Wie angekündigt, hier nun noch der Blick auf die Bücher, die ich im November und Dezember gelesen habe.
„Science Fiction und Fantasy im November und Dezember 2024, Teil II“ weiterlesen
Das Blog von Till Westermayer * 2002
Wie angekündigt, hier nun noch der Blick auf die Bücher, die ich im November und Dezember gelesen habe.
„Science Fiction und Fantasy im November und Dezember 2024, Teil II“ weiterlesen
Friedemann Karig, der mir bisher vor allem über den einen oder anderen prononcierten Tweet auf Mastodon aufgefallen war – ich bin nicht der große Podcast-Hörer, sonst wäre das sicher anders – hat vor ein paar Tagen das rund 180 Seiten umfassende Buch Was ihr wollt. Wie Protest wirklich wirkt veröffentlicht. Das Buch geht auf die Geschichte von Protesten ein, und legt einen besonderen Fokus auf die Aktionen der Letzten Generation. Es lässt sich geschmeidig weglesen – im Nachgang bin ich dann aber doch an drei Punkten hängengeblieben.
Erstens die Titelfrage, wie Proteste wirken. Wenn ich das richtig zusammenfasse, dann ist Karig eher skeptisch bezüglich quantitativen Ansätzen. Nicht jeder Protest, an dem 3,5 Prozent der Bevölkerung teilnehmen, war erfolgreich. Überhaupt stellt sich natürlich die Frage, was die Wirkung eines Protestes ist. In autoritären Regimen ist der Sturz der Regierung noch ein relativ klar umrissenes Erfolgskriterium. In Demokratien geht es darum, die politische Agenda zu verändern. Und das kann etwas sein, das sehr langen Atem braucht. Karig führt hier in Anlehnung an die „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ die Idee einer „Ökologie der Aufmerksamkeit“ ein. Es geht nicht einfach um „mehr Aufmerksamkeit“, sondern darum, dass sich das richtige Narrativ durchsetzt.
Mit Narrativ meint Karig eine erzählerische Einheit, die politische Debatten strukturieren hilft, und die drei Elemente aufweist: „Wer ist Handelnder (Protagonist)? Wer ist Gegenspieler (Antagonist)? Welche Werte stehen auf dem Spiel?“ (S. 99). Daraus lässt sich dann ableiten, dass die beiden entscheidenden Fragen einer Ökologie der Aufmerksamkeit von Protesten folgende sind: „Welche Geschichte erzählt Protest über sich und seinen Gegenstand? Und: Wer sind in dieser Geschichte die Bösen?“ (S. 101). „Drei Gedanken zu „Was ihr wollt. Wie Protest wirklich wirkt.““ weiterlesen
Ich gebe zu, dass ich bei dem Thema etwas voreingenommen bin. Eine von den Dingen, die ich wirklich aus meinem Soziologiestudium mitgenommen habe, ist Praxistheorie: gesellschaftliche Regeln, Erwartungen usw. verfestigen sich, indem sie immer wieder wiederholt werden – und damit Bahnen schlagen für genau diese Regeln und Erwartungen. Es ist so, weil es schon immer so war. Soziale Strukturbildung ist fluide. Jetzt kommt Technik ins Spiel: in Infrastruktur und Artefakte gegossene Erwartungen sind sehr viel fester als bloße soziale Erwartungsbündel und tragen dazu bei, diese über die Zeit festzuschreiben. Bis hin zu kontingenten Entscheidungen, die heute extremen Einfluss darauf haben, was wir glauben zu tun zu können und was nicht. Egal, ob es das Layout von Tastaturen ist oder die Spurweite der Eisenbahn oder die Orientierung ganzer Städte auf das Auto. Mit Elizabeth Shove gesprochen: soziale Praktiken bestehen aus einer Trias aus Skills/Handeln, Bildern/Vorstellungen/Wissen und eben Artefakten. Was ich sagen will: das Wechselspiel zwischen Infrastruktur und sozialer Strukturbildung fasziniert mich.
Genau da setzt Deb Chachras Buch How Infrastructure Works. Inside the Systems That Shape Our World (2023) an. Chachra – eine Professorin für Materialwissenschaft – beginnt (wie im ganzen Buch mit einem sehr lakonischen, anspielungsreichen und auch vor Wortspielen nicht zurückschreckenden Stil) mit einer Einführung, was Infrastrukturen überhaupt sind, wie es dazu kommt, dass es sie gibt, und wie Infrastrukturen aufeinander aufbauen. Und schon ziemlich früh in ihrem Buch macht sie klar, dass Infrastruktur eben auch etwas mit Macht zu tun hat, und ohne soziale Einbettung – und ohne soziale Wirkung – überhaupt nicht denkbar ist. Besonders an dem Buch ist zudem die vielfältige Perspektive. Chachra ist die Tochter von nach Kanada eingewanderten Inder*innen, und sie lebt inzwischen in den USA, zwischenzeitlich in Großbritannien. Das sind die Kontrastfolien, die immer wieder auftauchen.
Was im ersten Teil eher wie eine gute geschriebene Einführung in die Geschichte von Wasser, Gas, Elektrizität (und Verkehr) wirkt, wird dann schnell zu einem politischen Buch. Die Infrastruktur, die wir als gegeben hinnehmen, und die ein Ergebnis (und eine Grundlage) der Akkumulation von Reichtum in den westlichen Gesellschaften darstellt, ist ohne lange Handlungsketten, ohne Ausbeutung des globalen Südens, nicht denkbar. Infrastruktur ist in soziale und politische Systeme eingebettet und perpetuiert diese.
Oder, um es in zwei Zitate zu packen: „Infrastructural networks, by their nature, increase individual freedom collectively.“ (S. 115) – „Infrastructural networks could be fairly described as vast constructions whose purpose is to centralize resources and agency to a small fraction of extremely priviledged humans and to displace the harms to many others.“ (S. 134)
Chachra geht nun darauf ein, wie Infrastruktur „fails“ (fehlschlägt, kaputt geht – ich finde, das lässt sich nicht so richtig gut übersetzen). Das sind nämlich nicht nur Terroranschläge etc., sondern insbesondere auch langsam anwachsende Wartungsprobleme, weil zum Beispiel kein Geld da ist, um Brücken zu sanieren. Diese Art von Problemen nennt Chachra in Abgrenzung von „black swans“ und „gray swans“ dann „red termites“ – lästig, fast unsichtbar, gut ignorierbar, und irgendwann stürzt die Brücke dann ein. („Any sufficiently advancded negliegence is indistinguishable from malice.“ (S. 161))
Funktionierende Erhaltung von Infrastruktur hat wiederum sehr viel damit zu tun, wie diese politisch eingebettet ist – geht es darum, einen Profit zu erwirtschaften, oder steht das Allgemeinwohl im Vordergrund? Wie viel Geld wird zur Verfügung gestellt, und wie wird die scheinbar so langweilige Routinearbeit der Überprüfung und Instandsetzung bewertet?
Neben Schwänen und Termiten taucht dann auch ein „gray rhino“ auf – das graue Nashorn, das längst im Raum steht, und gerne ignoriert wird, egal, wie es sich benimmt: der Klimawandel. Das es diesen gibt, hat viel mit Infrastruktur zu tun – im Bau und Betrieb von Infrastruktur steckt Energie, und die ist für die letzten 200 Jahre vor allem fossile Energie. Gleichzeitig führt der Klimawandel dazu, dass Infrastruktur Problemen ausgesetzt ist, die bisher unvorhergesehen sind. Jahrhundertstürme und ‑hochwasser häufen sich, Temperaturen schwanken über Bereiche hinaus, für die Straßen oder Stromleitungen vorgesehen sind. Der Klimawandel trägt also dazu bei, dass unsere für selbstverständlich hingenommene Infrastruktur schneller und schneller bröckelt und repariert und angepasst werden muss.
Wie das geschehen kann – und damit schlägt Chachra dann den ganz großen Bogen – wird in den letzten Kapiteln des Buchs ausgeführt, in dem sie eine Zukunftsvision zeichnet. Die besteht nicht aus glitzernder Hightech, sondern baut auf einer dezentralisierten, flexiblen und resilienten Grundlage auf. Das mag langweilig wirken, ist aber eine sehr viel konkretere Utopie. Aus einer Einführung in die Politik der Infrastrukturen wird hier ein gut begründetes politisches Manifest, das in sechs Handlungsmaximen mündet:
Das scheinen mir sehr gute Orientierungsplanken zu sein – und zwar ganz egal, ob es um Verkehrssysteme, Städteplanung, Kommunikationssysteme, Elektrik oder die Wasserver- und ‑entsorgung geht. Die Zusammenhänge, die Chachra zwischen Nachhaltigkeit im Sinne von Dauerhaftigkeit, einer gewissen Nutzungsflexibilität und dem Fokus auf Resilienz auf macht, erscheinen sehr plausibel. Dazu gehört auch der inhärente Widerspruch zwischen Optimierung/Effizienz einerseits und Resilienz andererseits. Ein System, das mit Änderungen seiner Umwelt, mit Problemen und Störungen klar kommen soll, braucht eine gewisse Redundanz, braucht „slack“. Und genau die fällt weg, wenn das System bis zum letzten Winkel auf Effizienz getrimmt wird.
Ganz nebenbei räumt Chachra hier in gelungener Weise mit dem Mythos auf, dass der individuelle Fußabdruck, wie ihn BP erfunden hat, ein hilfreiches Maß ist. Entscheidend sind die großen technischen Systeme, weil diese nicht nur unser Handeln ermöglichen und lenken, sondern in deren Bau und Betrieb auch der Löwenanteil unserer CO2-Emissionen steckt.
Insgesamt also ein rundum empfehlenswertes Buch, nicht nur für Nerds, sondern für alle, die eine Handlungsanleitung für den Umbau der technischen Welt, in der wir leben, brauchen können.
Im Wintersemester 1995/96 habe ich mein Studium der Soziologie, Informatik und Psychologie begonnen und 2001 abgeschlossen. Dazwischen habe ich fleißig auf karierten College-Blöcken mitgeschrieben, Handouts eingesammelt, Referate und Hausarbeiten ausgearbeitet, Übungen in Informatik und Psychologie abgegeben und Unmengen an Literatur kopiert. Das alles gesammelt in mehreren Regalreihen Ordnern, die ich fleißig von Umzug zu Umzug mitgenommen habe.
Den Umzug aus dem Freiburger Rieselfeld – da standen diese Ordner im Keller, die Etiketten von Kleinkindern und Katzen abgeknabbert, neben den grünen Parteitagsunterlagen aus einem Vierteljahrhundert und neueren Sammlungen – nach Esslingen habe ich jetzt zum Anlass zu einer großen Scan-Aktion genommen, mir dafür einen halbwegs professionellen Brother-Einzugscanner gekauft und … verfüge jetzt über viele leere Ordner und sehr große Mengen Konzeptpapier. Noch ist nicht alles eingescannt, aber zumindest die Uniordner sind weitgehend durch.
Das war dann mit einem gewissen Nostalgiefaktor versehen. Zum einen, nochmal nachzuvollziehen, in was für interessante Winkel der Soziologie, Psychologie und Informatik ich mich in meinem Studium begeben habe – von Straße und Straßenkultur über Kultur- und Medienpsychologie bis zu einer Kursvorlesung Künstliche Intelligenz. Und schön nachvollziehbaren waren auch die riesigen Sprünge, was Präsentations- und Aufschreibsysteme angeht. Anfangs finden sich in den Ordnern (neben den teilweise noch auf Schreibmaschine geschriebenen Handouts der Komilliton*innen) schwarz-weiße Overhead-Folien, später dann in Corel Draw gebastelte bunte Folien, auf dem Tintenstrahldrucker ausgedruckt. Die oben stammt aus meinem Referat „Politik im Internet“ aus dem Seminar „Soziologie des Internets“, 1998. Und rief dann beim Blick auf die damalige Website-Gestaltung einen akuten Nostalgieflash hervor. Die Screenshots, die ich da verwende, habe ich vermutlich auf den Unix-Workstations der Informatik gemacht.
Z. fängt wohl in zwei Jahren ihr Studium an. Das ist heute schon ständig ein Thema. Ich vermute, sie wird – wie jetzt schon in der Kursstufe der Schule – ihr Tablet als alleiniges Aufschreibesystem verwenden, das dann gleichzeitig auch für Präsentationen nutzbar ist. Die Zeiten haben sich geändert.
Das mag jetzt etwas abwegig klingen, und vielleicht geht’s nur mir so.
Ich finde das an Computer-Programmen rumbasteln sehr entspannend, das ist auch etwas, wo ich schnell die Zeit aus den Augen verliere.
Ähnlich geht es mir mit einigen Spielen, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben: Terraforming Mars, Cities: Skylines, Turing Complete (letzteres eine Simulation/Tutorial für den Aufbau eines PC ausgehend von AND- und OR-Schaltungen). Was diesen Spielen gemeinsam ist: es gibt – optimierbare – Pfade hin zu einem erwünschten Endzustand. Bei Terraforming Mars kommt’s dabei auch auf Glück an, die richtigen Karten zu haben. Cities: Skylines als Städtebausimulation ist manchmal opak.
Turing Complete zeigt das in Reinkultur: baue einen Schaltkreis, der genau diese Aufgabe möglichst effizient erledigt, z.B. die Multiplikation zweier Binärzahlen.
Das Schöne an diesen Spielen ist das Erfolgserlebnis, durch Nachdenken und Ausprobieren optimale Pfade zu finden. Wenn A und B, und dann C, dann auch D …
Harter Kontrast zur wirklichen Welt: die ist mit ihren großen Problemen natürlich um ein paar Größenordnungen komplexer als Programme oder Wege durch Spiele. Trotzdem lässt sich so etwas wie die große Transformation oder die Herausforderung der Klimakrise als Netzwerk von Abhängigkeiten denken, durch den es einen optimalen (oder überhaupt irgendeinen) Pfad zu finden gilt.
Neben der Größenordnung gibt es allerdings mindestens zwei wichtige Unterschiede, die die Suche nach optimalen Pfaden zu einer deutlich weniger erfreulichen Angelegenheit machen.
Zum einen fehlt die Möglichkeit des Trial und Errors; die gibt es bei politischen Lösungen der Klimakrise noch nicht einmal als Simulation. Entscheidungen sind vielfach irreversibel. Falsche Abbiegungen schließen ganze Äste aus. Gleichzeitig erscheint das, was als möglicher Pfad für eine Lösung dieser Frage denkbar ist, als sehr fragile Angelegenheit. Damit am Schluss ein Zwei-Grad-Szenario herauskommt, müssen ganz viele Entscheidungen an ganz vielen Stellen – vom Verkehrssystem bis zur Frage der Methanemissionen aus der Tierhaltung – weltweit richtig getroffen werden. „Kleinigkeiten“ wie die Frage, wann das Heizungsgesetz in Deutschland seine Wirkung entfaltet, können sich als politische Kipppunkte erweisen und anderes verunmöglichen. Alles hat Nebenwirkungen und Seiteneffekte.
Zum anderen sind, wie hier schon deutlich wurde, sehr viele Akteur*innen beteiligt, die für eine erfolgreiche Lösung kooperieren müssen. Und das macht’s nochmal deutlich schwieriger – erst recht aus einer Perspektive des minimalen Einflusses auf einige wenige „Schalter“.
Bringt mir dieser Vergleich jetzt etwas? Vielleicht die Erkenntnis, dass – ohne in soziotechnische Ingenieursträume oder Planbarkeitseuphorie zu verfallen – es gut wäre, wenn das Bewusstsein dafür, dass es sich bei den großen Herausforderungen nicht um isolierte Probleme handelt, sondern erfolgreiche Lösungen auf ein ganzes Netzwerk aus Wirkungen und Effekten angewiesen ist, samt Feedbackschleifen und Rückwirkungen.
Den einen optimalen Pfad kennt niemand. Vielleicht gibt es ihn nicht. Und vielleicht sind wenig planbare Dinge wie Märkte und exponentielle Technikdurchsetzungen – wie wir sie gerade bei PV erleben, am Ende wichtiger.
Trotzdem würde ich mir mehr Bewusstsein über all diese Abhängigkeiten wünschen. Gerade bei denen, die entscheiden.
Und, ganz anderer Punkt: löse die Klimakrise könnte jenseits aller Didaktik (an der m.E. Vesters Ökolopoly scheitert) eine gute Grundlage für ein Simulationsspiel sein.