worden sind. Der Bezug zu Ulrich Beck ist nur ein indirekter – die Fraktion hatte 2006 einen Roadmap-Prozess (»Roadmap 2016«) laufen (wer im Archiv der Fraktion sucht, findet dieses historische Dokument von Ralph Bürk und Birgit Locher-Finke auch heute noch). Ein Element dieser aus heutiger Sicht durchaus wirkungsvollen Roadmap ist das Setzen auf „reflexive“ statt auf „additive“ oder „linear-expansive“ Modernisierung: Nicht immer mehr, nicht Neues zusätzlich zum Bestehenden, sondern eine ständige Anpassung und Veränderung bestehender Strukturen an neue Herausforderungen, um mit begrenzten Ressourcen klarzukommen. Auf diesem Weg ist die „reflexive Modernisierung“, die Ulrich Beck in die Welt getragen hat, ans Fenster der Landtagsfraktion gekommen, immer im Blickfeld des Fraktionsvorstands und der Regierungsmitglieder am runden Tisch der Fraktionssitzungen.
Aneignung, Macht und kultureller Wandel
Wintersonnenwende – ein Fest, das in ziemlich vielen Religionen/Kulturen gefeiert wird. Ausgangspunkt ist eine beobachtbare Tatsache: die Tage werden wieder länger, es wird heller; gleichzeitig setzt oft der „richtige“ Winter ein. Was daraus gemacht wird, wie gefeiert wird, all das ist Kultur. Und die ist bekanntlich extrem wandlungsfähig.
Ich mag das Konzept der kulturellen Aneignung. Menschen sind in der Lage dazu, sich Stücke aus unterschiedlichen Traditionen herauszubrechen und in ihre eigenen Traditionen zu übernehmen. Bei dieser Übernahme verändern sich Ideen und Rituale, es entsteht etwas Neues. Insofern ist kulturelle Aneignung ein Motor für kulturellen Wandel, für Innovation, ganz pathetisch gesagt auch für Fortschritt.
Was genau von wem wann erfunden wurde, interessiert vielleicht HistorikerInnen, spielt aber eigentlich keine Rolle. Finde ich jedenfalls. Oder ist das zu einfach? Wie weit müssen Traditionslinien und historische Assoziationen mitgedacht werden, wenn ein Ritual, ein Fest, eine kulturelle Angewohnheit, kurz, eine Praktik, angeeignet, verändert und übernommen wird?
Photo of the week: Albert-Ludwigs-University, KG III (detail)
Gestern war ich ja anlässlich der Feier zum 50-jährigen Bestehen des Freiburger Instituts für Soziologie seit langem mal wieder an der Uni. Da ist auch dieses Bild entstanden, das nicht die Soziologie zeigt. Aber dafür viele, viele Bücher; eine der Institutsbibliotheken im Kollegiengebäude III. Die jetzt als Symbolbild herhalten muss, weil ich nicht am KG IV vorbeigekommen bin.
Der interessant gestaltete Festakt (zum Nachlesen auch als Buch Fünfzig Jahre Institut für Soziologie Freiburg (jos fritz Verlag)), aber auch die Gespräche mit doch ganz schön vielen SoziologInnen am Abend wecken bei mir ja schon so eine gewisse Nostalgie nach wissenschaftlicher Tätigkeit. Hinter neogotischen Mauern scheinbare Alltäglichkeiten überdenken, bis daraus Theorie wird … aber das ist ja nur die eine Seite der Medaille, und das, was ich als parl. Berater in Stuttgart so tue, gefällt mir durchaus. Ist halt nur keine Wissenschaft. (Die andere Seite der Medaille hat – auch das wurde in den Gesprächen sehr deutlich – viel mit prekären Bedingungen, Selbstausbeutung, Unsicherheit, Stress, Unvereinbarkeit und engen Karrierefiltern zu tun. Mal ganz abgesehen davon, dass Soziologie eben auch Datenerfassung, Transkription, Statistik, usw. ist …).