Machtblindheit, oder: ist Law Code?

Petrikirche interior I

I. Deutungshoheit und die Wirkung von Texten

Das eine ist die unglaub­li­che Nai­vi­tät, mit der man­che Men­schen an Posi­ti­ons­pa­pie­re, Sat­zun­gen und Geset­ze her­an­tre­ten. Viel­leicht schlägt da bei mir der Sozio­lo­ge durch, aber wer glaubt, dass ein Text, nur weil in die­sem Text etwas steht, allei­ne Wir­kung ent­fal­tet, lei­det aus mei­ner Sicht an einer Wahr­neh­mungs­stö­rung. Eine Wahr­neh­mungs­stö­rung, die sich viel­leicht am tref­fends­ten als „Macht­blind­heit“ bezeich­nen lässt.

Macht­blind­heit meint hier nicht, blind vor Macht zu sein, son­dern nicht zu sehen, dass jeder Text deu­tungs- und inter­pre­ta­ti­ons­of­fen ist. Dass jeder zu einem Werk­zeug in einem Akteurs­netz­werk gemacht wer­den kann, um bestimm­te Zie­le zu errei­chen und ande­re Zie­le zu verhindern. 

Die Deu­tungs­mög­lich­kei­ten sind dabei nicht belie­big, aber sie sind sehr viel grö­ßer, als vie­le sich das vor­stel­len. Wer sich letzt­lich mit sei­ner Deu­tung durch­setzt, hat etwas mit dis­kur­si­ver Hege­mo­nie zu tun, aber eben auch damit, wer am sprich­wört­li­chen län­ge­ren Hebel sitzt.

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Der Fluss ohne Form. Eine Kritik der Liquid Culture Declaration

River art I

Jörg Blum­tritt, Bene­dikt Köh­ler und Sab­ria David haben vor eini­gen Wochen eine Erklä­rung abge­ge­ben – die Decla­ra­ti­on of Liquid Cul­tu­re.

Dem Spiel mit dem Adjek­tiv liquid (flüs­sig, auch: liqui­de, zah­lungs­fä­hig; viel­leicht auch sowas wie das neue open) ent­spre­chend neh­men die AutorIn­nen als ihr Leit­mo­tiv das Bild des Flus­ses der Geschich­te, der jetzt – an den Marsch­lan­den der Post­mo­der­ne vor­bei – in die kon­tu­ren­lo­se offe­ne See der Gegen­wart fließt. Ori­en­tie­rung auf die­sem Meer – im Zusam­men­hang mit dem Inter­net kein neu­es Bild (Bickenbach/Maye 1997) – geben nur noch die Sterne.
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In eigener Sache: „Leichtere Beschäftigungen“

Heavy biking

Auf­grund der lan­gen Pro­duk­ti­ons­zy­klen für wis­sen­schaft­li­che Auf­sät­ze kann ich – obwohl der­zeit gar nicht in der Wis­sen­schaft beschäf­tigt – stolz ver­mel­den, dass in den letz­ten Tagen mein Auf­satz „Leich­te­re Beschäf­ti­gun­gen‘. Geschlech­ter­dif­fe­renz als Leit­bild der Forst­li­chen Arbeits­wis­sen­schaft“ (Abs­tract) in der Zeit­schrift GENDER erschie­nen ist.

Wor­um geht es in dem Auf­satz? Ich habe mir für eini­ge Stan­dard­wer­ke der Forst­li­chen Arbeits­wis­sen­schaft ange­schaut, wie dort Geschlecht the­ma­ti­siert bzw. nicht the­ma­ti­siert wird. Dabei lässt sich sehr schön rekon­stru­ie­ren, wie die­se für die klei­ne Dis­zi­plin der Forst­li­chen Arbeits­wis­sen­schaft zen­tra­len „Klas­si­ker“ ein Bild von Geschlecht ver­mit­teln, das ganz grund­le­gend auf Dif­fe­renz auf­baut – hier die voll­wer­ti­gen männ­li­chen Arbeits­kräf­te, da die maxi­mal zäh­ne­knir­schend für „leich­te­re Beschäf­ti­gun­gen“ geeig­ne­ten Frau­en. Dabei wird Dif­fe­renz vor allem in Bezug auf Aus­sa­gen zur kör­per­li­chen Leis­tungs­fä­hig­keit und zu „geschlechts­spe­zi­fi­schen“ Fähig­kei­ten her­ge­stellt, und letzt­lich die geschlechts­be­zo­ge­ne Arbeits­tei­lung – mit männn­lich besetz­ter Erwerbs­ar­beit und weib­lich besetz­ter Fami­li­en­ar­beit als Arbeit für den Mann – als Selbst­ver­ständ­lich­keit etabliert.

Ich fin­de das inso­fern span­nend, als die Forst­li­che Arbeits­wis­sen­schaft eine sehr spe­zia­li­sier­te Sub­dis­zi­plin ist – in den 1920er Jah­ren ent­stan­den, hat sie vor allem die Her­aus­bil­dung eines „ordent­li­chen“ Berufs­bilds des Wald­ar­bei­ters begrün­det und beglei­tet, und damit – Hen­ne und Ei ein­mal dahin­ge­stellt – wohl doch zur bis heu­te durch­schla­gen­den beruf­li­chen Struk­tu­rie­rung in der Forst­wirt­schaft beigetragen.

Abschlie­ßend fra­ge ich mich, was in einer „auf­ge­klär­ten“ Arbeits­wis­sen­schaft an die Stel­le von Dif­fe­renz gesetzt wer­den kann. (Als Fra­ge for­mu­liert: Wie kann eine gen­der­sen­si­ble Forst­li­che Arbeits­wis­sen­schaft aus­se­hen, die die Welt nicht in zwei getrenn­te Kate­go­rien teilt?) Ide­al­ty­pisch wäre es, Dif­fe­renz durch eine Ori­en­tie­rung an Diver­si­tät zu erset­zen und dazu auch das „Bün­del“ Geschlecht auf­zu­schnü­ren. Wie weit das aller­dings in der Pra­xis umsetz­bar ist, ist eine ande­re Fra­ge – und nicht zuletzt eine Fra­ge, bei der etwa beim „diver­si­ty manage­ment“ schnell Femi­nis­mus und Neo­li­be­ra­lis­mus an einem Strang ziehen.

Viel­leicht noch ein paar Wor­te dazu, wie die­ser Text ent­stan­den ist – das war näm­lich eigent­lich ein rei­nes „Nebenbei“-Projekt mit ein biss­chen qua­li­ta­ti­ver Text­aus­wer­tung, durch­ge­führt von mir für einen Vor­trag beim Fest­kol­lo­qui­um zum 60. Geburts­tag von Prof. Dr. Sieg­fried Lewark (pdf der Foli­en). Das Kol­lo­qui­um fand im Juli 2007 statt.

Da der Vor­trag durch­aus auf Reso­nanz stieß, habe ich dar­aus – bzw. aus Tei­len davon – einen wis­sen­schaft­li­chen Text gemacht und die­sen ver­schie­de­nen Leu­ten zum lesen gege­ben. Das letzt­lich dar­aus ent­stan­de­ne Manu­skript habe ich dann im Juli 2010 bei der Zeit­schrift GENDER ein­ge­reicht, im Novem­ber 2010 wur­de es mit eini­gen Über­ar­bei­tungs­wün­schen im Grund­satz ange­nom­men. Anfang 2011 habe ich eine über­ar­bei­te­te Fas­sung an die Redak­ti­on geschickt, Ende 2011 die redi­gier­te Fas­sung und im Febru­ar die­sen Jah­res schließ­lich die end­gül­ti­gen Kor­rek­tur­fah­nen erhalten.

Wes­ter­may­er, Till (2012): „ ‚Leich­te­re Beschäf­ti­gun­gen‘. Geschlech­ter­dif­fe­renz als Leit­bild der Forst­li­chen Arbeits­wis­sen­schaft“, in GENDER, Jg. 4, H. 1, S. 124–140.

Utopie, Realpolitik und lokale Maxima

001011

Abs­trakt betrach­tet, geht es bei Poli­tik dar­um, einen Zustand x so zu ändern, dass ein erwünsch­ter Zustand x* erreicht wird, um damit ein Pro­blem zu lösen. 

Was erwünscht ist, und was nicht, lässt sich mit dem Bild des „poli­ti­schen Kom­pas­ses“ beschrei­ben. Also ein grund­le­gen­des Wer­te­sys­tem, oder, wenn ich hier schon mathe­ma­ti­sche Meta­phern ver­wen­de, eine Funk­ti­on, die Aus­kunft dar­über gibt, ob x* bes­ser ist als x oder nicht. Oder noch genau­er: eine Funk­ti­on, die Aus­kunft dar­über gibt, wel­cher der Zustän­de x1, … xn als mög­li­che Lösung eines Pro­blems am bes­ten ist.

Kom­pli­ziert wird das durch min­des­tens vier Dinge:

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Kurz: Multiple Heimatsdimensionen

Ganz kurz, weil im Zuge des letz­ten Spie­gels etc. mal wie­der über Hei­mat etc. dis­ku­tiert wird, bis hin zur Hei­mat Inter­net: Ich glau­be, vie­les ver­wir­rend Erschei­nen­de wird kla­rer, sobald Stadt und Land, Real­raum und Inter­net etc. etc. nicht mehr als Gegen­satz­paa­re gedacht wer­den, son­dern als ortho­go­na­le Kontinuume. 

Soll hei­ßen: in der glo­ba­li­sier­ten Infor­ma­ti­ons­ge­sell­schaft der Spät­mo­der­ne ist Hei­mat nicht ein­fach hier oder da, son­dern bei­des, oder sogar alles drei. Bedingt sowohl durch die erhöh­te phy­si­sche Mobi­li­tät als auch durch neue Kom­mu­ni­ka­ti­ons­struk­tu­ren über­la­gern sich plötz­lich meh­re­re Netz­wer­ke: Eines sozia­ler Bezie­hun­gen, in dem meh­re­re Orte (Her­kunfts­ort, Wohn­ort, Arbeits­ort, Freun­de­sor­te, Stan­dard­ur­laubs­or­te) Rol­len spie­len – je nach Ein­kom­men und Sta­tus auch trans­na­tio­nal – und eines der sozia­len Kom­mu­ni­ka­tio­nen im Netz. Cloud, Wol­ke, beschreibt bei­de sozia­le For­men ganz gut. Migra­ti­on und glo­ba­le Bil­der­strö­me (da den­ke ich an Appa­du­rai) tra­gen ein ihres zu die­sen Netz­werk­bil­dun­gen bei.

Wenn Hei­mat nicht mehr mono­gam gedacht ist, erschei­nen schein­bar gegen­läu­fi­ge Ent­wick­lun­gen plötz­lich gar nicht mehr so selt­sam: gleich­zei­tig regio­na­ler und glo­ba­ler zu wer­den, wie­der mehr Wert auf den Ort samt geni­us loci zu legen und in aller­lei gro­ße Dis­kur­se ein­ge­bun­den zu sein, sich sowohl bestimm­ten klein­tei­li­gen, viel­leicht sogar loka­len Sti­len affin zu füh­len als auch gro­ßen Iden­ti­täts­clus­tern hei­mat­lich ver­bun­den zu sein: 

All das und viel mehr ist dann denk­bar. Hei­mat der sozi­al ver­netz­ten Welt­bür­ge­rIn­nen ist dann eben nicht allei­ne, son­dern auch ein Teil des Internets.