Kurzer Hinweis, dass ich heute bei der schnuckelig kleinen #evotecon18 in Erfurt über den Virtuellen Parteitag (der im Jahr 2000 stattfand und 2001 das Thema meiner Magisterarbeit war) und Online-/Offline-Beteiligung bei Bündnis 90/Die Grünen vorgetragen habe. Die Folien können auf SlideShare angeschaut werden, wenn ich dazu komme, schreibe ich auch noch ein bisschen ausführlicher etwas dazu.
Die emanzipierte Partei
Es gibt ja zwei Geschichten, die über diesen Parteitag erzählt werden können.
Die eine handelt davon, wie der linke Flügel marginalisiert wurde, sich marginalisieren lassen hat, so dass unter Aufkündigung aller Vereinbarungen und Traditionen doch tatsächlich nicht verhindert wurde, eine Realo-Frau und einen Realo-Mann an die Spitze zu wählen.
Die andere Geschichte erzählt von zwei Kandidat*innen für den Bundesvorstand, die Neues vorhaben, eine Partei in Bewegung versetzen können, und die, Flügel hin oder her, damit die Neugierde und die Empathie all derjenigen Delegierten geweckt haben, denen das alte Immergleiche nicht mehr genug war. Katalysiert durch freundliche mediale Begleitung kam es zum Aufbruch.
Beide Geschichten lassen sich gut erzählen, und beide Geschichten sind ein Stück weit gelogen.
Trotzdem tendiere ich dazu, diese außerordentliche BDK als Aufbruch zu verstehen, als Geschichte von Delegierten, die sich von dem starren, längst nicht mehr passenden Flügeldualismus-Korsett befreit haben, und die danach gewählt haben, wer diese Partei als Person voranbringen kann, und nicht, welche Position repräsentiert werden muss.
Wenn Annalena und Robert – und Micha, Benedikt, Gesine und Jamila, denn dieser sechsköpfige Bundesvorstand ist eben mehr als nur zwei – wenn sie es also schaffen, auch nur einen Teil dessen umzusetzen, was in ihren Reden angelegt war, dann ist mir um die grüne Zukunft nicht bang.
Macht kommt von machen, philosophiert Robert; in der Zeit der Digitalisierung und globaler Mächte heißt das auch: Zusammenhalt und links neu denken; und Annalena channelt die Energie einer Claudia Roth, wenn sie über Klima und Flucht und Ausgrenzung und Menschen, Menschen, Menschen redet. Beides sind neue Töne und neue Projekte, und wenn sie aus dem Mund von Reformer*innen kommen, sei’s drum.
Doch, da haben zwei einen Plan. Das ist schon mal wertvoll. Und der passt ins Jahr 2018. Was Annalena und Robert mit der Partei vorhaben, wird uns fordern, wenn ich das richtig verstehe. Da kommt Neues auf uns zu, und das heißt auch: Gewissheiten werden möglicherweise schräg angeschaut. Offenheit und Mut und eine große Gesprächsbereitschaft – all das sind Dinge, die mal wehtuen mögen, die wir aber dringend brauchen. Denn alles ist besser als sich darauf auszuruhen, zu wissen, was richtig ist.
In den letzten Jahren haben Bündnis 90/Die Grünen sich verändert. Wir haben etwas gelernt. Ich möchte das als Emanzipationsprozess beschreiben, als Häutung. Streit wird es weiter geben, und Chaos können wir noch immer ganz gut. Aber mit der stürmischen Entscheidung für Robert und für Annalena hat diese Partei eine Wegmarke gesetzt. Da geht’s lang, Richtung Zukunft – und ja, hier stimmt das Parteitagsmotto: Das ist erst der Anfang, das grüne Projekt ist noch lange nicht am Ende!
Warum blogge ich das? Weil ich glaube, dass diese kluge Wahl eine dringend notwendige Zumutung war.
Flügelbilder
Ein Nebenaspekt der grünen Parteitage sind die Flügeltreffen im Vorfeld. Ob und wieso die notwendig sind, wäre eine längere Debatte. Ich war aus alter Verbundenheit beim Treffen des linken Flügels („grün links denken“), und habe den Redebeiträgen und auch der Applausverteilung zugeschaut. Und ein bisschen darüber nachgedacht, wie das mit den grünen Flügeln eigentlich ist.
Wenn wir ganz schematisch davon ausgehen, dass die Orientierung an „links“ (was auch immer das sein möge) und „rechts“ als politischer Grundeinstellung innerhalb der grünen Partei einer Normalverteilung folgt – wobei die Mitte der Partei dann nicht identisch mit der Mitte der Gesellschaft ist – ergibt sich, wie bei Normalverteilungen üblich, ein dicker „Bauch“ mit zu den Rändern hin schnell abflachenden Ausläufern. Als Diagramm dargestellt, könnte das etwa so aussehen:
Parteitag im Konjunktiv
Irgendwann fiel mir dann auf, wie oft in den Reden von „hätten“, „würde“ und „wäre“ die Rede war. Klar, nicht ganz verwunderlich – schließlich war der eigentliche Anlass des Parteitags kurz vor Mitternacht am vorherigen Sonntag spontan verschwunden. Und selbstverständlich spielten die Ergebnisse der abgebrochenen Sondierungen und deren Bewertung eine große Rolle – von der Enttäuschung und Trauer über verpasste Chancen, in den Klimaschutz einzusteigen, und weitere Einschränkungen beim Familiennachzug zu verhindern, bis zur halbwegs unverhohlenen Freude darüber, die Zumutung Jamaika nicht auf sich nehmen zu müssen.
Und klar, dass sich diese Emotionalität vor allem in Richtung FDP entlud. Cem Özdemir stellte klar, dass eine nach rechts und ins populistische abrutschende FDP nicht länger den Anspruch auf Liberalität vertreten könne. Katrin Göring-Eckardt fand die angeblich so mutigen und innovativen Freidemokraten als Kleingeister und Bedenkenträger wieder, als es darum ging, ob Deutschland den Sprung Richtung Energiewende schaffen würde.
Für all das gab es großen Beifall; noch größer nur der Applaus für das Lob für das Sondierungsteam mit seinen vierzehn so verschiedenen Mitgliedern. Gerade darin, und in der kleinteiligen inhaltlichen Vorbereitung im Programmprozess, in der Bundestagsfraktion, aber auch in den Bundesarbeitsgemeinschaften lag ein Grund für das Standing und die begründete Hartnäckigkeit der grünen Sondierer*innen. Wenn wir es schaffen, diese selbstbewusste, inhaltlich fundierte Gemeinsamkeit, diesen Teamgeist in die weitere Zukunft der Partei mitzunehmen, haben wir einiges gewonnen.
Grüne Heimat: die Suche nach dem richtigen Maß an Distanz
Mal wieder, aber diesmal mit einer gewissen Dringlichkeit, diskutieren Grüne über „Heimat“.
Mal wieder, weil beispielsweise die Kulturkonferenz der grünen Bundestagsfraktion 2009 unter dem Motto „Heimat. Wir suchen noch.“ stand. Weil die bayrischen Grünen sich – schon 2011 – intensiv mit Heimat befasst haben (danke, Ulrich!). Weil die Landtagsfraktion der baden-württembergischen Grünen als Claim der 15. Legislaturperiode – 2011 bis 2016 – den Spruch „Im Grünen daheim“ verwendeten. Oder weil in Schleswig-Holstein Robert Habeck bereits 2012 als einer charakterisiert wird, der „problemlos von ‚Heimat‘ spricht“. Und in Österreich hat Alexander van der Bellen offensiv auf den Begriff „Heimat“ gesetzt und damit eine Wahl gewonnen. Auch eines der Plakate der niedersächsischen Grünen für die diesjährige Landtagswahl trägt – etwas anders akzentuiert – den Slogan „Eine offene Gesellschaft ist die beste Heimat“.
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