Allmählich werden die Vorwürfe gegen Annalena Baerbock so richtig absurd. Abschreiben aus dem eigenen Wahlprogramm? Stipendium bekommen, aber die Dissertation dann doch abgebrochen? Vielleicht lohnt es sich doch mal etwas genauer hinzuschauen, was skandalisiert wird – und ein Blick in die Seilschaften Nordrhein-Westfalens (gerne durch das Deutschland-Bullauge der Weißwäschewaschmaschine) oder in die Terminkalender des ehemaligen Hamburger Bürgermeisters wäre da erhellend. Anyways: statt über den Wahlkampf zu schreiben, hier lieber ein paar blaue Blumen (ich glaube, Zichorien), wie sie am Rand des Rieselfelds grade massenhaft blühen. Oder, wie mein Kind dazu zu sagen pflegte: Mondblumen.
Kurz: Wahlkampfblues
Dafür, dass ich beruflich mit Politik zu tun habe (und jede Landtagswahl gespannt bis zum vorläufigen Endergebnis verfolge), ist mein Verhältnis zu Wahlkämpfen doch eher ambivalent. Es soll ja Leute geben, die mit Begeisterung an Haustüren, Kneipen und Infostände gehen, um für Stimmen zu werben. Dafür bin ich eher zu introvertiert. Und selbst auf sozialen Medien, wo ich mich dann durchaus selbst daran beteilige, Argumente möglichst werbewirksam rüberzubringen, kann ich ein gewisses Genervtsein von Politiker:innen im Wahlkampfmodus durchaus nachvollziehen. Aber trotzdem: die Angriffe und Verdrehungen des politischen Gegners einfach stehen zu lassen, das geht ja auch nicht.
Wenn es dabei um inhaltliche Angriffe geht – beispielsweise um die Frage der CO2-Bepreisung und der Auswirkungen auf unterschiedliche soziale Gruppen – lässt sich bei aller Verzweiflung über die Heuchelei der großen Koalition wie der Linken ja noch halbwegs sachlich argumentieren. Mit dem Energiegeld haben wir ein Konzept, das gerade diejenigen belohnt, die keine riesigen Altbauten bewohnen oder große Autos fahren. Klimaschutz wird bei uns sozial gedacht, was aber nichts daran ändert, dass Klimaschutz eine existenzielle Frage ist – und eben nicht ein x‑beliebiges politisches Problem, das mal höher und mal niedriger gewichtet werden kann. In der Konsequenz kann das unbequem sein. Und ich nehme uns Grüne als einzige ernsthafte politische Kraft wahr, die hier nicht scheut, notwendige Zumutungen auch zu kommunizieren. Auch das steckt im Übrigen in „Bereit, wenn Ihr es seid“, dem vor ein paar Tagen enthüllten Wahlkampfclaim.
Nein, so richtig schlimm bis unerträglich ist Wahlkampf im Modus der künstlichen Verdummung, der Schlammschlacht, bis hin zu nahezu schon trumpesken Tatsachenverdrehungen und aufgeblasenen Mückenskandalen. Jede Reaktion darauf verstärkt den Schlammgehalt, nicht zu reagieren ist aber auch keine Lösung. Das geht dann oft einher mit populistischer Dummheit – ich unterstelle Scholz, Laschet, Wagenknecht, Esken, Lindner, Söder und selbst dem Blume-Markus von der CSU, dass sie sehr genau wissen, wie weit weg ihre Behauptungen von der Wahrheit entfernt sind. Aber das scheint nicht das entscheidende Kriterium zu sein. Sich dumm zu stellen, bewusst misszuverstehen, böse Absicht zu unterstellen, wo Nachlässigkeit die einfachere Erklärung wäre – all das heißt auch, die Wähler:innen für dumm zu halten und ihnen keine vernunftgeleitete und eigenständige Entscheidung zuzutrauen.
Oder, um Jacinda Ardern zu zitieren:
I really rebel against this idea that politics has to be a place full of ego, where you’re constantly focused on scoring hits against one another.
Wellenbewegungen
Was ich immer wieder faszinierend finde, ist das Pendel der öffentlichen Aufmerksamkeit. Das erzeugt nämlich durch sein Hin- und Herschwingen eine Wellenbewegung (siehe auch „Nachrichtenzyklus“ oder – in einem anderen Zeitmaßstab – „Gartner-Hype-Zyklus“). Irgendetwas ist neu und interessant, dann bekannt und nicht mehr spannend, jetzt ist das Gegenteil oder die problematische Seite daran neu und interessant, auch das Interesse daran ist irgendwann gesättigt usw. Dieses Hin- und Herschwingen ergibt keine schöne Sinuswelle, sondern etwas chaotischeres, vor allem auch deswegen, weil sich Wellen verschiedener Frequenz überlagern und weil es ja auch langfristige Entwicklungen gibt. Aber so als Bild passt es ganz gut.
Beispiel 1: beim pollytix-Wahltrend auf einen Zeitraum von zehn Jahren aufblenden, ergibt folgendes Bild:
Mit etwas Fantasie ist hier das Auf und Ab der Wellenkämme und Wellentäler etwa der grünen Umfragewerte zu sehen. Aktuell ist es neu und interessant, gegen das als vorherrschend angenommene Bild „Annalena Baerbock ist ein frisches Angebot – sie könnte tatsächlich Kanzlerin werden“ anzuschreiben. Ich vermute: nicht einmal unbedingt aus einer politischen Agenda heraus (und sicherlich auch nicht ohne den einen oder anderen eigenen Fettnapf der Partei), sondern schlicht, weil das etwas ist, was nicht auf eine gesättigte Aufmerksamkeit trifft.
Beispiel 2: Auch das Interesse etwa am Thema Klimaschutz folgt einer – längerfristigen Wellenbewegung. Schön zu sehen ist das in den Google-Trends:
Im März 2007 war das (mit dem Indikator „Google-Suchanfragen“) gemessene Interesse an „Klimawandel“ schon einmal fast so hoch wie im September 2019. 2019: Greta Thunberg, Fridays for Future. Kleine Ausschläge gibt es Ende 2009 und Ende 2015. 2015 ist das Pariser Klimaabkommen, und auch die anderen kleineren Ausschläge dürften mit Klimakonferenzen zu tun haben. Im Februar 2007 erschien ein Weltklimabericht, der (ebenfalls in Paris) vorgestellt und medial breit aufgenommen wurde.
Ich befürchte, dass sich auch in den Jahrzehnten davor immer wieder ähnliche Ausschläge finden lassen würden – 1992 Rio, 1997 Kyoto, beispielsweise. (Und schon 1989 gab es ein Taschenbuch aus dem Öko-Institut, Ozonloch und Treibhauseffekt …
Das lässt sich auch empirisch überprüfen – Google Ngram durchsucht Bücher. Und da ergibt sich bei der Suche nach „Klimawandel“ und „Klimaschutz“ folgendes Bild:
Ein erster kleiner Wellenkamm 1960, dann 1990, 1994, 1998, 2002 … (also immer mit etwas Zeitverzug hinter den Konferenzen …).
Beispiel 3: Bleiben wir bei Google Ngram – und fügen noch „Umweltschutz“, „Naturschutz“ und „Nachhaltigkeit“ hinzu. Auch hier lassen sich deutliche Wellen sehen. Das Interesse an Umweltschutz oder an Nachhaltigkeit scheint ebenfalls einer Aufmerksamkeitskurve zu folgen, bzw. stabilisiert sich dann nach Hype und Rückgang auf einem höheren Niveau.
(Ich habe mir das vor einiger Zeit auch mal für die umweltsoziologische Fachliteratur angeschaut, bezogen auf alle soziologischen Veröffentlichungen in einer der Fachdatenbanken, und auch das ergibt ein ähnliches Bild mit klaren „Moden“ – irgendwann ist das Thema Umwelt neu und spannend, und irgendwann dann soziologisch nicht mehr interessant, bis mit Nachhaltigkeit ein neuer Aspekt dazukommt …).
Problem bei diesen Aufmerksamkeitswellen: die Klimakrise (oder auch andere Umweltprobleme) gehen nicht weg, wenn sie uninteressant geworden sind. Aber sie sind auch nicht dafür geeignet, ständig neues Interesse und ständig neue Aufmerksamkeit zu produzieren, bzw. wenn sie anfangen, das zu tun, ist es zu spät. Die große Frage ist also, wie diese existenziellen Themen oben auf der Agenda bleiben können, auch wenn sie immer mal wieder aus dem Blickpunkt der Öffentlichkeit wegrutschen (und dann immer wieder neu erklärt werden muss, warum das Problem immer noch da ist …). Eine wirklich gute Antwort darauf habe ich nicht – aber den vorsichtigen Optimismus, dass es sich eben nicht um Sinuswellen handelt, die gleichmäßig hin- und herschwappen. Vielmehr nimmt die Höhe der Wellentäler zu – die Abwärtsbewegungen gehen nicht bis Null, es kommt zu einer Art Plateaubildung. Und darauf lässt sich dann aufbauen.
Zeit des Virus, Update IX
Da liegt weiter Lava rum, es ist brandgefährlich, aber wir haben uns irgendwie daran gewöhnt.
Wir hoffen, dass Masken, Schnelltests, Kontakte vermeiden und Abstand halten unser Risiko mindern. Die weiterhin sehr hohen Zahlen der Neuinfektionen nehmen wir mit einem Schulterzucken hin. Und diskutiert wird vor allem über Lockerungen und wiedergewonnene Freiheiten für Geimpfte.
So sieht es aktuell aus, kurz hinter dem – so zu hoffen – Höhepunkt der dritten Welle. Freiburg und das Umland sind verhältnismäßig gut durch die dritte Welle gekommen. Die Hundert wurden als Inzidenzwert nur touchiert, aber nicht gerissen, so dass hier – anders als in weiten Teilen Baden-Württembergs – die Schulen weiterhin im Wechselunterricht geöffnet blieben. Das eine Kind ist in der A‑Woche, das andere wieder in der B‑Woche. Das heißt, es ist immer abwechselnd eines zuhause (und müht sich mit Aufgabenpaketen ohne Erläuterungen und ohne Lehrkraft, denn die ist ja im Klassenzimmer), während das andere zumindest vormittags Schule in Präsenz hat, im vollen ÖPNV dort hinfährt und vor allem Klassenarbeiten schreibt. Am Montag und am Donnerstag finden in der Schule Schnelltests statt. Und viele Lehrer*innen sind inzwischen geimpft. Trotzdem bleibt ein schaler Beigeschmack, bleibt das Risiko der „Ansteckung im häuslichen Bereich“.
Stichwort Impfen: Freiburg ist hier ganz vorne in Baden-Württemberg mit dabei. Fast ein Drittel hat bereits die erste der zwei Impfungen, qua Alter, Vorerkrankung oder Beruf. Das mag, wie auch die relativ niedrige Inzidenz, sozialstrukturelle Gründe haben. Viele Akademiker*innen, wenig verarbeitendes Gewerbe, entsprechend viel Home-Office, viel Umsicht und Verantwortung, und auch eine aus meiner Sicht sehr objektiv berichtende Lokalpresse.
Heute wurden dann noch einmal 1400 Freiburger*innen zusätzlich geimpft – das Zentrale Impfzentrum lud zu einem First-come-first-serve-Impftag. Ich war um 7.30 Uhr da, und fand eher chaotische Zustände vor. Sicher eher 4000 Menschen (seit langem die größte Menschenmenge in meiner Corona-Warn-App), Unklarheit darüber, wo jetzt eigentlich die Warteschlange beginnt, die sich dann doch irgendwie vage-breiig formte, nach und nach voranrückte – und bereits um 8.07 Uhr wieder aufgelöst wurde: alle Termine vergeben. Hätte besser organisiert werden können – so war es doch ein bisschen Wildwest und Glücksspiel (leider nicht gewonnen).
Zum Glück schien die Sonne, es gab eine Schafherde vor der Messe zu bewundern, und die allermeisten nahmen es mit Langmut und Mitfreude für die, die einen Termin bekommen hatten, hin.
Demnächst sollen Beschäftigte im Landtag wohl impfberechtigt sein, angeblich wird AstraZeneca zumindest in Arztpraxen jetzt für alle freigegeben … insofern habe ich gewisse Hoffnungen, trotz weiter knappem Impfstoff demnächst dranzukommen. Bis dahin gilt es, Geduld zu bewahren – und daran zu denken, dass die Lava, an die wir uns gewöhnt haben, weiter brandgefährlich ist.
Nachtrag 10.05.: Heute sehr unproblematisch über die Hausärztin einen Termin für AstraZeneca bekommen – war dann eine Sache von wenigen Minuten.
Nachtrag 16.05.: Am Dienstag und Mittwoch gab’s dann doch noch heftigere Impfreaktionen – Kopfweh, schmerzende Glieder, Frösteln – inzwischen zum Glück wieder vorbei. Dafür jetzt das Gefühl, dass diese Pandemie vielleicht wirklich irgendwann vorbei sein könnte.
Dieser Text ist Teil einer losen Reihe zur „Zeit des Virus“ – zuletzt habe ich dazu im März gepostet.
Grünes Hoch, hohes Grün
Ein Monat nach den baden-württembergischen Landtagswahlen stecken wir mitten in der Verhandlungen mit der CDU über eine zweite grün-schwarze Koalition; diesmal nicht als Komplementärkoalition, sondern als Aufbruch für Baden-Württemberg angelegt, in dem sich die deutlich verschobenen Kräfteverhältnisse widerspiegeln. 32,6 Prozent als bestes Landtagswahlergebnis Grüner überhaupt (58 der 70 Direktmandate im Land!), und 24,1 Prozent für die CDU. Das hat nicht nur dazu geführt, dass die CDU-Spitzenkandidatin ihren Abschied von der Politik erklärt hat, sondern auch klare grüne Erfolge bereits in den Sondierungsgesprächen ermöglicht.